Schwarze Feministinnen gehen eigene Wege
Interview mit Neusa das Dores Pereira von CRIOLA
LN: Viele Frauen von CRIOLA haben früher bei CEAP (Centro de Articulâcao das Populacoês Marginalizadas) mitgearbeitet, das sich für die Rechte der Straßenkinder und der schwarzen Frauen einsetzt. Was war der Anlaß, CRIOLA als eigene Organisation zu gründen?
Neusa das Dores Pereira: Alle zehn Frauen von CRIOLA haben irgendwann einmal mit CEAP zusammengearbeitet, zwei von ihnen gehörten 1989 zu den Gründerinnen von CEAP. Alle Frauen kommen aus den verschiedensten sozialen Bewegungen, sie waren im Gesundheitsbereich aktiv, in der Gewerkschaft und in Bürgerinitiativen. Wir sahen die Notwendigkeit, uns autonom zu organisieren. Denn als schwarze Frau konnten wir entweder an der feministischen Bewegung teilnehmen, wo die weißen Frauen alles bestimmen oder an der Bewegung der Schwarzen, wo die Männer im Vordergrund stehen. CEAP veröffentlicht viel über Repression und die Morde an Straßenkindern. Hauptsächlich ging es um die Situation der Jungen auf der Straße und in diesem Zusammenhang wurde die Frau nur als Mutter gesehen. Wir wollten mehr zur Situation von schwarzen Frauen arbeiten. Daher entstand 1992 CRIOLA, um neue Wege zu suchen.
Wie sieht die Arbeit von CRIOLA aus?
In der Struktur, die wir seit Dezember 1993 haben, ist CRIOLA in verschiedene Gruppen unterteilt: Im Kulturbereich geht es um schwarze Alltags-Kultur, die Auseinandersetzung mit der afro-brasilianischen Religion und den Aufbau von Kunstkooperativen. SOS-Gesundheit arbeitet zur Aidsprävention und zur Kampagne gegen Sterilisation. Wir nehmen teil am Netzwerk gegen rassistische und sexuelle Gewalt und an der Kampagne gegen Sextourimus und Kinderprostitution. SOS-CRIOLA bietet Unterstützung und Beratung für schwarze Frauen und Mädchen, die Opfer von Gewalt wurden, initiiert werden Selbsthilfegruppen und therapeutische Gruppen. Criola, Criolinha, Criolona arbeiten derzeit mit Mädchen und jungen Frauen und beabsichtigt in Zukunft ebenfalls mit älteren Frauen zu arbeiten. Weiter gibt es das Dokumentationszentrum und Dàgbá Criola. Dàgbá ist ein Wort aus dem Yoruba, das “Wachsen” bedeutet. Ideen müssen wachsen und brasilianische und internationale Netzwerke entstehen. Wir beteiligen uns an der schwarzen Frauenbewegung in Lateinamerika und der Karibik, an der Kampagne gegen häusliche Gewalt, an der Bewegung “Pro Mädchen” und führen Workshops zu “Geschlecht und Rasse” mit Streetworkern durch.
Mein Traum ist es, das Dokumentationszentrum aufzubauen. Es beruht auf drei Schwerpunkten: 1. die schwarze Geschichte, besonders die der schwarzen Frauen zu dokumentieren, 2. die Verbindung zu anderen Gruppen herzustellen und Informationen in einer Sprache weiterzugeben, die von den sozialen Bewegungen verstanden wird und 3. eine eigene Analyse von Daten, die sich von den offiziellen, manipulierten Statistiken absetzt, welche oft ein verzerrtes Bild der Realität wiedergeben.
Während der Dokumentationsarbeit bei CEAP haben wir immer wieder in den Zeitungen von Morden an schwarzen Frauen gelesen. Deshalb haben wir bei der Justiz genaue Daten nach Alter und Hautfarbe der ermordeten Frauen angefordert. Erst nachdem ein Abgeordneter unser Anliegen unterstützt hat, erhielten wir überhaupt eine Reaktion auf unsere Nachfrage und dann waren die Informationen unvollständig, ohne Angabe der Hautfarbe und des Alters. Aufgrund der Orte und Charakteristika, wo die Verbrechen stattfanden, wissen wir aber, daß sehr viele junge und viele schwarze Frauen ermordet wurden. Daher finden wir es wichtig, ein eigenes Dokumentationszentrum aufzubauen. Wir richten uns mit unseren Informationen speziell an Frauen, die wenig lesen und nicht den Umgang mit Computern gewöhnt sind und wollen das Dokumentationszentrum entmystifizieren. Wir wollen die Frauen direkt erreichen und mit ihnen zusammenarbeiten in ihren Bereichen wie Haushalt, Gewerkschaft und Kirche.
Wie sehen die Kontakte zur feministischen Bewegung aus?
Wir arbeiten mit der feministischen Bewegung in der Kampagne gegen Sterilisation zusammen. Wenn wir Daten über die Situation der Schwarzen brauchen, wenden wir uns an die Bewegung der Schwarzen. Wir bewegen uns zwischen beiden Bewegungen. Die schwarze Frauenbewegung ist gleichzeitig schwarze und feministische Bewegung. Das Wort “feministisch” erschreckt noch immer, es gibt viele negative Assoziationen wie lesbisch, eurozentrisch, Frauen, die Männer hassen. Deshalb möchten viele Frauen das Wort feministisch nicht benutzen und sprechen lieber von Frauenbewegung oder weiblicher Bewegung. Wir haben eine feministische Orientierung und versuchen ständig, den Frauen klarzumachen, daß sie feministisch sind.
Andererseits ist es sehr schwierig, mit der feministischen Bewegung zusammenzuarbeiten. Frauen aus der Unterschicht machen oft die Erfahrung, daß sie wegen ihrer Ansichten von den weißen Feministinnen als nicht feministisch abgelehnt werden. “Nein, ihr seid keine Feministinnen”, heißt es, als gäbe es ein “Feministómetro”, ein Meßgerät für Feminismus. Wenn Landarbeiterinnen, Gefangene, Prostituierte in die feministische Bewegung eintreten, verziehen sich oftmals die Radikalfeministinnen.
Wir schwarzen Frauen haben in der feministischen Bewegung immer wieder die Erfahrung gemacht, daß bei den Diskussionen etwas fehlte, ebenso wie innerhalb der Bewegung der Schwarzen, wo der Diskurs über das Geschlecht immer ausblieb. Die schwarze Frauenbewegung muß ihren eigenen Weg entwickeln. Zur Zeit müssen wir uns eigenständig organisieren, um unsere eigenen Ideen und Aktivitäten, um eine eigene Sprache entwickeln zu können. Später können Wege wieder gemeinsam beschritten werden. Wenn wir jetzt unsere Räume öffnen, werden sie von Männern oder weißen Frauen vereinnahmt.
Unser Verhältnis zur weißen feministischen Bewegung ist weiterhin schmerzlich. Wenn wir bei feministischen Treffen einen Workshop anbieten, kommen ausschließlich schwarze Frauen, die weißen Frauen zeigen kein Interesse. Aber sobald wir ein eigenes Treffen für schwarze Frauen organisieren, möchte plötzlich jede teilnehmen. Sie werfen uns vor, wie absurd es sei, andere auszuschließen, kritisieren uns als zu radikal. Genauso ist es mit den Männern. Aber wenn wir innerhalb eines Treffens der Bewegung der Schwarzen über das Thema schwarze Frauen diskutieren wollten, waren wir immer unter uns.
Ihr beteiligt Euch an der Kampagne gegen Sextourismus und Kinderprostitution. Wie ist die Situation in Rio und was sind Eure Ziele bei der Kampagne?
Für uns Frauen von CRIOLA ist das ein ganz neues Thema. Ich habe an verschiedenen Konferenzen zum Thema Sextourismus teilgenommen, unter anderem in Deutschland. Sextourismus wird hier als Phänomen wahrgenommen, aber nicht zur Diskussion gestellt. Deshalb werden wir im Dezember dazu ein Treffen in Rio veranstalten.
In Copacabana, wo ich mich am besten auskenne, haben viele Mädchen und Jungen mit Sextourismus zu tun, gerade in Rio sind viele Jungen im Sextourismus tätig. Es wird als etwas selbstverständliches betrachtet und nur im Zusammenhang mit Verbrechen erwähnt. Eine weit verbreitete Einstellung ist, “ach, die Mädchen wollen dieses Leben” und in der Tat, suchen die Mädchen einen Gringo zum Heiraten. In dem Hochhaus, in dem ich lebe, wohnen etwa 20 bis 30 junge Frauen, die sich nicht als Prostituierte verstehen, sondern als Mädchen, die “Programme” mit Touristen durchführen und ihr Traum ist es, einen Touristen zu heiraten. Da gibt es diese Märchenvorstellung. Sie glauben, daß es in Deutschland viele Adlige gibt, die zwar verarmt sind, aber im Vergleich zu Brasilien noch viel Geld besitzen und in einem Schloß mit Hausangestellten wohnen.
Die weißen Männer kommen nach Brasilien und suchen dort eine schwarze junge Frau, um sie mit nach Deutschland zu nehmen. Viele glauben an diesen Märchenprinzen, der aus Deutschland kommt, aus der Schweiz oder aus Italien.
Wenn Du ihnen sagst, daß dies eine große Lüge sei, antworten sie, daß sie die Chance nicht ungenutzt lassen wollen und sie noch jung seien. Die eigene Familie glaubt daran. Sie glauben, daß es der Tochter sehr gut gehen wird, wenn sie nach Deutschland heiratet. Und dann bekommen sie Briefe, in denen steht, wie gut es ihnen geht. So schließt sich der Kreis der Illusionen.
Anders ist die Situation der Frauen aus der Mittelschicht, die besser ihre Interessen wahrnehmen können. Sie sprechen verschiedene Sprachen, sind mit ihren Familien gereist und kennen schon andere Länder. Sie wollen Karriere machen und am Konsum teilhaben, sie haben konkrete Vorstellungen, etwa jemanden zu heiraten, um nach New York zu ziehen. Es ist ein Unterschied, ob die Mädchen reisen wollen, Europa kennenlernen möchten und wissen, diese erreichen sie durch einen Gringo, den sie kennenlernen, oder ob sie sich vorstellen, einen Adeligen zu heiraten und in einem Schloß zu leben.
Die schwarzen Mädchen aus den armen Schichten verhandeln nicht. Das ist der Unterschied zu einer erwachsenen Prostituierten, die weiß, welchen Preis sie verlangen kann. Die Mädchen auf der Straße haben dagegen überhaupt keine Verhandlungsposition. Sie verlieben sich in die Europäer, die sie beachten, ihnen 10 Cruzeiros geben und ein Essen bezahlen.
Welche Rolle spielt die Ideologie des “Weißerwerdens”, des embrancimento, dabei?
Eine ganz Beachtliche, denn die schwarzen jungen Frauen auf der Straße glauben, daß sie selbst nichts wert sind. Sie übernehmen das Bild, das die Gesellschaft von ihnen hat, die sie als dreckig, dumm, gefährlich, als Analphabeten betrachtet. Wenn dann ein blonder Europäer mit blauen Augen kommt, zärtlich zu ihnen ist und ihnen Geld gibt, fühlen sie sich geehrt.
Eine andere Besonderheit in Rio ist, daß viele junge Frauen im Sextourismus von außerhalb kommen, weil sie wissen, daß dort die Sextouristen anzutreffen sind. Viele kommen aus dem Nordosten Brasiliens. Sie haben entweder die Familien verlassen oder werden von ihrer Familie nach Rio direkt zur Copacabana geschickt. Wir haben schon Mädchen im Alter von 6 und 8 Jahren angetroffen.
In Brasilien wurde im letzten Jahr eine parlamentarische Untersuchungskommission eingerichtet (CPI), um zur Kinderprostitution zu ermitteln. Liegen die Ergebnisse der CPI mittlerweile vor?
Ich glaube nicht, daß der Bericht schon vorliegt, außerdem gibt es viele Informationen, die man nicht veröffentlichen möchte. In Rio hat die Untersuchungskommission über Kinderprostitution ihre Arbeit einfach abgebrochen. Niemand weiß genau warum; es gibt verschiedene Interessengruppen. Innerhalb eines Jahres sind in einem Stadtteil von Rio 28 Mädchen zwischen 8 und 12 Jahren verschwunden. Dazu gibt es keine weiteren Untersuchungen. Die Polizei weiß nichts, da keine Leichen gefunden wurden. So gibt es viele Spekulationen über Organhandel etc., was aber zu nichts führt. Wichtig wären genaue Untersuchungen.
Eine solche Untersuchung über Kinderprostitution müßte mit Vorsicht gemacht werden. Erstens darf nicht registriert werden, wann und wohin Frauen reisen. Sonst bekommt jede schwarze Frau, die zum Flughafen kommt, Probleme mit einem Visum etc.. Viele Jugendliche bitten, keine Informationen zu veröffentlichen, weil ihre Familien nicht wissen, was sie in Rio tun. Drittens müßte untersucht werden, welche Männer Kunden und welche Händler sind. Letztere sind Männer, die Familie und Kinder zu Hause haben und in Brasilien oder in den Philippinen sechsjährige Mädchen sexuell ausbeuten.
Heutzutage gibt es auch deutsche Frauen, die als Sextouristinnen nach Brasilien reisen. Frauen vergewaltigen nicht, aber sie beuten auf eine andere Weise die Jungen aus. Nicht nur Sextourismus, sondern auch der Handel wird mittlerweile von Frauen, besonders deutschen, betrieben.
Sextourismus gibt es in Brasilien erst seit zehn Jahren, nachdem Thailand einen schlechten Ruf wegen Aids bekommen hat. Heute steht Brasilien an zweiter Stelle bei Menschenhandel und bei sexuellem Mißbrauch von Kindern durch Touristen.
Wenn es um Gewalt an Straßenkindern geht, wird bei uns hauptsächlich über die Situation der Jungen berichtet. Wie sieht die Repression bzw. Gewalt gegen Mädchen, die auf der Straße leben, aus?
In Rio ist die Situation anders als in Recife. Hier ist die Zahl der Mädchen, die auf der Straße sind höher als die der Jungen. In Rio de Janeiro gibt es mehr Straßenjungen. Die Mädchen bleiben zu Hause, passen auf die Kleinen auf und machen den Haushalt. Die Jungen gehen auf die Straße. Im Nordosten ist es umgekehrt. Die Jungen gehen aufs Feld und arbeiten auf den Zuckerrohrplantagen und die Mädchen gehen auf die Straße und betteln.
Im Nordosten, speziell in Recife, ist die Gewalt gegen Kinder immer sehr groß gewesen. Die Mädchen in Recife verletzen sich selbst, um von der Polizei in Ruhe gelassen zu werden. Ich kannte ein Mädchen, das sich jedesmal, wenn sie einen Polizisten sah, eine Scherbe nahm und in den Arm schnitt. Sie verletzte sich, weil die Polizei sie dann ins Krankenhaus bringen mußte und erzählte:”Wenn nicht, wollen sie mit mir schlafen und ich möchte nicht.” Jetzt ist sie tot, sie wurde ermordet.
Ich habe einige Zeit in Recife bei SOS-Criança gearbeitet. Wir trafen viele Mädchen mit zerschnittenen Armen und Gesichtern. Sie verletzen sich überall, an den Beinen und Schenkeln, wegen der Repression der Polizei.
In Rio de Janeiro ist es umgekehrt. Dort sind weniger Mädchen auf der Straße. Sie werden als schwach angesehen und anders behandelt. Neuerdings hat sich dies geändert, und die Gewalt richtet sich auch speziell gegen Mädchen. Die Zahl der angegriffenen und ermordeten Mädchen hat sich nach Angaben von CEAP erhöht. Heute sind bei einem Massaker auch die Leichen von Mädchen zu finden.
Wie sieht es aus mit der strukturellen Gewalt gegenüber schwarzen Frauen?
Es gibt noch eine andere Form von Gewalt, die sich gegen schwarze Frauen richtet, die mit den Gesetzen in Konflikt geraten sind. Zwar gibt es die “Delegacia de Mulheres”, das Polizeirevier für Frauen, aber es ist nur zuständig, wenn Frauen jemanden anzeigen wollen, nicht aber für Frauen, die straffällig wurden. Diese Frauen kommen auf die normalen Polizeireviere, wo sie mehr leiden als die Männer. Dort werden die Schwarzen diskriminiert, und die Gewalt dort bedeutet Folter. Je jünger die Frauen sind, desto mehr werden sie benutzt, gedemütigt und gefoltert.
Die Regierung behauptet, es gäbe keine institutionalisierte Gewalt, aber es gibt sie.
Was mich wirklich bekümmert, ist, was alles als selbstverständlich angesehen wird. Die Leute wollen nicht mehr belästigt werden, sie denken, wenn jemand Probleme hat ist es seine eigene Schuld.
Eine Bekannte hat über eine 13jährige Prostituierte erzählt: “Ich kenne sie schon seit sie fünf Jahre alt ist und da war sie schon Prostituierte, sie war immer so. Es gefällt ihr, Prostituierte zu sein. Sie ging nicht zur Schule, weil sie nicht wollte. Sie war schon immer eine Rebellin.” Also ist es ihre eigene Schuld? Bis sie tot aufgefunden wird? Ist das etwa ein Ziel, das sie sich ausgesucht hat?
Dazu kommt der Diskurs über Sterilisation. Es heißt sehr schnell: Warum wurde diese Frau nicht sterilisiert? Eine Frau mit so vielen Kindern muß sterilisiert werden. Die Schuld liegt immer bei der Frau. Der schwarzen brasilianischen Frau wird die Schuld an der Armut Brasiliens zugeschrieben. Wir versuchen zu erklären, daß das nicht stimmt. In den letzten zwanzig Jahren wurde Brasilien immer ärmer, obwohl die Geburtenrate gesunken ist. Früher hatten die Frauen 10, 12, 20 Kinder, heute haben sie nur zwei Kinder. Wir wollen erreichen, daß sich die schwarzen Frauen nicht auch noch schuldig fühlen für die Armut.