Nummer 349/350 - Juli/August 2003 | Ökonomie

Schröder wandelt in Lateinamerika auf Kohls Spuren

Rot-Grün setzt auf dem Subkontinent kaum neue Akzente

Für viele BeobachterInnen war es nur eine Alibi-Handlung: Mit der Reise von Bundeskanzler Gerhard Schröder Mitte Februar 2002 nach Mexiko, Brasilien und Argentinien rückte die Lateinamerika-Politik der Bundesrepublik Deutschland kurzzeitig etwas stärker in den Mittelpunkt des Interesses. Noch im September 2001 hatte Schröder mit dem Vorwand des Mazedonien – Einsatzes deutscher SoldatInnen eine lange geplante Lateinamerika-Reise verschoben. Nicht von ungefähr: Denn auf allen Gebieten – mit Ausnahme der Direktinvestitionen – haben sich die Beziehungen zwischen Deutschland und Lateinamerika in den vergangenen fünf Jahren verschlechtert.

Winfried Hansch

Mit dem größer gewordenen Deutschland im Jahre 1990 entstanden Hoffnungen auf ein größeres Engagement Deutschlands in Lateinamerika. Diese Hoffnungen haben sich nicht erfüllt. Lateinamerika hat in Deutschland keine Konjunktur, weil die Politik andere Prioritäten verfolgt. Das Engagement der Wirtschaft richtete sich in den letzten fünf Jahren noch stärker nach Osteuropa. An den Universitäten wurden Lehrstühle zu Lateinamerika gestrichen oder umgewidmet. Die Medien berichten zu Lateinamerika nur sehr sporadisch. Organisation und Gewerkschaften haben seit der Wende neue Tätigkeitsfelder im Osten Europas entdeckt.
Die Schröder/Fischer-Regierung setzt seit 1998 die Lateinamerika-Politik Kohls ohne große Veränderungen fort. Das am 17. Mai 1995 im Bundestag vom damaligen Außenminister Klaus Kinkel vorgestellte „Lateinamerika konzept der Bundesregierung“ bestimmt auch heute noch die Grundlinien der Beziehungen Deutschlands zu Lateinamerika.
In erster Linie bestünden keine politischen Beziehungen, sondern wirtschaftliche mit ein bisschen Kultur, bewertete im Jahr 2000 der damalige Vorsitzende der Außenpolitischen Kommission des Bundestages Hans-Ulrich Klose die Beziehungen Deutschlands zu Lateinamerika. Es gebe kaum Konsultationen mit den Regierungen Lateinamerikas. Weder in der EU, noch in der UNO und im Sicherheitsrat existiere eine abgestimmte Politik und deshalb keine echte Zusammenarbeit.
Sehr aktiv in Lateinamerika waren dagegen in den letzten 30 Jahren die politischen Stiftungen. Sie sind ein wichtiges Mittel zur Bindung politischer Eliten an Europa. Über die Sozialistische Internationale haben viele demokratische Kräfte in ihrem Kampf gegen die offenen Militärdiktaturen in den 70er und 80er Jahren lebenswichtige Unterstützung erhalten.

Kultur, Umwelt und Entwicklung

Mit einigen Ländern unterhält Deutschland bilaterale Programme in den Bereichen Umwelt, Kultur und Entwicklung. Die Programme leiden unter Kürzungen. Von 1999 bis 2001 sind die Gelder um jährlich rund vier Prozent gekürzt worden. Das erforderte 2002 die Schließung einiger Goethe-Institute in Lateinamerika.
In der ohnehin generell auf niedrigem Niveau dümpelnden Entwicklungszusammenarbeit (2002: 0,26 Prozent des Bruttosozialproduktes) wurden die anteiligen Mittel für Lateinamerika von 18,8 Prozent (1996) auf 12,1 Prozent (1999) gekürzt. Dieser Trend hat sich auch in den letzten Jahren fortgesetzt, obwohl Ende 1999 die Entwicklungszusammenarbeit mit Kuba mit 1,5 Millionen Euro äußerst zaghaft aufgenommen wurde. Das könnte als Durchbrechen der US-Blockade gewertet werden. Aber es wird nicht verhehlt, dass dies Teil des Konzeptes „Wandel durch Zusammenarbeit“ sei.
Der Umfang der öffentlichen Leistungen Deutschlands an Lateinamerika beläuft sich bei Entwicklung und Umwelt auf circa eine halbe Milliarde Euro jährlich. Etwa 70 Prozent davon entfallen auf die bilaterale Zusammenarbeit mit dem jeweiligen staatlichen Sektor, Nichtregierungsorganisationen oder privaten Akteuren. Beim Umweltschutz unterstützte die Bundesregierung den Aufbau funktionsfähiger Umweltinstitutionen, nachhaltige Landnutzung und Programme zur Bewahrung der brasilianischen Regenwälder mit 250 Millionen Euro.

Wirtschaft und Rüstung

Rückgrat der Beziehungen zwischen Lateinamerika und Deutschland sind die wirtschaftlichen Interessen beider Seiten. Für die MERCOSUR-Staaten ist Europa der wichtigste Handelspartner, aber Lateinamerika ist für die EU und auch für Deutschland im Handelsvolumen relativ unbedeutend.
Im Außenhandel Deutschlands schwankte der Handel mit Lateinamerika in den letzten zehn Jahren jeweils zwischen zwei und drei Prozent. Lateinamerika exportiert nach Europa vorwiegend Produkte der Landwirtschaft und Rohstoffe. Bei den Industrieprodukten handelt es sich zum größten Teil um den Austausch zwischen Teilen von transnationalen Firmen (zum Beispiel Volkswagen oder BASF) über mehrere Grenzen hinweg. In Brasilien sind circa 2000 deutsche Unternehmen tätig, in Mexiko 700.
Während die Warenströme langfristig abnehmen, vergrößern sich die deutschen Investitionen in Lateinamerika. Sie betragen zwar nur fünf bis sechs Prozent der deutschen Direktinvestitionen, sind aber etwa genauso hoch wie in Asien ohne Japan. Sie konzentrieren sich in Lateinamerika konzentrieren zu 80 Prozent auf vier Länder: Brasilien 40 Prozent, Mexiko 25 Prozent, Argentinien 10 Prozent und Chile sechs Prozent.
Beachtlich sind auch die Rüstungsexporte Deutschlands nach Lateinamerika. Sie betrugen 1996 bis 1999 über 200 Millionen US-Dollar. Deutschland liegt an 4. Stelle hinter den USA, Großbritannien und Russland. Klammert man die Exporte Russlands nach Kuba aus, wird die Rolle Deutschlands als Waffenexporteur noch deutlicher.
Die Konzeptionslosigkeit der rot-grünen Bundesregierung unter Schröder in ihrer Lateinamerikapolitik zeigte sich in jüngster Zeit u.a. in der Haltung der Bundesregierung gegenüber dem Bürgerkrieg in Kolumbien und dem Plan Colombia der Bush-Administration, der Hinnahme der Blockadepolitik der USA gegenüber Kuba, oder der Einstufung der Befreiungsbewegungen als Terrororganisationen.
Ein Lateinamerikakonzept für die Beziehungen Deutschlands zu Lateinamerika für die nächsten Jahre sollte folgende Szenarien beachten:
Lateinamerika wird auch künftig Schauplatz heftiger sozialer Auseinandersetzungen sein. Von rund 550 Millionen EinwohnerInnen leben 220 Millionen, sprich 40 Prozent in Armut. Die Rückgewinnung und Verteidigung elementarer Werte wie Leben ohne Diktatur, ausreichende Ernährung, menschenwürdige Wohnung, gesicherte Arbeit, medizinische Grundversorgung, Zugang zur Bildung und Schutz der Umwelt, bekommen für die Völker Lateinamerikas eine immer größere Bedeutung.
Die deutsche Regierung könnte mit konkreten Schritten zur Verbesserung der Beziehungen mit Lateinamerika beitragen. Theoretisch gibt es viele Möglichkeiten: zum Beispiel die Förderung der lateinamerikanischen Integration wie MERCOSUR, Andenpakt, Zentralamerikanischer Markt und der karibischen Gemeinschaft CARICOM. Des weiteren Öffnung des EU-Marktes, Verstärken des Technologie- und Wissenstransfers, Abkommen zur Regulierung ausländischer Direktinvestitionen, Reform der EU-Agrarpolitik und Unterstützung einer politischen Lösung der Auslandsschulden.
Stopp der Umweltzerstörung, Unterstützung der zivilen Konfliktlösungen in Kolumbien, Vertiefung der Kontrolle deutscher Rüstungsexporte, Einbinden des Aspektes der Menschenrechte in alle Kooperationsabkommen. Stopp des Abbaus der Kulturbeziehungen, Verbesserung der Kooperation in den internationalen Organisationen, Förderung jeglicher Positionen des Multilateralismus in den internationalen Beziehungen.
Zusammenarbeit in der Entwicklung mit dem Ziel der Armutsbekämpfung, Alphabetisierung, Berufsbildung, Einkommenssicherung und Gesundheitsschutz; Demokratieförderung im weitesten Sinne, Aufbau guter Beziehungen zu den besonders armen Regionen Lateinamerikas, Entwicklung der Beziehungen zu Kuba und Beendigung der Blockade Kubas durch die USA.
Dass diese Themen in der Praxis mit der gebotenen Ernsthaftigkeit angegangen werden, darf mit Blick auf die letzten Jahre allerdings bezweifelt werden.

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