Shoppen und verschanzen in Santiago
Chiles Sonderweg zur Demokratie
Wir befinden uns in einer Übergangsphase zur Demokratie, die noch lange nicht abgeschlossen ist“, sagt Victor Hugo de la Fuente. Der Direktor der chilenischen Ausgabe von Le Monde diplomatique empfängt uns in einem Hochhaus im Zentrum von Santiago. Sein winziges Büro beherbergt eine beeindruckende Sammlung kleiner Pinguine, an den Wänden hängen Erinnerungsbilder. Eine Schwarzweißfotografie zeigt den Redakteur im Pariser Exil als Sprecher von Radio Frances International. 1988 kehrte de la Fuente nach Chile zurück. General Augusto Pinochet musste damals – nach fünfzehn Jahren Militärdiktatur – den Weg in die Demokratie freigeben.
Zuvor hatte der General sich und einige Getreue noch zu „Senatoren auf Lebenszeit“ ernannt. Die Putschisten schufen sich damit eine Art christlich-fundamentalistischen Wächterrat außerhalb demokratischer Normen, um jederzeit in die Geschicke des Landes eingreifen zu können. Auch die Armee funktioniert in vielen Belangen unabhängig von der Regierung: Die hohen Offiziere berufen die Generalität bis heute selber. Eine Mehrheit der BürgerInnen ist damit zwar nicht einverstanden, doch die Minderheit reicht fast an sie heran: Knapp die Hälfte der rund sechzehn Millionen ChilenInnen gab bei den letzten Wahlen den aus den Putschisten hervorgegangenen Parteien Renovación Nacional (RN) und Unión Demócrata Independiente (UDI) ihre Stimme.
La Vida Social
„Armee und Unternehmer haben eine brutale Macht in diesem Land“, sagt de la Fuente. Eine einzige Tageszeitung, die kleine La Nación, an der der Staat selber Anteile hält, sei nicht grundsätzlich gegen das regierende Mitte-Links-Bündnis von Präsident Ricardo Lagos eingestellt. In der Tat: Wer den hauptstädtischen El Mercurio aufblättert, könnte meinen, Lagos repräsentiere eine extreme Splittergruppe und sei gar nicht der Präsident. Im Mercurio tagt das Schattenkabinett. Dabei brütet es nicht nur nationale Direktiven aus, es lässt sich auch mit Freunden in täglichen Fotoseiten der Zeitung zur Schau stellen. „Vida social“ („Gesellschaftliches Leben“) heißt diese Rubrik im vorderen Teil der Tageszeitung. Die Bildralleys zeigen die bedeutenden Persönlichkeiten beim Empfang in der Bank von Chile, beim 187. Gründungstag der Militärschule oder beim Sekttrinken in einer Gemäldegalerie.
Dass die Rechte in Chile ein Imageproblem hat, war lange Zeit unübersehbar. Nach der Einlieferung Pinochets in eine Londoner Klinik und der anschließend medizinisch attestierten Senilität, die den Alten vor Strafverfolgung schützt, wurde dies auch für viele Angehörige der Oberschicht klar. In Anspielung auf Pinochets Krankenhausaufenthalt gründete sich in Chile die satirische Wochenschrift The Clinic. Die Zeitschrift ist wegen ihres respektlos subjektiven Tons gerade bei jüngeren LeserInnen sehr beliebt. Sie spricht für eine neue Generation, die sich eindeutigen Rechts-links-Zuordnungen zu entziehen versucht. Sie spottet bei jeder Gelegenheit über fundamentalistische Moralvorstellungen und den „Gran General“, der sich seit der Rückkehr aus London in eine seiner Privatvillen verkrochen hat.
Auch Joaquín Lavín, der schon 2000 als Präsidentschaftskandidat der Rechten gegen Lagos antrat, ist seit der vorübergehenden Festsetzung Pinochets in London auf Distanz zum ehemaligen Diktator und seinen alten Kameraden bedacht. Der Führer der UDI will 2005 endlich für die gewendete Rechte eine nationale Wahl gewinnen. Auf demokratische Weise ist dies seinem Spektrum seit den sechziger Jahren nicht mehr gelungen. Und seit der Rückkehr zur Demokratie regiert ununterbrochen die Concertación, das Bündnis der vier „antifaschistischen“ Parteien, das von den Sozialisten bis zu den konservativen Christdemokraten reicht. Lavín, zurzeit Bürgermeister von Santiago, der seine Mitgliedschaft zum rechtskatholischen Opus Dei gerne scherzend zur unpolitischen Privatangelegenheit erklärt, wird zumindest rechts der Mitte hoch gehandelt.
Kulturrevolutionierte Fußgängerzonen
„Im Kampf gegen das Verbrechen“ brachte Lavín gerade eine Säuberungskampagne im Zentrum der chilenischen Metropole erfolgreich hinter sich, seine Freunde sprechen gar von einer kulturellen „Revolution“. Ihre sichtbaren Zeichen sind Gauchokutschen nachempfundene Blumenkästen in der Fußgängerzone, privates Sicherheitspersonal und zentral gesteuerte Musikberieselung auf den Straßen. Die Menschen sollen sich so behütet wie in einer gut gesicherten Shopping Mall fühlen. Auf den ersten Blick scheint dies bei vielen gut anzukommen. Auch wenn es nicht ins Bild passt, dass der Rio Mapocho so dreckig wie früher durch Lavíns Santiago rauscht und die vom Bürgermeister versprochenen „Badestrände“ am Fluss weit und breit nicht zu sehen sind.
Die chilenische Hauptstadt mit ihren viereinhalb Millionen EinwohnerInnen wirkt ein wenig wie Los Angeles ohne Traumfabrik – ein etwas zu groß geratenes Dorf. Im Zentrum bestimmen die Wolkenkratzer der Dienstleistungs- und Finanzunternehmen das Bild. Wenn Büros und Einkaufsläden abends und am Wochenende schließen, leeren sich die Straßen. Viele der besser Verdienenden ziehen sich wieder stadtaufwärts Richtung Anden zurück; nach Osten in die bewachten Apartementgebäude, in die Einfamilienhäuser mit den Vorgärten und der frischeren Luft. Die von Verkehrslärm umtoste Plaza Italia, so schreibt der Schriftsteller Pedro Lemebel, ist die unsichtbare Grenze, die den bürgerlichen Osten von den populären Vierteln des Westens trennt. Hier thront General Baquedano auf einer imposanten Reiterstatue und hält seine einsame Wacht. Niemand soll sich im Weg irren, aufwärts beginnt das bürgerliche Providencia, abwärts das vom Mittelstand misstrauisch beäugte Zentrum.
Mein Heim ist meine Festung
Das Barrio Quinta Normal ist eines dieser populären ArbeiterInnenviertel westlich der Innenstadt. Man nimmt die U-Bahn bis zur Universidad de Santiago, durchschreitet das Universitätsgelände und steht plötzlich vor den großen modernen Blocks der Villa Portales. Sie wurden Anfang der sechziger Jahre errichtet, inspiriert von der sozialen Architektur Le Corbusiers. Ricardo Alvarez lebt schon seit vierzig Jahren hier. Er war stolz, als Arbeiter in eine „so schöne“ Siedlung zu ziehen, sagt er. Alles war grün, Autos gab es keine. Heute sind die großen Plätze zwischen den Wohnblöcken versandet und dienen als Parkplätze.
Sieben Kinder haben er und seine Frau in einer Vierzimmerwohnung der Villa Portales großgezogen. Die futuristisch anmutenden Betonkonstruktionen waren durch Fußgängerbrücken miteinander verbunden, die ganze Anlage machte einen offenen Eindruck. „Dann kam der 11. September“, sagt Alvarez in seinem typisch chilenischen Singsang und meint den Militärputsch von 1973.
Die Siedlung mit den vielen Gemeinschaftsanlagen galt fortan als medio complicado, als gesellschaftlich schwierig. Ein Ruf, der dem Viertel bis heute anhaftet. Offensichtlich auch in den Köpfen einer Mehrzahl der BewohnerInnen. Der alte Mann schüttelt den Kopf und deutet auf die vielen vergitterten Fenster und Eingangsbereiche. Sie waren, so sagt er, in der ursprünglichen Architektur nicht vorgesehen. Aber auch das „einfache“ Chile hat sich verbarrikadiert und pflegt nur noch, was im eigenen umzäunten Bereich liegt. Die Welt da draußen, ein einziges Sicherheitsproblem. Die Verbindungsbrücken zwischen den Häusern, auf denen Alvarez früher spazieren ging, sind heute zerstört. Einige enden bizarr und sinnlos in den Dächern kleiner Reihenhäuser, die nachträglich um diese Brücken errichtet wurden.
Dass noch die unscheinbarste Bude mit Draht und Gitter verhauen ist, bildet das Markenzeichen der heutigen chilenischen Gesellschaft. Manche Leute leben, so scheint es, am liebsten gleich in Käfigen. Eine direkte Leitung zur Polizei gehört schon in mittleren Wohnlagen genauso zum Standard wie der Autoabstellplatz. Dabei hat Chile eine im südamerikanischen Vergleich atemberaubend geringe Kriminalitätsrate. Die Rechte hält dies für einen Erfolg ihrer Prävention. Während die Militärs sich in die Kasernen zurückzogen, blieben ihre neurotischen Angst- und Bedrohungsdiskurse haften.
„Die autoritären Dimensionen waren in der politischen Kultur Chiles immer präsent“, sagt der Soziologe Tomás Moulián. Dieser „offensichtliche Autoritarismus“ manifestiere sich in einer „Besessenheit“, was die öffentliche Sicherheit anbeträfe. Und in einer konservativen Doppelmoral, wäre hinzuzufügen, die das private Leben zu kontrollieren sucht.
Doch fünfzehn Jahre nach dem Übergang zur Demokratie sind in der chilenischen Gesellschaft auch gewisse freiheitliche Gegentendenzen unübersehbar. Die diskriminierten Minderheiten sind selbstbewusster geworden. Die indigenen Mapuche fordern ihre Rechte, Landlose halten Brachen besetzt, und in Santiago hat sich eine offenere Schwulenkultur etabliert. Institutionell geht es zwar langsam, aber manches doch voran. So konnte die Regierung Lagos vor wenigen Tagen ein modernisiertes Ehegesetz im Parlament durchbringen, das ab November die Scheidung erlauben wird.
Schlammschlacht um Pädophilie
Die Macht der Linken in Chile ist begrenzt. Die außerparlamentarischen Bewegungen sind im Vergleich etwa zu Argentinien schwach, und im Parlament stellt Lagos’ Partido Socialista gerade mal 10 der 122 Abgeordneten. Lagos’ SozialistInnen sind in der „antifaschistischen“ Concertación bloß Juniorpartner, die Bürgerlichen sind weitaus stärker. Lagos mag als Persönlichkeit und Präsident über die Parteigrenzen hinaus beliebt sein. Und seiner amtierenden sozialistischen Verteidigungsministerin Michelle Bachelat werden allgemein gute Chancen eingeräumt, den rechten Herausforderer Lavín auch nächstes Jahr in die Schranken zu weisen, da Lagos selbst kein zweites Mal kandidieren darf. Doch als Kandidatin der Concertación ist auch eine Christdemokratin im Gespräch.
Bis letztes Jahr gab sich die Rechte um Lavín sehr siegessicher. Doch dann erholte sich die Wirtschaft und blieb vor allem im Gegensatz zu den meisten Nachbarländern stabil. Bei derzeit vier Prozent Wachstum und den hohen Deviseneinnahmen aus dem gestiegenen Kupferpreis lässt sich schwer über die Regierung meckern. Als noch schlimmer für Lavín und seine konservativen Saubermänner erwiesen sich die Vorwürfe, zwei ihrer UDI-Senatoren seien samt einem Christdemokraten in einen Kinderpornoskandal verwickelt. Sie sollen auf den Partys eines befreundeten Unternehmers minderjährige Drogenabhängige sexuell missbraucht und vergewaltigt haben. Die Beschuldigungen stammen ausgerechnet aus den Reihen des Bündnispartners RN. Seit vergangenem Oktober tobt darum in den beiden Rechtsparteien eine Schlacht, in deren Zentrum die RN-Abgeordnete Pía Guzmán steht und in deren Verlauf die Präsidien beider Rechtsparteien ausgewechselt wurden.
Guzmán brachte im Oktober als Vizepräsidentin der RN den Skandal öffentlich ins Rollen. Ihr Wahlkreis ist der wohlhabende Hauptstadtbezirk Las Condes. Sie hatte sich schon früher für missbrauchte Kinder eingesetzt. Offensichtlich lagen ihr konkrete Informationen vor, und offensichtlich befürchtete sie, dass die chilenische Justiz die Sache unter den Tisch kehren würde. Die UDI und rechte Medien schossen sich sofort auf Guzmán und die Belastungszeugen ein, darunter einen Pater, dem sich mehrere Jugendliche anvertrauten. Das Thema ist nach acht Monaten immer noch nicht vom Tisch. Lavíns Leute haben es aber mittlerweile geschafft, Guzmán in ihrer eigenen Partei, der RN, zu isolieren.
Etwas haften bleibt immer
„Es gibt kein einziges Video“, gab sich UDI-Generalsekretär Patricio Melero von Anfang an siegessicher. Und so mag es am Ende auch sein. Doch so manchen – auch konservativen – ChilenInnen dürfte die „Mauer des Schweigens“, welche die UDI-Männer errichtet haben, und die Kampagne gegen Guzmán sauer aufstoßen. Drei Monate nach Beginn der Kampagne gegen Guzmán glaubten nach einer Umfrage des konservativen Mercurio immer noch 75 Prozent der Bevölkerung an das, was nach Lavín einfach nicht sein darf.
Doch trotz der Glaubwürdigkeitskrise der Rechten: Links sind viele ermüdet von dem langsamen und stockenden Reformprozess in Chile. Die Verfahren um die Menschenrechtsverbrechen der Diktatur haben noch nicht einmal richtig begonnen. Und wirtschaftspolitisch sind keine großen Sprünge drin. Manche wünschen sich da, die SozialistInnen würden in die Opposition gehen. „Doch“, sagt Victor de la Fuente, „die Regierungsinstitutionen sind die einzigen Machtorgane in Chile, die nicht komplett von der extremen Rechten kontrolliert werden. Das kann man nicht einfach aufgeben.“