SEHENDEN AUGES IN DEN JUSTIZSKANDAL
Das Gerichtsverfahren zum Massaker von Curuguaty nähert sich seinem Ende und droht, als Farce zu enden
Es muss ein geradezu diabolischer Plan gewesen sein, den die Landlosen ausgeheckt haben. Wenn man der Staatsanwaltschaft glaubt, hätte sich Ruben Villalba mit den zehn anderen Angeklagten verschworen, um die Polizist*innen in einen Hinterhalt zu locken. Er und seine Schergen hätten eine Farm der Firma Campos Morombi, nahe der Stadt Curuguaty in der Grenzregion zu Brasilien, illegal mit einigen Familien besetzt. Als dann die Polizei anrückte, um die Besetzung zu räumen, hätten sie sich in der Form eines U aufgestellt. Bewusst hätten sie Frauen und Kinder dazu genommen, um die Beamt*innen in Sicherheit zu wiegen. Die Polizist*innen dagegen seien unbewaffnet zum Ort des Geschehens gekommen, um nicht zu provozieren. Auf das Verhandlungsangebot der Polizei hätten die Besetzer*innen nur mit „Siegen oder Sterben!“ geantwortet. Schließlich hätten Ruben Villalba und Luis Olmedo Paredes auf den Unteroffizier Erven Lovera geschossen und diesen so ermordet. So habe das Massaker von Curuguaty seinen Lauf genommen.
Über fast eine Woche hinweg legte die Staatsanwaltschaft Ende Juni ihr Schlussplädoyer für das Gerichtsurteil zum Massaker von Curuguaty dar. Darin erklärten die drei Staatsanwält*innen, sie sähen es als erwiesen an, dass sich die elf Angeklagten des Mordes, der Besetzung fremden Eigentums und der Bildung einer kriminellen Vereinigung schuldig gemacht hätten. Sie forderten deshalb Haftstrafen zwischen fünf und 25 Jahren. Für Ruben Villalba, den sie als den Hauptschuldigen darstellten, forderten sie neben der Höchststrafe von 30 Jahren zusätzliche zehn Jahre Sicherheitsverwahrung. Nachdem die drei Staatsanwält*innen ihr Schlussplädoyer beendet hatten, baten sie um Polizeischutz. Sie durften daraufhin das Gerichtsgebäude in Asunción durch den Hintereingang verlassen.
Die letzte Forderung ist sehr gut nachzuvollziehen. Hätten die Staatsanwält*innen Nelson Ruiz, Liliana Alcaraz und Leonardi Guerrero das Gericht durch den Haupteingang verlassen, hätten sie sich einer wütenden Menge von Demonstrant*innen, Prozessbeobachter*innen und Angehörigen der Angeklagten stellen müssen. Diese hätten ihnen dann wohl lautstark deutlich gemacht, für was sie deren Darstellung der Geschehnisse von Curuguaty halten: eine Farce, die einem politisch motivierten Urteil notdürftig juristische Respektabilität verleihen soll.
Das Verfahren um das Massaker von Curuguaty geht in die Schlussphase. Es handelt sich um das wohl wichtigste Gerichtsurteil der paraguayischen Geschichte der vergangenen Jahrzehnte. Verhandelt wird über einen Zusammenstoß zwischen Landlosen und Polizei bei der Besetzung des Grundstücks Marina Kue bei Curuguaty am 15. Juni 2012. Bei der Schießerei sind 17 Menschen, elf Landlose und sechs Polizisten, ums Leben gekommen. Die Opposition im Kongress nutzte den Vorfall, um ein Amtsenthebungsverfahren gegen den damals regierenden Präsidenten Fernando Lugo einzuleiten, das bereits am 22. Juni mit dessen Absetzung endete. Die Opposition warf dem als progressiv geltenden Präsidenten vor, mit seiner schwachen Regierung die Sicherheitslage im Land nicht mehr im Griff zu haben.
National wie international war das „Express-Amtsenthebungsverfahren“ äußerst umstritten. Tatsächlich, so argumentieren zahlreiche Kritiker*innen, ging es der Opposition darum, Fernando Lugo loszuwerden. Dieser strebte eine Landreform an und gefährdete so die Interessen zahlreicher Senator*innen und Abgeordneter. Viele sprachen von einem „kalten Putsch“. Paraguay wurde wegen der Vorfälle sogar zeitweise aus dem Mercosur, der von politischen Verbündeten Lugos dominiert war, ausgeschlossen. Schnell äußerten Anhänger*innen Lugos und andere linke Aktivist*innen den Verdacht, dass der unerwartet gewaltsame Zusammenstoß zwischen Polizei und Landlosen nur provoziert wurde, um das Amtsenthebungsverfahren gegen den gewählten Präsidenten zu ermöglichen. Von wem die ersten Schüsse ausgegangen waren, ist bis heute nicht abschließend geklärt. Aus diesen Gründen entstand direkt nach dem Massaker und der Absetzung von Lugo eine Protestbewegung, die als Motto eine Frage stellte: „Was geschah in Curuguaty?“
Für Jalil Rachid, der für die längste Zeit des nunmehr seit vier Jahre andauernden Prozesses der zuständige Staatsanwalt war, stellte sich diese Frage nie. Das nun von seinen Nachfolger*innen vorgelegte Schlussplädoyer ist eine elaborierte Fassung der Version, die er bereits 2012 parat hatte: Die Landlosen griffen die Polizei an, diese verteidigte sich nur. Entsprechend erhob er nur Anklage gegen die Besetzer*innen. Zu den elf Todesfällen unter den Besetzer*innen wurden nicht einmal Ermittlungen eingeleitet. Kein*e Polizist*in musste sich bislang für den Vorfall verantworten.
Inzwischen ist Jalil Rachid Vizeminister der Generalstaatsanwaltschaft. Viele vermuten, dass er diesen Karriereschritt nicht zuletzt deshalb machen konnte, um von dem politisch brisanten Fall Curuguaty abgezogen zu werden. Denn Jalil Rachid gilt als enger Vertrauter der Familie Riquelme, die großen Einfluss in der konservativen Colorado-Partei hat. Der inzwischen verstorbene Blas Riquelme war ein wichtiger regionaler Chef und Senator der Colorados und gehörte zum Vertrautenkreis des Diktators Alfredo Stroessner. Dieser hatte Riquelme 1975 im Austausch für dessen Gefolgschaft einige Ländereien in der Nähe von Curuguaty gegeben, die eigentlich der paraguayischen Marine gehörten: die 2.000 Hektar umfassende Farm Marina Kue, auf der das Massaker am 15. Juni 2012 stattfinden sollte.
Die Überschreibung von Marina Kue an die Firma Campos Morombi von Blas Riquelme war illegal und entsprach auch den damals geltenden Gesetzen nicht. Doch Gesetze galten damals wenig, der Befehl Stroessners hingegen alles. Mit der Vergabe öffentlicher Ländereien oder anderen Gefälligkeiten an potenzielle politische Konkurrent*innen sicherte der Diktator fränkischer Abstammung seine Macht. Nach Angaben des Bündnisses Tierras Mal Habidas (in etwa: „illegal angeignete Ländereien“), das von verschiedenen Nichtregierungsorganisationen getragen wird, sind in der Zeit von 1954 bis 2003 mindestens acht Millionen Hektar Land aus staatlichem Besitz illegal an Großgrundbesitzer*innen übertragen worden. Aufgrund dieser virulenten Korruption während – und nach! – der Stroessner-Diktatur gehört Paraguay heute zu den Ländern mit der ungleichsten Landverteilung auf der Erde. Etwa zwei Prozent der Bevölkerung besitzen etwa 80 Prozent des Landes – meist, ohne rechtmäßige Besitztitel vorweisen zu können. Diese ungleiche Landverteilung und die Entwicklung moderner Landwirtschaftsverfahren bilden die Grundlage dafür, dass Paraguay heute der viertgrößte Sojaexporteur der Welt ist.
Um gegen diese Ungerechtigkeit zu protestieren und um den Druck zu erhöhen, besetzten die Landlosen im Juni 2012 die Farm Marina Kue – mit den bekannten Folgen. Sie forderten, dass der Staat sich das Land zurückholen und einer Agrarreform zuführen solle. Durch den internationalen Druck und den Skandal wurde der Familie Riquelme der Besitz des Grundstücks zu heikel. Inzwischen hat die Firma Campos Morombi das Grundstück an den paraguayischen Staat „gespendet“, um darauf ein Naturschutzgebiet aufzubauen.
Doch Marina Kue ist nur eines von vielen anderen tierras malhabidas. Aus diesem Grund hat das Urteil zum Fall Curuguaty eine so große Symbolwirkung. In einem Interview mit dem Blogger*innen-Netzwerk Global Voices erklärte die das Gerichtsverfahren beobachtende Organisation Somos Observadores: „Der Fall Curuguaty zeigt exemplarisch, dass der Staat im Dienste von mächtigen Einzelpersonen agiert und gegen die Interessen der Landbevölkerung. […] Obwohl in Paraguay alle wissen, dass in Curuguaty nicht das geschah, was die offizielle Version besagt, bleibt es aufgrund des Zynismus und der großen Macht der staatlichen und juristischen Akteure zweifelhaft, ob je Gerechtigkeit erlangt und ernsthaft untersucht wird, was in Curuguaty geschah.“
Der Abgeordnete Luis Alberto Wagner erklärte gegenüber der Tageszeitung ABC, die Darstellung der Staatsanwaltschaft sei „die schlimmste Justizfarce der Geschichte“. „Woher nimmt die Staatsanwältin Liliana Alcaraz die Geschichte, dass Villalba den Unteroffizier erschoss?“, fragte Wagner. Bei den festgenommenen Landlosen wurden nur rostige Jagdflinten gefunden, doch bei allen getöteten – ob Polizist*innen oder Landlosen – stammten die Wunden laut der ersten Autopsie vermutlich aus großkalibrigen Waffen. Zudem befanden sich die meisten Wunden im Hals- und Kopfbereich, was auf gezielte Schüsse geübter Schützen schließen lässt. Ein anderes Gutachten, das die Staatsanwaltschaft in Auftrag gegeben hatte, kam zu dem Ergebnis, dass die Landlosen die Polizist*innen getötet hätten, allerdings ohne genaue Belege zu liefern. Doch jetzt lässt sich nicht mehr überprüfen, welche Version nun stimmt: Die Röntgenaufnahmen, die bei der ersten Autopsie von den Leichen gemacht wurden, sind nicht mehr aufzufinden.
Dies ist beileibe nicht die einzige der Ungereimtheiten und Pannen, die sich die Staatsanwaltschaft – meist noch in der Zeit unter Jalil Rachids Zuständigkeit – hat zuschulden kommen lassen. So wurden keine eingehenden forensischen Untersuchungen an den Leichen vorgenommen. Die Patronenhülsen sind am Tatort von unbekannten Personen entwendet worden. Die Filmaufnahmen des Helikopters, der am Einsatz beteiligt war, sind nicht aufzufinden. Die Staatsanwaltschaft kann nicht beweisen, dass aus den Flinten, die bei den Landlosen gefunden wurden, überhaupt geschossen wurde. Polizist*innen bedrohten Zeug*innen und Angeklagte bei der Rekonstruktion des Geschehens vor Ort. Aussagen von Polizist*innen widersprechen sich. Die Liste ließe sich noch weiter fortsetzen.
Zu Beginn des Schlussplädoyers der Verteidigung, das zu Redaktionsschluss nicht beendet war, erklärte einer der Anwält*innen der Angeklagten, Darìo Aguayo Domìnguez: „Dieser Prozess ist manipuliert: Die Generalstaatsanwaltschaft hat nur in eine Richtung ermittelt, sie war dem Druck politischer Mächte ausgesetzt, sie verstieß mehrfach gegen die Strafprozessordnung beim Umgang mit Gutachten, sie hielt Beweisstücke zurück und angesichts der fehlenden Beweismittel gibt sie nur eine politische Anschuldigung.“
Trotz dieser eklatanten Mängel und Pannen bei der Beweisführung ist es möglich, dass die Staatsanwaltschaft mit ihrer Version durchkommen wird. Wo sollen die Angeklagten in Berufung gehen, wenn Politik und Justiz so stark von mächtigen Gruppen beeinflusst werden?
So unterschiedliche Gruppen wie die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte, Amnesty International und die paraguayische Bischofskonferenz haben den paraguayischen Staat aufgefordert, dafür zu sorgen, dass im Fall Curuguaty ein faires Urteil gefällt wird. Es ist völlig klar, dass ein solches nur der Freispruch der Angeklagten sein kann.