Mexiko | Nummer 509 – November 2016

“SIE ERFINDEN IHRE EIGENE WAHRHEIT”

Interview mit den Menschenrechtsaktivist*innen Yolanda Barranco Hernández und Ricardo Flores Cuevas

Kritik an mexikanischen Behörden aufgrund von Menschenrechtsverletzungen  findet spätestens seit dem gewaltsamen Verschwindenlassen der 43 Studenten aus Ayotzinapa internationale Beachtung. In fünf Fällen erklärte die UNO-Arbeitsgruppe für willkürliche Inhaftierungen deren Festnahmen und Prozesse für unrechtmäßig. Bislang reagierte die Regierung nicht. Die Menschenrechts-aktivist*innen Yolanda Barranco Hernández und Ricardo Flores Cuevas sind im Unterstützungskomitee der politischen Gefangenen Damián Gallardo Martínez und Enrique Guerrero Aviña. Die LN sprachen mit ihnen über die Situation von Aktivist*innen und die verschärfte Kriminalisierung von Protesten.

Von Interview: Benjamin Seidel

Am 26. September jährte sich zum zweiten Mal Ayotzinapa. In Berlin wie an vielen anderen Orten fanden dazu Aktionen statt. Wie sehen Sie die aktuelle Menschenrechtssituation in Mexiko, inwiefern hat sie sich innerhalb der vergangenen zwei Jahre verändert?

GEGEN WILLKÜR DER JUSTIZ
Yolanda Barranco und Enrique Flores kämpfen für die Freilassung politischer Gefangener, gegen das Klima der Straflosigkeit und gegen die selbstgerechte Willkür der Justiz in Mexiko.
(Foto: Benjamin Seidel)

Yolanda Barranco: Durch das Verschwindenlassen der 43 Normalistas aus Ayotzinapa wurde eine Reihe versteckter Gräber gefunden, nicht nur in Guerrero, sondern in mehreren Teilen des Landes. Dadurch sehen wir heute, wie viel mehr Verschwundene es gibt. Ayotzinapa war nur der Wendepunkt. Ausgehend davon wurden weitere Gräber aufgedeckt und Körper über Körper gefunden. Dazu gibt es heute viel gesellschaftlichen Unmut über die von der Regierung begonnenen Strukturreformen. Der allgemeinen Bevölkerung werden sie nicht helfen, sondern kommen nur einer kleinen Gruppe von Unternehmern zugute. In den vergangenen drei Jahren hat sich also die Situation in Mexiko stark verschärft und damit auch die Kriminalisierung des sozialen Protests für Menschenrechte, Bildung, das eigene Territorium und natürliche Ressourcen. Und die Verbrechen, die die Regierung Aktivisten heute anhängt, stigmatisieren sehr schwer. In diesem Sinne ist der Fall von Damián Gallardo Martínez ein emblematischer.

Ricardo Flores: Sagen wir, in Mexiko wird die schwierige Situation, die wir durchleben, erst in Folge dieses massiven Verschwindenlassens bewusst. Enrique, den ich vertrete, hat im Gefängnis ein Buch geschrieben, dass sich „Ausnahmezustand“ nennt. Darin weist er darauf hin, dass in Mexiko zurzeit jede x-beliebige Person hingerichtet, verschleppt oder willkürlich verhaftet werden kann. Und, dass dies der Regelfall ist. Es existiert dabei keine gerichtlich kriminalistisch fundierte Untersuchung, die eine Aufklärung der Fälle ermöglicht. Die Formel, zu beweisen, was die Regierung bestätigt haben möchte, wiederholt sich dabei in zahlreichen Fällen.

Wie und unter welcher Anschuldigung wurden Damián und Enrique verhaftet?
YB: Damián wurde am 18. Mai 2013 in unserem Haus verhaftet, im Morgengrauen. Wir schliefen noch, als draußen viel Lärm zu hören war. Damián näherte sich der Tür und, als er das tat, wurde sie bereits von der Polizei gewaltsam aufgebrochen. Daraufhin ließen sie ihn nicht einmal mehr das Haus betreten. Ohne Ausweise, ohne Durchsuchungs- oder Haftbefehl brachten sie ihn weg. Sie verdeckten seinen Kopf mit einer Plastiktüte. Ab diesem Moment erlitt er 30 Stunden lang sowohl körperliche als auch psychische Folter. Körperliche Folter gehört in Mexiko zur Normalität: Sie schlugen ihn am ganzen Körper, stülpten ihm Plastiktüten über den Kopf. Das war die körperliche Folter. Aber die psychische bestand darin, dass sie ihm sagten, sie würden mich und unsere Tochter holen, uns vergewaltigen und töten, sollte er nicht kooperieren. So musste er leere Blätter unterschreiben. Zusätzlich wurden zahlreiche Regeln eines ordnungsgemäßen Verfahrens missachtet: Als wir am nächsten Tag mit der Bürgerrechtsorganisation Consorcio unser Vorgehen besprachen und Damiáns Schwestern alle Rechtspflegeämter gemeinsam mit einem Protokollführer aufsuchten, hieß es, er sei in keiner ihrer Einrichtungen und sie wüssten auch nichts von dem Einsatz. Das Prinzip der Unschuldsvermutung wurde direkt im Anschluss daran verletzt, als ihn die Generalstaatsanwaltschaft in der landesweiten Presse als mutmaßlichen Chef einer Bande von Kidnappern präsentierte. Sie beschuldigten ihn, zwei Kinder entführt zu haben und überstellten ihn in das Hochsicherheitsgefängnis Puente Grande in Jalisco. Seitdem sitzt er in Haft.

RF: Enrique ist Student an der Nationalen Autonomen Universität von Mexiko in Mexiko-Stadt. Am 17. Mai 2013 war er nachts mit seinem Auto auf einer Schnellstraße innerhalb der Stadt unterwegs. Auf einmal bemerkte er, dass ihn zwei Kleintransporter verfolgten, ohne Nummernschilder oder offizielle Schriftzüge. Er bekam Angst, sie könnten ihn entführen. Plötzlich begannen sie zu schießen und Enrique ist sich sicher, dass sie versuchten, ihn hinzurichten. Sein Beifahrersitz wurde komplett durchlöchert. Als sein Auto den Geist aufgab, stieg er aus und suchte Zuflucht bei einer städtischen Polizeipatrouille. Im Inneren der Streife schaffte er es noch, seine Familie über Geschehen und Ort zu informieren. Dann näherten sich schon die zwei Kleintransporter. Aus ihnen stiegen zwei bewaffnete Zivilpersonen aus, die den Polizisten bedeuteten, dass sie Enrique mitnehmen wollen. Die Polizisten übergaben ihn. Auch hier gab es keinen Haftbefehl. Auch hier vergingen 30 Stunden, während derer niemand wusste, was mit Enrique passiert ist und während derer er nachweislich gefoltert wurde. Sie verlangten Informationen: Wer ist innerhalb der Universität aktiv? Wer stellt sich den Strukturreformen entgegen? Wochen zuvor hatten wir, Enrique und andere, ein Diskussionsforum zu den Reformen organisiert. Niemand wusste also, wo er sich aufhielt, bis er auf einer Pressekonferenz der Generalstaatsanwaltschaft im landesweiten Fernsehen ebenfalls als Mitglied einer Bande von Kidnappern präsentiert wurde. Drei Dinge sind an dieser Stelle wichtig zu betonen, drei unterschiedliche Versionen der Geschehnisse: In der einen, die von den Massenmedien verbreitet wurde, heißt es, besagte Bande und er seien in flagranti erwischt worden. Dasselbe bei Damián. Die zweite – offizielle Version – lautet, dass zwei ordnungsgemäß gekennzeichnete Polizisten ihn nachts angehalten und für den darauffolgenden Morgen in die Spezialermittlungsbehörde für organisiertes Verbrechen eingeladen hätten. Dahin wäre er dann eigenen Fußes am nächsten Morgen gekommen und ihm wären die Entführungsanschuldigungen vorgetragen worden. Daraufhin hätte Enrique unmittelbar ein Geständnis abgeliefert. Ein offizielles Gutachten aber hat bei dem Auto Einschüsse, ein anderes Protokoll Folter an Enrique nachgewiesen.

Wie geht es den beiden jetzt und wie ist der aktuelle Verfahrensstand?
YB: Trotz der Beurteilungen und Anfragen der UNO-Arbeitsgruppe hat die Regierung – beinahe dreieinhalb Jahre nach den Ereignissen – nicht eine Antwort geliefert. Sie haben sie bis heute nicht verurteilt, obwohl der Staat versucht hat, belastende Beweise vorzubringen. Wir hingegen konnten sowohl diese widerlegen als auch Nachweise für ihre Unschuld anführen. Nestora Salgado und Pedro Canché sind mittlerweile frei gelassen worden, ihre Verfahren laufen allerdings weiter. Die drei anderen, Damián, Enrique und natürlich auch Librado Baños, leiden immer noch. Librado hat bereits 80 Prozent seines Augenlichts verloren, Damián hat mittlerweile auch Sehprobleme und Enrique chronische Nackenschmerzen. All das vor allem deswegen, weil sie nicht adäquat medizinisch versorgt werden.

Wie sehen Ihre beziehungsweise die weiteren Schritte der UNO-Arbeitsgruppe aus?
RF: Zum einen geht es natürlich darum, das Verfahren weiter zu bestreiten, aber vor allem ist es wichtig, die Fälle und die bei ihnen begangenen Menschenrechtsverletzungen weiter bekannt zu machen. Gerade auch deswegen, weil sie hier so offensichtlich sind und ein Sieg in ihrem Fall anderen politischen Gefangenen zugute kommen kann. Das war ein Lernprozess für uns. Mehrere Personen empfahlen der Familie von Enrique und uns Freunden, über die Geschehnisse zu schweigen. Diesem Rat sind wir zunächst gefolgt, haben jedoch schließlich gemerkt, dass das nicht angebracht ist.

YB: Die Arbeitsgruppe wird weiter Stellungnahmen und Anfragen veröffentlichen, damit sich uns vor Ort endlich die Türen öffnen. Bislang hat der Menschenrechtsbeauftragte von Mexiko ein Treffen abgelehnt, obwohl sie genau wissen, dass der Staat Menschenrechtsverletzungen begeht und seine eigene Wahrheit erfindet. Sogar im Dialog zwischen der Europäischen Union und der mexikanischen Regierung fanden die Fälle Erwähnung.

Wie hat sich die die Repression während und nach den Protesten in Oaxaca dargestellt?
YB: Die Geschehnisse in Oaxaca waren sehr schwerwiegend. Dabei bestehen die sozialen Kämpfe bereits seit 2013 beziehungsweise 2012, eben wegen der Bildungsreform. Im Mai und Juni hatten sich schließlich nicht nur Lehrer organisiert, sondern ganze Familien und auch soziale Organisationen. Nicht nur in Oaxaca, sondern im ganzen Land, aufgrund der Kriminalisierung und der Gewalt gegen uns. Seit Beginn der Proteste setzen sie alle möglichen Repressalien ein. Sie verhafteten mehr Kollegen, vor allem Leiter des Führungskomitees. Vor Nochixtlán (im Bundesstaat Oaxaca, Ort der stärksten Konfontationen, im Juni kamen hier elf protestierende Lehrer*innen ums Leben; Anm. d. Red.) hatte es ein Jahr lang landesweit keinerlei Dialog mit den streikenden Lehrern gegeben. Nach Nochixtlán eröffnete die Regierung einen Dialog, aber nur halbherzig und ohne substantielle Antworten. Deshalb setzen wir den Protest fort, auch wenn wir den Streik vorerst beendet haben und wieder unterrichten. Natürlich haben die Proteste nachgelassen. Allerdings leiden wir weiterhin unter Repressionen: Am 14. September wurde ein Kollege vor seiner Schule erschossen und am 15 September, als wir auf dem Hauptplatz Oaxacas anlässlich des Unabhängigkeitstags protestieren wollten, wurde uns der Zutritt gewaltsam verwehrt.

Sehen Sie irgendeine Organisation oder Kraft, die es schaffen könnte, den immer größeren gesellschaftlichen Unmut zu kanalisieren und politisch umzusetzen?
YB: Das ist eine schwierige Frage. Ein starker Bezugspunkt ist eben genau der streikende Teil der Lehrerschaft, zu der wir in Oaxaca auch gehören. Die Lehrergewerkschaft ist die größte Gewerkschaft des Landes. Es scheint aber, dass zurzeit die Kraft fehlt, die Proteste dauerhaft zu vereinen. Es gibt andere Gewerkschaften, zum Beispiel im Bereich der Stromversorgung, die durch den Staat zerschlagen wurden. Gerade dieser Unmut über die aktuellen Strukturreformen kann die übrigen Vereinigungen zu einer Bewegung formen: die Lehrergewerkschaft, die Gewerkschaft aus dem Gesundheitssektor, aber auch die Studenten und die Bauern.

RF: Ein gemeinsamer Kampf wäre sehr positiv. Allerdings haben in allen Bereichen in letzter Zeit unterschiedliche Prozesse stattgefunden. Die streikenden Lehrer bilden die Vereinigung, die es von Seiten der Regierung auszuschalten gilt. Es ist ja nicht so, als ob die anderen Strukturreformen in den Bereichen Energie, Gesundheit und Arbeitsrecht weniger gravierend wären. Sie alle müssten viel mehr diskutiert werden. Die Bildungsreform ist nur die einzige, bei der es eine organisierte Opposition durch die Lehrer gibt.

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