Chile | Nummer 234 - Dezember 1993

Schwarzer Frühling

Anläßlich seines Chile-Besuches lobte der Bundespräsident von Weizsäcker die Fortschritte des Landes auf dem Weg zur Demokratie. Wie weit der Weg zu einer demokratischen Gesellschaft noch ist und welche Brocken autoritären Denkens auf dem Weg dorthin noch liegen, hätte von Weizsäcker leicht den letzten Nummern der LN entnehmen können (über das boinazo, LN 229/30, über den Druck der Militärs, LN 231/32, über die Repression am Jahrestag des Putsches, LN 233). Und auf das Massaker, das chilenische Polizisten am 21. Oktober, wenige Tage vor Weizsäckers Besuch, im Nobelviertel Las Condes anrichteten und über das wir im folgenden berichten – darauf hätte die deutsche Botschaft in Santiago den Bundespräsidenten vor seiner Wahlkampfhilfe hinweisen sollen. Und daß die schießwütigen Carabineros darauf zunächst eine Loyalitätserklärung der Regierung erhielten…

LN

Nach einem Banküberfall flüchteten die TäterInnen in einen Bus des öffentlichen Nahverkehrs und zwangen den Fahrer, mit den Fahrgästen an Bord ohne Halt weiterzufahren. Eine fast klassische Situation von Geiselnahme. Noch im Umfeld des Tatorts fing ein Einsatzwagen der Polizei den Bus ab und brachte ihn zum Stehen. Ein Polizist, der sich dem Bus näherte, kam sofort zu Tode. War es mörderischer Dilettantismus oder militarisiertes Denken – über drei Minuten lang feuerte die Polizei auf den Bus mit BankräuberInnen und PassagierInnen: der Bus wies anschließend über 16o Einschüsse von außen auf… Das Ergebnis: sechs Tote, über ein Dutzend Verletzte im Bus.
Für die Polizei war klar (seit welchem Moment des Einsatzes?), daß es sich bei den TäterInnen um “TerroristInnen”, Mitglieder der Stadtguerilla Lautaro, handelte. Entsprechend wurden auch die Verletzten be- bzw. mißhandelt, teilweise mit Handschellen in die Krankenhäuser eingeliefert. So weit, so schlimm.

Regierung billigt Massaker

Schlimmer aber war die erste Reaktion der Regierung auf den Polizeieinsatz – weder Innenminister Krauss noch Präsident Aylwin fanden irgendeinen Anlaß, das Vorgehen der Polizei zu kritisieren. Das Totschlag-Wort “Terrorismus”-Bekämpfung blendete offenbar jede weitere Überlegung aus…
Erst die Recherchen der Medien ergaben im Anschluß, daß von den Opfern im Bus nur drei “Lautaristas” waren, die anderen drei jedoch unbeteiligte Fahrgäste, unter den Verletzten waren zwölf Passagiere…Für die Einschätzung des Polizeieinsatzes sollte es keine Rolle spielen, aber es soll nicht unterschlagen werden – bei ihrem Überfall hatten die Lautaristas sofort einen Bankwächter erschossen.

Kleine Fragezeichen

Wären alle Opfer tatsächlich “Terroristen” gewesen, hätten wohl nur wenige ChilenInnen noch weitere Fragen gestellt So aber, angesichts der unbeteiligten Fahrgäste, fragten nicht nur einige Medien, sondern auch PolitikerInnen des Regierungsbündnisses “Concertación” nach der Angemessenheit des Polizeieinsatzes. Und auch die Regierung ließ erkennen, daß sie das Vorgehen der Polizei nicht einfach unhinterfragt weiter billigen wollte – sie verlangte von der Polizei einen detaillierten Bericht… und sie beantragte die Einsetzung eines Sonderrichters zur Untersuchung der Vorgänge, und das bedeutet: den Überfall der Lautaristas und das Verhalten der Polizei. Wird ihm dieses Bündel von Aufgaben den Blick auf die zivilen Opfer freilassen?
Weitere politische Konsequenzen sind für diese Regierungsperiode nicht zu erwarten. Die Frage nach dem möglichen Rücktritt des verantwortlichen Ministers erledigt sich damit, daß die Polizei – Folge der Militärdiktatur -, sowohl dem Innen- wie dem Verteidigungsminister unterstellt ist. Die Praxis zeigt, sie untersteht keiner wirklichen Kontrolle, sondern agiert autonom – ein für eine demokratische Gesellschaft unhaltbarer Zustand.
Aber hier stellt sich eine weitere Frage – als wie unerträglich wird das Vorgehen der Polizei in Chile empfunden? Nach einer im Regierungsauftrag durchgeführten nicht-repräsentativen Umfrage findet etwa die Hälfte der befragten ChilenInnen an dieser Art, die Gesellschaft zu schützen, nichts auszusetzen. Und die berüchtigten Gespräche im Taxi oder auch Zufallsgespräche im Bus lassen dieses Ergebnis sogar glaubwürdig erscheinen…
Als am 3. November schon wieder Polizisten der Finger zu locker am Abzug der Maschinenpistole lag, war das Opfer weder “Terrorist” noch bloßer Passant, sondern erwies sich als Angehöriger der rivalisierenden Kripo (Investigaciones). Unter diesen Umständen war es unmöglich, einfach zur Tagesordnung überzugehen oder sich mit einer fadenscheinigen Rechtfertigung zu begnügen.
Die rasche Reaktion der obersten Polizeiführung – die sofortige Entlassung der drei beteiligten Polizisten aus dem Dienst und Neuordnung von Zuständigkeiten – berührt das zentrale Problem natürlich überhaupt nicht: Welche Grundsätze gelten für den Waffengebrauch der Polizei? Wer entscheidet über die Politik der inneren Sicherheit im Lande?
In einer längeren Erklärung, die man als Armuts- wie als Ohnmachtszeugnis verstehen kann, bekannte Innenminister Krauss am 6. November, daß sein Ministerium aufgrund der Rechtslage den Einsatz von Carabineros und Investigaciones nur “koordinieren” kann, aber diese Koordination “bezieht sich nicht auf operative Einsätze und bedeutet schon gar keine wirkliche Befehlsgewalt (mando efectivo) über die polizeilichen Institutionen”.
Die Feststellung ist sachlich richtig, aber in diesem Zusammenhang fast bedeutungslos. Weder Krauss noch Aylwin können sich aus ihrer politischen Verantwortung stehlen: schließlich waren sie es, die das Vorgehen der Polizei gegen DemonstrantInnen am 11. September und beim Massaker in Las Condes ausdrücklich rechtfertigten.

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