Sieg der Straße
Jamaicanische Regierung nimmt Preiserhöhungen weitgehend zurück
Nach der bereits 22 Jahre währenden vom IWF diktierten Austeritätspolitik war für die Mehrheit der JamaicanerInnen die geplante Verdoppelung der Mineralölsteuer der berühmte Tropfen zuviel. Die für die Region übliche neoliberale Umverteilungspolitik mittels Privatisierung staatlicher Unternehmen, Deregulierung des Arbeitsmarktes und „Liberalisierung“ des Handels (z.B Freigabe der Nahrungsmittelpreise) kennzeichnet die mittlerweile zehnjährige Regentschaft der People’s National Party (PNP). Ein erneutes „Abzocken“ der Bevölkerung war einfach nicht drin. Einige PNP-Mitglieder gaben während der Riots öffentlich zu, daß sie den Bezug zur Realität teilweise verloren hätten. Hätten sie hin und wieder den Protagonisten der Dancehalls zugehört, hätten sie möglicherweise die Situation realistischer eingeschätzt, denn diese kritisieren seit Jahren die sich ständig verschlechternden Lebensbedingungen. Bereits vor vier Jahren kommentierte Anthony B in „Fire pon Rome“ die politische und ökonomische Situation der Insel, indem er sowohl Premierminster P.J. Patterson als auch seinen Vorgänger Edward Seaga heftig unter verbalen Beschuß nahm.
Der Anfang des Jahres erschienene Song „Anytime“ („Anytime, We hungry again, dem a go see wi nine, anytime, the government policy is out of mind“) von Bounty Killer war selbst den Radiostationen zu „aufwieglerisch“, man beschuldigte Bounty, zu Gewalttaten aufzurufen, und der Song wurde nicht gespielt.
Chronik der Ereignisse
Als am 15. April 99 Finanzminister Omar Davies den Haushalt 1999/2000 präsentierte, kündigte die Regierung die Verdoppelung der Mineralölsteuer sowie Preisaufschläge auf Gas, Strom und Fahrpreise an. Am folgenden Tag kam es zu einzelnen Spontandemos und die Oppositionsparteien Jamaican Labour Party (JLP) und National Democratic Party (NDP) sowie einzelne Kirchen forderten die Regierung auf, die Erhöhungen zurückzunehmen. Premierminister P. J. Patterson, der 1991 als Vize aufgrund von Steuerbegünstigungen für den Erdölmulti Shell zurücktreten mußte, betonte jedoch, die Preiserhöhungen durchziehen zu wollen. Nachdem klar wurde, daß die Regierung ihr Vorhaben umsetzen würde, folgte eine Protestwelle, wie sie die Insel seit 20 Jahren nicht mehr gesehen hatte. „Enough ist enough“, beteuerte eine Frau aus Kingston.
Der massive Aufruhr legte die gesamte Insel für drei Tage lahm: aufgrund von hunderten von Straßensperren – allein 144 Hauptstraßen wurden besetzt- konnten weder Personen noch Waren fortbewegt werden. Auf dem Lande wurden Zuckerrohrfelder abgebrannt, in Kingston, St. Andrew und Montego Bay wurden insgesamt 88 Läden geplündert, 26 Fälle von Brandstiftung wurden gezählt sowie 34 Feuergefechte mit der Polizei. In Kingston wurden sechs Polizeistationen von gunmen aus der Menge heraus beschossen. Die Polizei ihrerseits setzte massiv Tränengas ein und feuerte diverse Male in die Menge. Bei dem Feuergefecht um die Polizeistation in Seaview Gardens erschoß die Polizei einen Angehörigen der Jamaican Defence Force (JDF), der dabei war, einen Jungen aus der Schußlinie zu retten. Obwohl er sich sofort der Polizei als Soldat zu erkennen gab, wurde er von mehreren Kugeln getroffen. Auf seine Frau, die der Polizei gleichfalls zurief, daß ihr Mann Soldat sei, wurde ebenfalls geschossen, glücklicherweise ohne sie zu treffen.
Die Bilanz der Ausschreitungen waren 9 Tote sowie 152 Verhaftete. Am dritten Tag der Riots hielt Regierungschef Patterson eine Ansprache, die auf dem populären Radiosender IRIE FM übertragen wurde, in der er die Bevölkerung beschwor, zuhaus zu bleiben. Dabei erklärte er in einem zweistündigen Diskurs die ökonomischen Konstanten der Regierungspolitik. Die Situation ist wahrlich schwierig. Dringend benötigte Investitionen ausländischer Firmen werden nur durch Steueranreize und Dumpinglöhne ins Land gelockt. So feiert die Regierung jede noch so geringe Investition frenetisch als Erfolg.
Straßensperren scheinen tatsächlich das letzte Mittel der Einflußnahme der Bevölkerung auf politische Entscheidungen zu sein, denn eine politische Partizipation – ob über Parteien, Gewerkschaften oder Grassroots-Bewegungen – ist kaum existent. Nach den politischen Zielen der Proteste befragt, antwortete ein Taxifahrer: „das, was die Bevölkerung hier macht, ist nicht politisch, sondern sozial. Wir mischen uns nicht in die politricks ein.
Im kulturellen Sektor hingegen werden die gegenwärtigen Verhältnisse breit kritisiert. Dabei fungiert die Dancehall/DJ-Kultur als übergreifende Klammer – Sprachrohr und Medium der Kritik. Obwohl die Kommentare der DJs zur aktuellen Situation nicht hätten deutlicher ausfallen können, scherte sich die Regierung jedoch nicht um dieses Stimmungsbarometer, was Basil Walters am 2. Mai 99 im Sunday Observer zu dem Kommentar veranlaßte: „Yet the leaders failed to see the writing on the wall“. (Nun, die Politiker haben’s versäumt, die Sprüche an den Wänden zur Kenntnis zu nehmen).
Eine Woche vor den Riots erschien in prophetischer Voraussicht der Song von Anthony B „Tax“: „dey tax the orange from our plant, dey tax the meat, dey tax the street, yu try to walk dey tax your feet…“ (Sie besteuern die Orange deiner Farm, sie besteuern das Fleisch, sie besteuern die Straße und wenn du zu gehen versuchst, besteuern sie dir die Füße).