SIEG DER VERNUNFT
Mitte-Links-Kandidat Carlos Alvarado gewinnt die Stichwahl zum neuen Staatsoberhaupt
Surayabi Ramírez versteht die Welt nicht mehr. Der Experte für Wirtschaftspolitik an der Universität von Costa Rica zählt die seiner Meinung nach wesentlichen Probleme des Landes auf: die rasant steigende Staatsverschuldung, die veraltete und desolate Infrastruktur des Landes, die Korruption sowie die steigende Kriminalitätsrate durch das organisierte Verbrechen. Und dann ist das dominierende Thema der Wahlen die gleichgeschlechtliche Ehe. Aber auch er weiß, dass mehr dahintersteckt.
Das Thema Ehe für alle war in Costa Rica Auslöser einer der schärfsten Wahlkämpfe in der Geschichte des Landes. Am Ostersonntag fand er mit dem Sieg des jungen und progressiven Präsidentschaftskandidaten Carlos Alvarado in der Stichwahl ein Ende. Bis zuletzt wurde im ganzen Land erbittert, aber weitgehend friedlich um Stimmen geworben. Dennoch konnte sich in den Umfragen keiner der beiden Kontrahenten absetzen. In einer bisher unbekannten Radikalität spaltete sich die Gesellschaft in den vergangenen drei Monaten in ein progressives und ein traditionelles Lager. Die gleichgeschlechtliche Ehe wurde zum Sinnbild der beiden gegensätzlichen Weltbilder, die über den gesamten Wahlprozess den Diskurs dominierten.
Nutznießer dieser Debatte waren beide Präsidentschaftskandidaten der Stichwahl, Fabricio und Carlos Alvarado, die nur zufällig den gleichen Nachnamen tragen. Beide Kandidaten hatten Ende letzten Jahres in den Umfragen noch weniger als fünf Prozent erreicht. Der Wahlkampf war bis dahin unspektakulär verlaufen. Weiße, ältere Männer aus der politischen Elite versprachen Verbesserungen alltäglicher Probleme: der Verkehrssituation, der Armut, der Bildung. Und die Wähler*innen favorisierten ihre traditionelle Partei.
Am 9. Januar explodierte dann die Bombe. Der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte beantwortete eine zwei Jahre alte Anfrage zur gleichgeschlechtlichen Ehe aus den Reihen der regierenden Partei der Bürgeraktion (PAC). Die Rechte von Homosexuellen und die Ehe für alle seien demnach durch den Gleichheitsgrundsatz geschützt. Damit bestimmte die internationale Organisation schlagartig die Agenda des Wahlkampfes. Befürworter*innen und Gegner*innen der „Homoehe“ brachten sich in Position. Das Thema dominierte plötzlich die Zeitungen und sozialen Netzwerke. Der Wahlkampf veränderte sein Gesicht innerhalb von wenigen Tagen hin zu einer unübersichtlichen und brisanten Mischung aus Wertedebatte, Glaubensfragen und religiösem Fanatismus. Ein tiefer Graben schlug sich in die sonst eher harmonieliebende costaricanische Gesellschaft.
Auf der einen Seite stand der 38-jährige Carlos Alvarado für die progressive PAC. Der ehemalige Arbeitsminister des Landes sowie Journalist wirkte anfangs gesichtslos, gewann aber dann in zahlreichen Fernsehdebatten durch seine kluge und ruhige Argumentation immer mehr an Zustimmung. Seine Kenntnis des Landes sowie sein akademischer Bildungshintergrund und seine weltoffene Art repräsentierten den rationalen Anspruch der PAC. Er trat unter anderem für die gleichberechtigte Behandlung von Minderheiten, die Stärkung der Rechte von Frauen, einen säkularen Staat und neue Regelungen im Strafrecht ein.
Auf der anderen Seite stand Fabricio Alvarado, ebenfalls Journalist, evangelikaler Sänger und politisches Gesicht der christlich-fundamentalistischen Partei des Nationalen Wiederaufbaus (RN). Dem rhetorisch gewandten, bisher einzigen Abgeordneten der politisch noch unerfahrenen Partei gelang es durch eine vehemente Ablehnung des Urteils des internationalen Gerichts, im ersten Wahlgang aus dem Stand die meisten Stimmen zu gewinnen. Er polarisierte durch seine streng religiösen Themen. Neben dem Schutz des traditionell christlichen Familienbildes, der Abschaffung von Sexualkunde an Grundschulen, dem Ende der feministischen „Ideologie“ und des säkularen Staates blieb er weitere Programmpunkte bis eine Woche vor dem Wahltag schuldig.
Fabricio Alvarado gelang es mithilfe der evangelikalen Gemeinden, vor allem in ländlichen Regionen Aufsehen zu erregen. In der Peripherie, wo das Bildungs- und Einkommensniveau niedriger und die Kriminalitätsrate höher ist, haben spirituelle Hoffnungsträger*innen und Regierungskritiker*innen stets gute Karten. Handyvideos von Eltern, die vor den Schulen ihrer Kinder gegen den Sexualkundeunterricht demonstrierten, offenbarten in den sozialen Medien den aggressiven Ton der evangelikalen Bewegung. „Wer sich Gottes Wort widersetzt, verdient den Tod“ skandierten sie mit Hinblick auf ihre homosexuellen Mitmenschen. Eine Debatte über evangelikale Praktiken blieb aus, stattdessen punktete Fabricio Alvarado als standfester Christ auch bei katholischen Konservativen. Daher blieb das Präsidentschaftsrennen bis zum Ende spannend.
Auch die anderen Parteien wurden in den Debattenstrudel aus Modernität und Tradition hineingezogen. Das klassische Zwei-Parteien-System ist endgültig zerschlagen. In der kommenden Legislaturperiode werden Abgeordnete aus sieben verschiedenen Parteien im Parlament vertreten sein. Dies erschwert die Mehrheitsfindung im Parlament und damit ein geordnetes Regieren. Erstmals in der Geschichte des Landes haben deshalb vor den Stichwahlen Koalitionsgespräche stattgefunden. Mit der RN verbündete sich die Partei der Nationalen Befreiung (PLN), eine der beiden ehemals dominerenden Volksparteien. Gemeinsam verfügen sie über die Mehrheit der im Februar gewählten Abgeordneten. Das letztendlich relativ schlechte Wahlergebnis dieses Bündnisses von 40 Prozent zeugt davon, dass viele Anhänger*innen dem Ruf der eigenen Partei nicht gefolgt sind, sondern für Carlos Alvarado gestimmt haben. Dessen PAC ging ihrerseits ein Bündnis mit der christsozialen Partei (PUSC) ein, der zweiten ehemals dominierenden Volkspartei. Dies könnte Carlos Alvarado entscheidende Stimmen gebracht haben: Während im ersten Wahlgang (siehe LN 524) nur rund 22 Prozent der Wahlberechtigten für ihn gestimmt hatten, entschieden sich in der Stichwahl 60 Prozent für ihn und seine zukünftige Stellvertreterin Epsy Campbell, die die erste schwarze Vizepräsidentin Lateinamerikas sein wird.
Wirtschaftspolitikexperte Ramírez ist darüber erleichtert. Ein Wahlsieg der RN hätte für Costa Rica verheerende Folgen gehabt. Vor allem das positive Image des Landes hätte gelitten, und damit der Tourismus. Die Unberechenbarkeit und Unerfahrenheit der evangelikalen Partei hätte das Land schwächen können. Fabricio Alvarado verfüge nicht über die nötige Erfahrung und Englischkenntnisse und die RN habe nicht genug Mitglieder, um alle staatlichen Ämter zu besetzen. „Gerade in Zeiten ökonomischer Unsicherheit ist eine stabile Regierung nötig“, meint Ramírez, „die PAC hat zwar in ihrer Koalition mit anderen Parteien nicht die Mehrheit im Parlament, kann aber besser die soziale Einheit wiederherstellen.“ Der neue, jüngste Präsident der Geschichte des Landes hat dafür alle im Parlament vertretenen Parteien zu Verhandlungen über eine gemeinsame Regierung eingeladen. Noch am Wahlabend rief er seinen Wähler*innen zu: „Meine Aufgabe wird die Einheit dieser Republik sein.“ Es dürfte eine schwere Aufgabe werden.
Interessant sind zwei Parallelen, die die costaricanische Demokratie mit ihren artverwandten Systemen in Nordamerika und Europa teilt. Zum einen bilden sich zunehmend radikale Alternativen zu etablierten politischen Akteur*innen. Während sich in Europa nationale und in Nordamerika ökonomische Bewegungen bildeten, ist es in Costa Rica eine religiöse. Die politische Struktur dahinter scheint aber die gleiche zu sein: ein zu lang unterdrückter gesellschaftlicher Diskurs über die sozialen Veränderungen, die die Globalisierung mit sich bringen und eine politische Vision darüber, wie damit umzugehen ist. Zum anderen bringen Wahlen kaum mehr stabile Mehrheitsverhältnisse, sondern spiegeln eher eine allgemeine Zersplitterung der Gesellschaft wider. Dies hat das Auseinanderbrechen des traditionellen Parteiensystems zufolge, was in Costa Rica den Entscheidungsfindungsprozess erschwert. Letzlich, ist sich Ramírez sicher, liegt es auch an den emotionalen Wahlkämpfen. Es wäre besser, wenn die Politiker*innen im Wahlkampf wieder über die wesentlichen Probleme des Landes sprechen würden.