Nummer 288 - Juni 1998 | Sport

Sieg im Volkssport

Fragment zu einer Soziologie des lateinamerikanischen Fußballs

Lateinamerika ist der Kontinent des Fußballs – ohne Zweifel. Weltmeister kamen bisher erst aus zwei Kontinenten – Europa und Lateinamerika. Und nach Brasiliens Titelgewinn bei der letzten WM, besitzt der Kontinent den einzigen vierfachen Weltmeister. In Lateinamerika Fußball als die „wichtigste Nebensache der Welt“ zu bezeichnen, wäre einfach nur lächerlich. Vielmehr trifft wohl hier der klassische Spruch von Bill Shankly zu, dem ehemaligen Trainer des FC Liverpool: „Football is not a matter of life and death. It’s more important than that.“

Thomas W. Fatheuer

André Markovits hat vor einigen Jahren ein interessantes Essay geschrieben mit dem Titel: „Why is there no soccer in the United States?“ Unter dieser Fragestellung gelingen ihm wichtige Einblicke in die Besonderheiten des kulturellen Systems der USA. Für Lateinamerika müßte die Frage lauten „Why is there so much soccer in Latin America?“

Triumphe am Amazonas

Conde, eine etwas triste Stadt am Rio Tocantins, zwei Stunden von der Amazonasmetropole Belém entfernt, versprüht den herben Charme eines heruntergekommenen Badeortes, der inzwischen zur Aluminiummetropole und zum Industriehafen mutiert, aber auch schon im Neuen dekadent wirkt. Ein Strand mit Aussicht auf die Hafenanlagen, die fast das einzige Licht in die dunkle Nacht verströmen. Der tropische Regen will nicht aufhören und wir sitzen in einer recht finsteren Bar fest. An der Wand hängt als einziger Schmuck ein Bild von Ronaldinho, wie Ronaldo in Brasilien genannt wird, mit seinem Zahnspaltenstrahlen, das seine soziale Herkunft unübersehbar macht. Und im Fernsehen läuft natürlich Fußball, das Endspiel von São Paulo, Corinthians gegen FC São Paulo (ein packendes Spiel übrigens, das São Paulo mit den großartigen Rai und Denilson souverän gewinnt). Ich bin schnell als Gringo erkannt und nach meiner Herkunft befragt. „Ah, Deutschland…“ – und sofort kommt die Analyse. „Keine Chance bei der WM, guck hier, Ronaldinho, was habt ihr dem entgegenzusetzen.“ Meine Einwände – „also wißt Ihr eigentlich, wie der Torschützenkönig der italienischen Liga heißt: Bierhoff und nicht Ronaldinho“ – rufen ungefähr dieselbe Reaktion hervor, wie wenn ich erzähle, daß man in Europa fischt, indem man Löcher in vereiste Seen schlägt. Schnell hat sich in der kleinen Bar eine Triumphgemeinde über den Gringo zusammengeschlossen: Daß Brasilien mit Ronaldinho und Giovanni (der aus der Gegend stammt) unschlagbar ist, gilt als ausgemacht. Ich werde verspottet und verhöhnt, und an diesem tristen Abend feiert die Bar in dem abgelegenen Ort Amazoniens Brasilien, seine bisherigen und künftigen Titel. Als ich schließlich mit meinen spielverderberischen Hinweisen aufhöre – die WM hat ja noch gar nicht begonnen, Erinnerungen an die jüngsten Niederlagen gegen Argentinien und die USA(!) – und mich dumpfen Trinksprüchen ergebe, kippt die Stimmung. Ich werde allgemein bedauert, da ich aus einem Land komme, in dem man „futebol perna de pau“ (Holzbeinfußball) spiele, da wir keinen Romário, Ronaldinho, also keine cracks (oder craques auf gut portugiesisch) haben, und natürlich wird dem armen Kerl noch mehr Bier eingeflößt, um ihn angesichts solch verzweifelter Existenz etwas zu trösten.
Die kleine Episode enthält viele Elemente, die für die Stellung des Fußballs in Lateinamerika bezeichnend sind. Überall in der Welt hat Fußball mit Nationalismus oder zumindest mit nationalen Hochgefühlen zu tun. In Lateinamerika aber sind es geschundene Nationen, Völker, die marginalisiert sind und sich so fühlen, die sich in einigen Momenten nicht nur als Gemeinschaft von Hungerleidern, Gaunern oder Rumbatänzern wahrgenommen sehen. Nationale Identitäten in Lateinamerika sind aus verschiedenen Gründen oft prekär. In Brasilien, dem mit Abstand größten Land des Kontinents, bezeichnen sich die Menschen oft nicht als Brasilianer, sondern als baianos, mineiros, paulistanos etc. Daß im Inneren Amazoniens Brasilien gefeiert wird, ist keineswegs so selbstverständlich. In der Regel sieht man sich dort nicht gerne als Teil Brasiliens, fühlt sich von den „sulistas“, den Leuten aus dem „Süden“ Brasiliens (der bereits in Brasilia und Sao Paulo anfängt) systematisch verarscht.
Auch in Deutschland, Frankreich usw. ruft Fußball nationale Emotionen wach. Aber in „entwickelten“ Ländern ist der gesellschaftliche Zusammenhang viel stärker durch Institutionen vermittelt als in Lateinamerika. Sieg oder Niederlage mag schmerzlich sein, aber es ist nicht das zentrale Moment der Selbstdefinition. Es gibt gute Gründe für den Verdacht, daß dies in Brasilien, und nicht nur dort, anders ist. Ein brasilianischer Anthropologe und Fußballtheoretiker resümiert: „Wenn tatsächlich Karneval, Volksreligiosität und Fußball in Brasilien – im Unterschied zu Ländern in Europa und Nordamerika – grundlegend sind, dann sind die Quellen unserer sozialen Identität nicht zentrale Institutionen der sozialen Ordnung wie etwa Gesetze, Verfassung, das Universitätssystem oder die finanzielle Ordnung. Vielmehr sind es dann die Musik, das Verhältnis zu den Heiligen, die Gastfreundschaft, die Freundschaft, die Kameradschaft und natürlich Karneval und Fußball, die es dem Brasilianer erlauben, in einen permanenten Kontakt mit seiner sozialen Welt einzutreten.“

Könige und Horden

Ein gutes Beispiel für den zentralen Stellenwert des Fußballs für die Selbstdefinition als Nation lieferte die Tragödie Kolumbiens bei der WM 1994. Wir erinnern uns: In den Qualifikationsspielen trumpfte die kolumbianische Mannschaft mächtig auf. Als sie am 5.September 1993 die Argentinier in Buenos Aires mit 5:0 vom Platz fegten, ist plötzlich ein neuer Titelanwärter geboren. Dann die Ernüchterung bei der WM. Drei Spiele, zwei Niederlagen, darunter gegen die USA und ein unbedeutender Sieg gegen die Schweiz. Schließlich der absolute Tiefpunkt. Noch während die WM (ohne Kolumbien) weiterläuft, wird in Medellín Andrés Escobar erschossen, der im Spiel gegen die USA ein Eigentor fabriziert hatte. Darauf die kolumbianischen Wochenzeitschrift Semana: „Der Mord an Andrés Escobar bestätige als jüngste, nicht letzte Episode das wahre Wesen dieser Horde, auf deren Bezeichnung als Land wir beharren.“
Als Kontrast zu dieser mißlungenen Nationswerdung via Fußball, seien die euphorischen Worte des brasilianischen Dramatikers Nelson Rodrigues zitiert, die er nach dem WM Sieg 1962 in Chile schrieb: „Plötzlich erreicht der Brasilianer – vom armen Schlucker bis zum feinen Herren eine unerwartete und gigantische Dimension…Wir sind 75 Millionen Könige. Freunde, nach diesem Sieg will ich nichts mehr von Rußland oder den USA hören. Das ist die Wahrheit: Rußland und die Vereinigten Staaten beginnen der Vergangenheit anzugehören. Es war ein Sieg des brasilianischen Menschen, des größten der Welt. Heute hat Brasilien die Fähigkeit, eine Nation von Napoleons Größe zu schaffen.“
Nun, solche Euphorie mag heute befremdlich wirken, aber auch noch nach dem WM Sieg von 1994 titelt das seriöse Journal do Brasil: „Wir sind die Herren der Welt“. Das können natürlich so nur die sagen, die nie in Verdacht geraten, wirklich die Herren der Welt zu sein.

Vom Elitevergnügen zum Nationalsport

Der Aufstieg des Fußballs in Lateinamerika enthüllt ein spannendes und überraschendes Stück Sozialgeschichte. Überall begann der Fußball als Elitesport, eingeführt durch höhere Angestellte englischer Gesellschaften. Das erste klar bezeugte Fußballspiel auf brasilianischem Boden organisierte ein Brasilianer englischer Abstammung namens Charles Miller: The Sao Paulo Railway Team besiegt The Team OF Gas mit 4:2. In der Folge formieren sich die ersten Klubs, Treffpunkt der jungen Elite, die ausdrücklich Schwarze nicht zuließen, auch nicht auf dem Spielfeld.
Der Transformation des Fußballs vom Elite- zum Volkssport kann hier nicht im Einzelnen nachgegangen werden. Nur so viel: Es dürften wohl gerade funktionale Elemente des Fußballs sein, die ihn nicht nur in großen Teilen Lateinamerikas zu der modernen Sportart schlechthin gemacht haben. Im Gegensatz zur aristokratischen Betonung der Performance (etwa im Dressurreiten) ist Fußball durch seine Erfolgsorientierung geprägt. Er spiegelt die Leistungsorientierung einer modernen Industriegesellschaft wieder. „Siegen, Siegen, Siegen“, heißt es in der Hymne des populärsten brasilianischen Klubs – Flamengo – und auf diesen Siegeswillen steuert die Logik des Fußballs erbarmungslos zu.
Diese Erfolgsorientierung muß schließlich das elitär aristokratische Gefüge unterminieren: die Erfahrung zeigt, daß ein Klub, der bereit war alle Talente einzuspannen (zunächst die Arbeiter der Firmen, schließlich auch Schwarze) einfach erfolgreicher war als reine Oberschichten-Teams. Das Aufkommen des Fußballs erscheint damit als ein Moment der partiellen Industrialisierung und Proletarisierung der urbanen Zentren Lateinamerikas. Dabei ist er sicherlich nicht ein Reflex, sondern ein aktives Element – zumindest auf der ideologischen Ebene –eines langsamen und widersprüchlichen Prozesses. Die industrielle Moderne Lateinamerikas wächst in einer durch traditionelle Hierarchien geprägten Gesellschaft, die weder kulturell noch sozial auf die Industrialisierung eingestellt war. Das heißt, der Markt und seine universellen Gesetze leben in problematischer Symbiose mit den traditionellen Hierarchien.

Der Aufstieg der Schwarzen im Fußball

In dieser Konstellation steht der Fußball zumindest mit einem starken Standbein in der Sphäre der universellen Geltung, in der letztendlich die Leistung auf dem Feld zählt und nicht die gesellschaftliche Stellung außerhalb desselben. In einer noch hierarchisch-traditionell geprägten Gesellschaft ist das Fußballfeld wahrlich Spielwiese für Gleichheit und soziale Gerechtigkeit á la Kapitalismus. Diese doch recht abstrakten Ausführungen sollen nun an einem Beispiel dokumentiert werden.
In den Frühzeiten des brasilianischen Fußballs versuchte der Klub América (Rio de Janeiro), sein Team durch lokale Cracks zu verstärken. Bei der Talentsuche stieß man auf einen Seemann namens Manteiga (Butter), wohl wegen seiner „butterweichen „ Flanken so genannt. Manteiga wird angeworben und bei der Firma eines der Direktoren des Klubs beschäftigt. Als sich Manteiga für sein erstes Spiel beim neuen Verein umziehen will, verlassen andere Spieler die Kabine. Manteiga war schwarz. Neun Spieler der ersten Mannschaft treten aus dem Verein aus, um gegen den Einsatz des Schwarzen zu protestieren. Die Vereinsführung hält an Manteiga fest, der aber den Druck aufgrund des Wirbels um seine Person nicht aushält. Bei einer Reise Américas nach Salvador, der Hauptstadt des schwarzen Brasiliens und Heimatstadt Manteigas, setzt er sich ab und bleibt dort.
Am 13. November 1927 findet das Endspiel um die brasilianische Meisterschaft statt. Wie üblich stehen sich ein Team aus Rio und eins aus Sao Paulo gegenüber. Fußball ist inzwischen zu einer Massenveranstaltung geworden. Das Stadion von Sao Januário, zu seiner Zeit das größte Lateinamerikas, ist mit 50.000 Zuschauern gefüllt, unter ihnen der Präsident der Republik, Washington Luís. Was während dieses Spiels geschieht, beschreibt der Chronist des Aufstieges der Schwarzen im brasilianischen Fußball, Mário Fulho, folgendermaßen:
„Plötzlich ist das Spiel unterbrochen, es geht nicht weiter, der Schiedsrichter hat einen Elfmeter gegen Sao Paulo verhängt. Die Paulistas verlassen das Feld. Washington Luís bleibt ernst, er gibt einen Befehl an einen Offiziellen. Er gibt den Befehl, das Spiel solle weitergegehen, dies sei ein Befehl des Präsidenten der Republik.
Der Regierungsbeamte tritt aufs Feld, geht zu den Spielern Amílcar und Fetício. Und mit finsterem Gesicht übermittelt er die Botschaft: ‘Der Präsident der Republik hat den Wiederbeginn des Spiels angeordnet.’ Die Antwort von Fetício, einem ‘verstellten Mulatten’, der nicht mal der Kapitän des Teams aus Sao Paulo war, lautete, daß da oben, auf der Ehrentribüne, der Doktor Washington Luís seine Befehle geben könne, aber hier unten auf dem Feld sei er es, der befehle. Und um zu zeigen, daß dies nicht nur Worte waren, gab er ein Zeichen, und die Spieler aus Sao Paulo verließen hinter ihm den Platz. Washington Luís, Präsident der Republik, konnte nur weggehen, aufs äußerste verletzt.“
Zwischen beiden Episoden liegen nur einige Jahre, und sie markieren weniger eine gradlinige Geschichte als Extrempunkte in einem Feld von Konflikten. Die Diskussion etwa um die schwarzen Spieler wird endgültig erst 1958, durch den Aufstieg Pelés entschieden. Daß 1927 ein Farbiger dem brasilianischen Präsidenten so gegenüber treten konnte, zeigt, daß der Fußball in der Lage war, ein eigenes soziales „Feld“ zu erzeugen, das zumindest partiell eine Gegenerfahrung zu den traditionllen Hierarchien darstellte.

Die Originalität der Kopie

Fußball in Lateinamerika ist ein europäisches Erbe. Das zeigt sich auch heute noch in Klubnamen und Fachvokabular (chute – brasilianisch für Schuß, vom englischen shoot). Die Übernahme europäischer Gepflogenheiten ist keine Überraschung auf einem Kontinent, der Länder beherbergt wie Argentinien und Uruguay, die sich lange Zeit eher als verirrter Teil Europas sehen wollten, dessen Eliten sich den Eliten Europas näher fühlten als dem eigenen Volk. Jeder kennt in Südamerika den Kalauer, daß ein Argentinier ein Italiener ist, der spanisch spricht, ein Engländer sein möchte und dessen Eliten auch heute eher Miami und Paris heimsuchen als im eigenen Hinterland Urlaub zu machen. Aber den Fußball in Lateinamerika als pure Übernahme (quasi-)kolonialer Traditionen (wie Hockey in Indien und Pakistan) zu sehen, hieße gerade die Pointe des lateinamerikanischen Fußballs zu verkennen: Der lateinamerikanische Fußball ist anders als der europäische. Er hat die englische Balltreterei gründlich transformiert. Er insistiert auf der Originalität der Kopie – allerdings ist diese, seine angebliche Besonderheit heute gerade umstritten. Zitieren wir zunächst einen europäischen Zeugen, Nick Hornby, den Autor des besten Fußballbuches („Fever Pitch“) der letzten Jahre. Mitten in seinen Beschreibungen trostloser Spiele seines Vereins Arsenal London findet sich angesichts des WM-Sieges 1970 in Mexico ein kurzer Abschnitte über Pelé und den brasilianischen Fußball: „Es war jedoch nicht nur die Qualität ihres Fußballs, es war die Art, wie sie die unerhört raffinierte Verschönerung des Spiels so betrachteten, als sei sie ebenso funktional und notwendig wie ein Eckball oder ein Einwurf… Selbst die brasilianische Art, Tore zu feiern, war fremdartig, lustig und beneidenswert, alles zur gleichen Zeit. In gewisser Weise haben die Brasilianer es für uns alle verdorben. Sie hatten eine Art platonisches Ideal enthüllt, das für immer unerreichbar bleiben sollte, sogar für sie selbst.“

Futebol-arte oder herzloser Erfolg

Futebol-arte heißt die brasilianische Selbstqualifizierung, und in Argentinien hatte einst Cesar Menotti, der Trainer der Weltmeisterelf von 1978, die Parole vom „linken“ Fußball ausgegeben. Beide Konzepte sind alles andere als eindeutig oder unumstritten. Um diese Frage der Besonderheit des lateinamerikaischen Fußballs hat sich in den letzten Jahrzehnten eine große und populäre Debatte entspannt, die Grundfragen lateinamerikanischer Identität berührt. Wie bestimmt Lateinamerika sich in der heutigen Welt, in der „Moderne“. Ist es nur die Anpassung, die erbarmungslose Mimikry, die einen Platz in einer zunehmend vereinheitlichten Welt ermöglicht? Oder gibt es eine lateinamerikanische Besonderheit und kann sie sich behaupten? Die Beantwortung dieser Frage ist nicht so eindeutig wie es zunächst scheint. Natürlich sind Intellektuelle, Sportjournalisten und viele Fans zunächst Anhänger des futebol-arte. Aber dem Fußball ist eben auch die (fast) unbedingte Erfolgsorientierung zu eigen, und nach einigen Niederlagen mit futebol-arte verstärken sich immer wieder die Stimmen, die nach einem kühlen, erfolgsorientierten Fußball rufen. In Argentinien hatte Menottis Nachfolger Bilardo diesen „europäischen“ Fußball auf seine Fahnen geschrieben und wurde entsprechend von Menotti kritsiert: „Er tötet das Herz unseres Fußballs mit seiner Betonstrategie“, er wolle nur „Anpassung und Berechnung statt Emotion und Risiko“ . Aber als Bilardo Argentinien 1986 zum zweiten WM-Titel führte, verstummte solche Kritik.

Mit coitus interruptus zum Sieg?

Als Brasilien bei den WMs 1982 und 1986 mit technisch brillanten Teams ausschied, schlug die große Stunde der Anpasser. Schön gespielt, aber verloren – soll das unser Schicksal sein, sollen wir zum ewigen Scheitern in Eleganz verurteilt sein? Nein, sagte Lazaroni, der Trainer von 1990, verkündete die Ära Dunga (ein technisch mittelmäßiger Spieler) und den futebol de resultados – und verlor ebenfalls. Als es 1994 dann doch gut ging, mit einem weniger radikalen Konzept, aber doch mit einem ziemlich defensiven System, freute sich Brasilien über den Titel, doch die richtige Euphorie wollte nicht aufkommen. Die Folha de Sao Paulo schrieb, der Fußball des WM-Teams sei wie coitus interruptus.
Symptomatisch für eine solche Diskussion um den Fußball ist eine Reaktion des brasilianischen Trainers von 1994, Parreira, der auf die Frage eines französischen Journalisten, ob die brasilianische Mannschaft nicht übertrieben diszipliniert und organisiert spiele, antwortet: „ Ich habe verstanden. Ihr wollt das alte Brasilien, schlecht organisiert und improvisiert. Was ist falsch daran, sich zu organisieren? Wenigstens im Fußball, wenn es nach mir ginge, werdet ihr nie mehr ein unorganisiertes Brasilien sehen.“ Parreira wird über die Taktik seiner Mannschaft befragt und antwortet mit Reflexionen über Brasilien.
Fußball bietet ein Diskussionsfeld, das weit über ihn hinausgeht. In den unzähligen Fußballdiskursen (Artikeln, Fernsehkommentaren, Gesprächen) entwerfen Lateinamerikaner ein Bild davon, wie sie ihr Land sehen (möchten), entwickeln Utopien und Kritiken. Und sie diskutieren dabei das Verhältnis Lateinamerikas zum Rest der Welt. Offensichtlich ist die Polarisierung futebol-arte versus erfolgsorientierter Fußball eine der unzulässigen Vereinfachungen, zu der polarisierte Debatten neigen, aber sie markiert das Spannungsfeld der aktuellen Diskussionen. Ist der futebol-arte nur eine wehmütige Erinnerung, gar ein platonisches Ideal, wie Hornby meint? Diktiert die Globalisierung auch im Fußball? Oder hält sich dieser hartnäckige Rest, die Spielfreude, die ästhetische Wonne, die alegría?
Was wird nun in diesem scheinbar endlosen „Kampf zweier Linien“ die bevorstehende WM bringen? Einen weiteren Rundensieg des kalkulierten, rationalisierten Einheitsfußballs oder ein erneutes Aufflackern des „anderen“ Fußballs, der eine Hoffnung wachhält, daß das letzte Wort noch nicht gesprochen worden ist, weder in Lateinamerika noch anderswo?

Wer mehr zum Thema lesen will, sei ausdrücklich auf das Jahrbuch Lateinamerika 19, 1995 verwiesen. Teile dieses Artikels finden sich dort in dem Aufsatz „Das Vaterland der Fußballschuhe. Ein kleine Sozialgeschichte des brasilianischen Fußballs.“. Die Ausführungen über die kolumbianische Fußballtragöde basieren auf einem Aufsatz von Ciro Krauthausen im selben Jahrbuch. Das zitierte Buch von Nick Hornby ist bei KiWi erschienen und sei auch Nicht-Fußballfans zur Lektüre empfohlen.

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