„Schrei im Schlachthaus“
Haitis Balanceakt am Abgrund

Zuerst die gute Nachricht: Die haitianische Literatur, eine der wichtigsten in der Karibik, lebt und produziert immer neue Talente. Eines von ihnen ist der 1984 geborene Jean D’Amerique, dessen Buch Zerrissene Sonne gerade auf Deutsch erschienen ist. Ein Text voller zerbrechlicher Poesie und Sprachgewalt. D’Amerique stammt aus einem marginalisierten Viertel in Port-au-Prince und hatte, wie er selbst sagt, die Wahl Gangster oder Literat zu werden. Angefangen hat er als Rapper und Lyriker in einer lebendigen Szene in der haitianischen Hauptstadt, die bei den Antikorruptionsprotesten 2018 die Flächen der Häuser und Mauern mit Gedichten übersäte, in denen die Losungen in die Sprache der Kunst verwandelt und entfremdet wurden. In Lyrik-Werkstätten entstanden jene Zeichen, die in der Stadt wie Spuren auftauchten und den Aufstand verrätselten. Sein Buch ist voller Ellipsen wie: „Abhauen aus dieser missratenen Welt, den Wunden entkommen, die die Zwischenräume des Traums markieren, zumindest ein Schrei im Schlachthaus sein“.
Geschrieben ist der Text D’Ameriques aus dem Inneren der an den Abgrund getriebenen Randlage, aus der Todeszone einer Globalisierung, in die Menschen wie überflüssiger Dreck abgeschoben werden. Das Werk bietet eine der wenigen Möglichkeiten, sich Haiti und seiner Katastrophe, für die die Welt und zuvorderst die USA die Verantwortung tragen, anzunähern, ohne sich im vertrauten Blick der kolonialen Überlegenheit zu beheimaten. Denn wer heute von außen auf Haiti schaut, sieht die Ganggewalt und glaubt zu verstehen, was er oder sie da sieht. Die Nachricht im Dezember vergangenen Jahres, dass ein Ganganführer aus Cité Soleil, einem der ältesten ARmenviertel der haitianischen Hauptstadt, über 100 Frauen über 60 umbringen ließ, weil sie seinen verstorbenen Sohn angeblich verhext hatten, ging viral.
Doch die Zuschreibung der Gewalt als haitianische Wesensart hat nicht erst mit der Ganggewalt ihren Anfang genommen. Sie reicht zurück bis zum Befreiungskampf versklavter Menschen, die sich nur durch die Unabhängigkeit von 1804 vor einer erneuten Versklavung schützen konnten, dafür aber einen hohen Preis bezahlten. Die Kredite, die Haiti damals bei der Kolonialmacht Frankreich aufnehmen musste, hat das Land bis nach dem Zweiten Weltkrieg zurückzahlen müssen: unter anderem an französische und deutsche Banken und zuletzt an die Citibank in New York. Die unrechtmäßigen Zahlungen haben heute einen Gegenwert von 21 Milliarden US-Dollar.
Haiti als Todeszone der Globalisierung
Die Verschuldung bestimmte das ökonomische und soziale Geschehen in dem Land, das sich als erstes in der Weltgeschichte der Moderne von der Sklaverei befreite. Im Nachgang folgten eine fast zwei Dekaden andauernde Besatzung durch die USA, eine von den USA wegen ihres Antikommunismus geduldete Diktatur von Vater und Sohn Duvalier und eine 13-jährige Intervention von UN-Truppen, getragen durch lateinamerikanische Militärs, die in den USA ausgebildet wurden. In diese unvollständige Liste der militärischen und humanitären Interventionen in Haiti reiht sich nun der aktuelle Versuch ein, für „Sicherheit“ zu sorgen.
Seit Juni vergangenen Jahres befindet sich eine internationale Polizeiunterstützungsmission in Haiti, die aus 400 kenianischen Polizist*innen besteht und noch auf über 1.000 aufgestockt werden soll. Der UN-Sicherheitsrat hat die Truppen genehmigt und die USA finanziert sie. Parallel wurde unter der Schirmherrschaft der karibischen Staatengemeinschaft CARICOM ein haitianischer Präsidialrat des Übergangs geschaffen, dessen Präsidentenamt alle drei Monate wechselt. Auf Druck des damaligen US-Außenministers Blinken wurden sieben Gruppierungen aus der haitianischen Politik in diesen Übergangsrat gezwängt. Darunter die Regierungspartei PHTK, die abgrundtief in die Ganggewalt verstrickt ist. Hineingezwungen wurde auch der Montana-Accord, ein Bündnis linker Parteien, zivilgesellschaftlicher Organisationen sowie Kirchen und Unternehmerverbänden. Nach dem erzwungenen Rücktritt des Ministerpräsidenten Henry 2023 legte der Montana-Accord einen Plan für eine technokratische Übergangsregierung vor, um die öffentliche Infrastruktur in Haiti soweit wieder herzustellen, dass glaubwürdige Wahlen möglich wären (siehe LN 598). Der Vorschlag, der in einem längeren Prozess mit lokalen Akteuren erarbeitet wurde, kam jedoch bei den USA, Kanada, der EU und Deutschland gar nicht gut an. Einzig der US-Diplomat Daniel Foote sah darin eine Chance, trat jedoch nach wenigen Wochen von seinem Posten als Haiti-Beauftragter zurück, weil er die Abschiebepraxis der Biden-Regierung nach Haiti als verfassungsrechtlich bedenklich ablehnte. Heute fehlt dem Montana-Accord der einstige Schwung, der ihn vor zwei Jahren noch als einer der letzten Hoffnungsträger erscheinen ließ.
Ausgestattet mit US-amerikanischen Waffen
So sind die Gangs heute die wichtigsten haitianischen Akteure, bewaffnet mit den neusten Maschinengewehren, die ungehindert aus den USA nach Haiti importiert werden. Die internationale Polizeimission hat ihre Macht nicht einschränken können. Gerade toben die Kämpfe um Kenscoff, eine kleine Gemeinde südöstlich von Port-au-Prince. Von dort oben im haitianischen Hochgebirge hat man einen wunderschönen Blick auf die Bucht der Hauptstadt. Wer Kenscoff einnimmt, hat aber auch einen enormen strategischen Vorteil. 80 Prozent der Hauptstadtregion sind bereits unter Kontrolle der Gangs. Nach Kenscoff könnte auch Pétionville, der Vorort der Privilegierten, eingenommen werden. Die Gangs, deren Machtkämpfe zu einer Million intern Vertriebener und über 5.000 Toten im vergangenen Jahr geführt haben, verfolgen aber nicht wirklich ein eigenes Projekt. Sie leben von dem Chaos, das sie produzieren – während sie abwarten, was die Trump-Administration im Schilde führt. Geostrategisch betrachtet die neue US-Regierung Lateinamerika und die Karibik als ihren Hinterhof. Haiti muss kontrolliert werden und dient einzig und allein als Ort der Abschiebung haitianischer Migrant*innen (siehe Seite 34). Das war schon unter Biden der Fall. Diese rigorose Politik, die von der Dominikanische Republik ebenso schonungslos verfolgt wird, ist der eigentliche Eskalator der haitianischen Katastrophe.
Denn zehntausende Menschen in ein Land abzuschieben (die Dominikanische Regierung spricht sogar von 100.000 in 2024), das auch ohne sie im vollkommenen Chaos zu versinken droht, macht jede Art von Politik, die die Krise eindämmen will– und sei sie interventionistisch – zunichte. So können die Gangs getrost abwarten und haben fast alle Karten in der Hand.