Honduras | Nummer 586 - April 2023

Schweres Erbe aus 12 Jahren Diktatur

Präsidentin Xiomara Castro muss nach einem Jahr im Amt zeigen, dass sie die Lebensumstände der Honduraner*innen verbessern kann

Für weite Teile der Bevölkerung von Honduras war das Ziel vor der letzten Präsidentschaftswahl klar: Weg mit der Narcodiktatur, weg mit der rechten Nationalpartei Partido Nacional (PN) und Aufbau eines sozialdemokratischen Systems. Dementsprechend groß war die Freude über den Sieg von Xiomara Castro Ende November 2021: Denn die erste weibliche Präsidentin des Landes symbolisierte den demokratischen Neuanfang. Dieser sollte den rund 7,5 Millionen Honduraner*innen, die laut offiziellen Zahlen in Armut leben, Hoffnung auf eine bessere Zukunft geben.

Von Christof Wittwer

Große Baustellen und wenig Unterstützung Xiomara Castro steht vor einigen neuen Aufgaben (Foto: Jorge Cabrera/Contracorriente, Licencia de Producción Pares)

14 Monate nach ihrem Amtsantritt gehört Castro mit einer Zustimmung von über 60 Prozent noch zu den populäreren Präsident*innen der Region. Der erhoffte sozialdemokratische Wandel steht jedoch weiterhin vor großen Herausforderungen: Zwischen 2011 und 2022 sind die Auslandsschulden laut honduranischem Finanzministerium von 4365 Mio. USD auf rund 9540 Mio. USD gestiegen, das entspricht etwa 56,7 Prozent des BIP. Dazu kommen die verkrusteten sozialen und wirtschaftlichen Strukturen, die Auswirkungen der weltweiten Rezession und nicht zuletzt eine reaktionäre parlamentarische Opposition.

Maßnahmen wie Gratis-Strom für 1,3 Millionen Mindestverbraucher*innen, die temporäre Subvention des Diesel-Preises und die Erhöhung der Budgets für Gesundheit und Bildung kommen von Armut betroffenen Menschen direkt zugute. Doch Projekte wie die Abschaffung der Sonderwirtschaftszonen ZEDE, die Amnestie für politische Gefangene und die Anerkennung der sogenannten „Märtyrer“ der Proteste nach den Wahlbetrügen von 2014 und 2017, sind in erster Linie Teil einer Symbolpolitik. Für die große Mehrheit der Bevölkerung sind diese Maßnahmen zu abstrakt.

Xiomara Castro hat ein hochverschuldetes und praktisch bankrottes Land übernommen. Die Inflationsrate, die laut der honduranischen Zentralbank bei 9,8 Prozent liegt, sorgt zudem für ansteigende Kosten: Das ganze Land ächzt unter den hohen Lebensmittelpreisen. Allein die 30 wichtigsten Nahrungsmittel für eine fünfköpfige Familie kosten im Monat mehr als der Mindestlohn von 11.365 Lempiras, umgerechnet 405 Euro. „Die Lebensmittelpreise sind extrem hoch. Ein Ei kostet jetzt sieben Lempiras (0.25 Euro), vor einem Jahr kostete es die Hälfte. Wir essen oft nur zweimal am Tag, weil unser Einkommen einfach nicht reicht“, sagt Juana Portillo. Sie ist 33 Jahre alt und lebt mit ihrem Mann und drei Kindern im „Sector Rivera Hernández“, einem marginalisierten Viertel in der Nähe des Flughafens San Pedro Sula im Norden von Honduras.

Preiskontrolle? Agrarreform? Weitergehende Subventionen? Leider Fehlanzeige. Zu stark ist die Vorherrschaft der Oligarchie, die aus Vertreter*innen von Großgrundbesitz, Importgeschäft, Stromproduktion, Handel, Industrie und Medien besteht. Auch die katholische Kirche beschränkt ihr Engagement auf den Erhalt des Status Quo.

Nach 132 Jahren konnte Castros Regierungspartei Libertad y Refundación (LIBRE) mit einem fortschrittlichen Programm die Dominanz der beiden großen Parteien Partido Nacional (PN) und Partido Liberal (PL) brechen. Für die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung, ein konkretes Vorhaben von LIBRE, reicht der Rückhalt im Parlament jedoch nicht. Vor allem seitdem die parlamentarische Allianz mit der rechten Protestpartei Salvador de Honduras (PSH) des populären Fernsehmoderators Salvador Nasralla zerbrochen ist. Die ideologischen Differenzen zwischen ihm und Castro waren unüberwindbar.

Aber auch innerhalb der Regierung gibt es ideologische Gräben: Während der Debatte um die Steuerreform, die insbesondere Steuerbefreiungen für große, rentable Korporationen der Oligarchie aufheben soll, gerieten der Vorsitzende der honduranischen Steuerbehörde (der LIBRE-Mitglied ist), der Entwicklungsminister, der ehemalige Chef einer Arbeitgeberorganisation und ein PSH-Mitglied öffentlich aneinander und beschimpften sich als „Radikaler“ und „Verräter“. Dabei ist klar, dass die Regierung dringend Einnahmen benötigt, um die Funktionen des Staates aufrechtzuerhalten und Infrastrukturprojekte und soziale Programme für die wachsende Zahl armutsgefährdeter Personen finanzieren zu können. Laut dem Direktor der honduranischen Steuerbehörde SAR entgingen dem Staat allein 2022 über 2,4 Milliarden USD durch Steuerbefreiungen.

„Die Menge an Problemen kennt keine Grenzen“, fasste die sichtlich frustrierte Präsidentin die Situation kürzlich zusammen. Korrekturen führten oft ebenfalls zu Problemen. Weil der Medikamenteneinkauf des Gesundheitsministeriums strukturell von Korruption durchzogen war, wurde der Vorgang komplett geändert – mit dem Resultat, dass aktuell elementare Arzneimittel in den öffentlichen Krankenhäusern und Gesundheitszentren fehlen. Zudem konnte das Versprechen der Vorgängerregierung nicht eingehalten werden, das gesamte Gesundheitspersonal, das an erster Stelle und ohne ausreichenden Schutz gegen Covid-19 gekämpft hatte, fest anzustellen. Dazu fehlt schlicht das Geld. Viele weitere Sektoren fordern Lohnerhöhungen und Anstellungen in der öffentlichen Verwaltung.

Seit den Wahlen Ende 2021 verfügt die Regierungspartei LIBRE über 48 von 128 Parlamentarier*innen im Nationalkongress, die Fraktion der PN, die hinter dem aktuell in New York inhaftierten Ex-Präsidenten Juan Orlando Hernández stand (und teilweise noch steht) über 43. Die PN hatte den honduranischen Staat während zwölf Jahren gekapert und mit den größten Drogenhändler*innen aus Südamerika und Mexiko zusammengearbeitet, um an der Macht zu bleiben und sich zu bereichern. Währenddessen wurde die Bevölkerung immer ärmer, Hunderttausende emigrierten undokumentiert. Allianzen mit der Liberalen Partei, aus der LIBRE nach dem Putsch 2009 hervorgegangen ist, sind unwahrscheinlich – die Ressentiments auf beiden Seiten bleiben.

Ein weiteres Wahlkampfversprechen von LIBRE ist die Justizreform – eine Herkulesaufgabe angesichts struktureller Probleme wie der Korruption und einer hohen Straflosigkeit bei Gewaltverbrechen, Morden und Feminiziden. Fehlendes Vertrauen in den Rechtsstaat schreckt viele in- und ausländische Investor*innen ab. Ihre Ressourcen braucht das Land jedoch dringend, um die grassierende Arbeitslosigkeit zu verringern. Die von den UN geführte Internationale Kommission gegen die Korruption und die Straflosigkeit (CICIH) soll nicht nur die Justiz stärken, sondern Angeklagte strafrechtlich verfolgen und anklagen können. Das wäre ein riesiger Erfolg für Castro und ein entscheidender Schritt auf dem langen Weg zum Rechtsstaat.

Für die Bevölkerung ist das Thema der Sicherheit für Leib und Leben besonders dringlich. Die Mordrate ist zwar seit ihrem Höhepunkt im Jahr 2011 von 166 Morden auf 35,8 Morde pro 100.000 Menschen gesunken, die öffentliche Wahrnehmung hat sich diesbezüglich jedoch kaum geändert. Seit Dezember 2022 herrscht ein Ausnahmezustand „light“ in vielen Stadtgebieten mit hoher Kriminalität, um Erpressungsdelikte zu bekämpfen, die oft zu Morden führen.

Korruption führt zu Arzneimittel-mangel in Krankenhäusern und Gesundheitszentren

Die schockierenden Massaker im März dieses Jahres, bei denen es innerhalb weniger Tage eine Reihe von Toten gab, erschütterten das labile Vertrauen der Bevölkerung in die Polizei zusätzlich. Denn diese reagierte mit der immer gleichen Floskel: „Es handelt sich um einen Konflikt zwischen rivalisieren Gangs.“ Danach passierte meistens nichts. Viele Honduraner*innen sagen daher, dass in Honduras alle Verbrechen perfekt seien – die Ironie stirbt zuletzt.

Laut einer aktuellen Umfrage möchte fast die Hälfte der honduranischen Bevölkerung emigrieren. Der Soziologe Marco Antonio Tinoco schlägt deshalb ein neues Entwicklungsmodell vor, das besonders jungen Menschen die Chance geben soll, eine Perspektive im Land zu finden: „Wir brauchen viel mehr staatliche Investitionen in Ausbildung, besonders auf dem Land, und natürlich Jobchancen, damit die Leute würdevoll leben können und nicht emigrieren müssen.“ Ein Hoffnungsschimmer ist daher die Zusammenarbeit mit Kuba zur Bekämpfung des Analphabetismus: 100.000 Honduranerinnen sollen ab März 2023 innerhalb von drei Monaten Lesen und Schreiben lernen. Von der Opposition und ihrem medialen Resonanzboden wird dieser Akt gelebter Solidarität zwischen zwei souveränen Nationen als „Indoktrination“ bezeichnet.

Bisher ist die 62-jährige Xiomara Castro in den Medien deutlich weniger präsent als ihre Vorgänger Juan Orlando Hernández und Porfirio Lobo. Dafür twittert sie umso mehr im Stil des salvadorianischen Präsidenten Nayib Bukele und befiehlt beispielsweise dem Polizeichef nach besonders aufsehenerregenden Gewalttaten Resultate innerhalb von drei Tagen. In den sozialen Medien liefern sich auch hohe Regierungsvertreter*innen verbale Scharmützel mit der US-Botschaft und provozieren damit gezielt konservative Kreise. Diese wiederum werfen Castro vor, sie sei von ihrem Ehemann, dem ehemaligen Präsidenten Manuel Zelaya, gesteuert und beabsichtige, das Land in den Kommunismus zu führen.

Als die Präsidentin am 8. März die Notfallverhütung wieder legalisierte (als letztes Land in ganz Lateinamerika), entrüsteten sich genau die Frauen- und demokratiefeindlichen Gruppierungen, die den öffentlichen Diskurs prägen. Noch größer war der Aufschrei, als Castro Mitte März den Außenminister Eduardo Reina damit beauftragte, diplomatische Beziehungen mit China anzubahnen – nach 82 Jahren der Zusammenarbeit mit Taiwan. Dagegen protestierten nicht nur die honduranischen Konservativen, sondern auch renommierte US-Außenpolitiker*innen. Letztere warnten vor einer „Falle Chinas“ und vor negativen Konsequenzen für diejenigen Honduraner*innen in den USA, die dort die Erneuerung des temporären TPS-Schutzstatus anstreben. Diplomatische Beziehungen mit China öffnen aber durchaus Alternativen für Honduras, besonders in Bereichen wie wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung, Infrastruktur und Ausbildung.

Letztlich wird Castro nur erfolgreich sein, wenn die Mehrheit der Bevölkerung spürt, dass ihr Leben sich verbessert – ob durch eine höhere Kaufkraft, Subventionen, Zugang zu einem gestärkten Gesundheits- und Bildungssystem oder durch erhöhte individuelle Sicherheit. Bessere Lebensumstände, die die honduranische Bevölkerung nicht zur Emigration zwingen. Nach einem Übergangsjahr muss Castro jetzt Charakterstärke zeigen, sich gegen die faktischen Kräfte durchsetzen und mit ihrem Kabinett fühlbare Resultate liefern.

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