Mexiko | Nummer 310 - April 2000

Sinn und Unsinn eines Streiks

Ein Versuch der Beurteilung des zehnmonatigen UNAM-Streiks in Mexiko-Stadt, der Anfang Februar durch die Bundespolizei gewaltsam aufgelöst wurde

Die Mystifizierung des Steiks als eine dynamische studentische Bewegung mit großer politischer Tragweite oder seine Diffamierung als brutales Machtspiel einer Horde von „ultras“, also den Studierenden, die den Verlauf des Streiks besonders in seinen letzten Monaten bestimmten, werden der Realität der Streikbewegung wenig gerecht. Das zumindest ist der Konsens wohl in jenen Kreisen, die dem Streik Sympathien entgegenbrachten, zwischenzeitlich aber an seinem Sinn zu zweifeln begannen. Dies soll auch die Perspektive dieses kurzen Resümees sein. Es speist sich vor allem aus persönlichen Erfahrungen vor Ort aus dem letzten Jahr, dem Austausch mit StudentInnen und Mitgliedern populärer Organisationen und den mehr oder weniger ergiebigen (e-mail-)Kontakten der letzten Monate.

Alexander Jachnow, Anne Becker

Am 20. April 1999 begann an Mexikos großer staatlicher Universität, der Universidad Nacional Autónoma de México (UNAM) der längste Streik seit ihrem Bestehen. Erst am 6. Februar 2000 kam es zu einem erzwungenen und vielleicht nur vorläufigem Ende. Dieses Ende bietet nun die Gelegenheit sich kritisch mit dem Streik auseinander zu setzen, seinen Sinn zu hinterfragen und seine Wirkung zu beurteilen, ohne eine klare Pro- oder Contraposition beziehen zu müssen. Doch ist es angesichts der verhärteten Fronten und vielen Facetten des Streiks keineswegs einfach, sich ein Bild zu machen.
Kritik soll nicht an jenem Streik geübt werden, der von der Mehrheit der Studierenden beschlossen worden war, und der als Reaktion auf die Privatisierungsversuche der öffentlichen Bildung begonnen hatte. Deshalb ist es nicht das Anliegen dieses Artikels weiter auf die jetzige Situation der UNAM einzugehen. Diese steht angesichts des geräumten Campus, der eingesperrten AktivistInnen und des bisher recht kläglichen Versuchs der Universitätsleitung zur Normalität zurückzukehren schon wieder unter ganz anderen Vorzeichen. Sie ist von einem erneuten Aufleben breiter Bündnisse zur Unterstützung der Streikenden, insbesondere der Inhaftierten, geprägt.
Für das Verständnis des Streiks erscheint es uns wesentlich, nicht Anfang und Ende oder die verschiedenen, verhältnismäßig wenigen „Höhepunkte“, sondern seinen Verlauf die ereignislosen Wochen und über die eingefrorenen Fronten zu betrachten.

Streikverständnis

Das Wesen eines jeden Streiks ist es, denjenigen unter Druck zu setzen, der am meisten von dem bestreikten Objekt profitiert. In der Wirtschaft ist das Objekt die Fabrik und der Geschädigte der Betreiber. In einem Bildungsstreik ist das Druckmittel zwar ebenso die Schädigung des Betreibers und dessen Ansehen, die Nachteile für die Streikenden sind aber ganz anderer Art: Sie bringen sich nicht um ihren Lohn, sondern um ihre Zeit, die sie bis zum Abschluss benötigen. Jeder (Uni-)Streik verlangt einen Grundkonsens: Der Betreiber (der Staat), die Leitung (das Rektorat) und die Streikenden (die StudentInnen) müssen gleichermaßen an der Wiederaufnahme der Lehrtätigkeit interessiert sein.
Die extrem lange Dauer der Campusbesetzung zeigt jedoch, dass dieser Grundkonsens nicht von allen akzeptiert wurde. Lager gab es in allen Parteien. Die Durchführung der extramuros, das heißt von Unterricht außerhalb des Campus, waren ein Kompromiss für diejenigen die schnell fertig werden wollten bzw. mussten – und eine erste Spaltung unter den Studierenden. Die Dauer des Streiks war es auch, die ihn immer mehr in eine Absurdität hineinmanövrierte, die kein Verständnis mehr fand.

Wem nützt der Streik?

In der Jornada, der größten, gemäßigt linken Tageszeitung des DF, wurde am 27. 1. 2000 von dem Historiker Pablo González Casanova die Frage aufgeworfen, wem denn der Streik nütze. Statt selbst eine Antwort darauf zu geben, kam die Gegenfrage: wem wird es nützen, wenn die UNAM wieder geöffnet wird? Allein aus dieser Abwägung erkennt man schon die verworrene Situation, die sich entwickelt hatte, und die alle schädigen musste. Bleibt die Frage, wem die Bestreikung der Uni hätte nutzen können. Das ist eine provokante Frage, die man gern zum Schluss stellt. Sie scheint in diesem Zusammenhang jedoch berechtigt zu sein, da es wichtig ist zu klären, ob die politische Landschaft Mexikos von diesem Streik hätte profitieren können.
Die Solidarität und Unterstützung von außen war nicht dynamisch genug, um tatsächlich ein neues Kapitel in der politischen Geschichte des Landes zu beginnen. Die linksoppositionellen Gruppen in Mexiko-Stadt und im Land hatten keine Möglichkeit sich mit den Zielen des Streiks über die grundlegenden Forderungen hinaus zu identifizieren. Der Konsens, dass Bildung öffentlich bleiben müsse, bot anfänglich die Basis einer großen Koalition. Als schließlich die Unterhändler die Annulierung der Studiengebühren anboten – und sei es auch, wie der Streikrat CGH behauptete, nur zur Täuschung – war diese breite Basis weg und machte gewissem Unverständnis Platz.
Dynamisch nach außen war der Streik selbst auch nur zu Anfang. Die UNAM – immerhin die größte Universität Amerikas – konnte nicht die Basis sein für eine breite Bewegung. Die Diskrepanz zwischen Öffentlichkeit und StudentInnen war groß und konnte, trotz vieler guter Versuche, kaum überwunden werden. In einer Vielzahl von Medien wurde eine massive Verleumdungskampagne gegen die Streikenden betrieben und die „AnführerInnen“ als universitätsfremde Personen diffamiert, die die Studierenden manipulieren würden. Aber auch der CGH vergraulte sich die Sympathie durch sein aggressives Auftreten gegenüber Journalisten. So ließ die eher antiintelektuelle Haltung der streikenden Generación Güey (siehe LN 308 Interview), und die Angst vor Vereinnahmung durch politische Kreise wie der PRD, weder viel Spielraum für eine Kommunikation mit den „Köpfen“ der offiziellen linken Opposition, noch wurden die Massen – la raza – erreicht. Die berechtigte Forderung nach Eigenständigkeit führte zur Isolation der Bewegung. Und spätestens seit September ließ das politische Wirken nach außen zugunsten der Beschäftigung mit sich selbst stark nach.

Macht und Machbarkeit

Ein Grund dafür war sicherlich die starke Identifikation der AktivistInnen mit den neu geschaffenen Umständen. Experimente wurden gemacht: mit neuen Strukturen, mit einer kollektiven Lebensform auf dem Campus und mit der Reizbarkeit staatlicher Instanzen. Es wurde aber auch mit den Möglichkeiten der Verweigerung, mit Zwängen und mit Konfrontation – und damit mit Macht experimentiert. Vom CGH als Ganzem, von seinen Gruppen und Gruppierungen und letztendlich von jedem einzelnen. Es ist schwierig zu beurteilen, wie basisdemokratisch, wie Konsensfähig oder wie dogmatisch der Streikrat war und ist. Für ein Resümee wäre es verheerend zu behaupten, es hätten sich in den über neun Monaten seiner Dauer nicht alle üblichen gruppendynamischen Prozesse abgespielt, die sich unter solchen Bedingungen entwickeln. Und das heisst neben Solidarität und Gemeinsinn auch Profilierungssucht, versteckte Hierarchien und Versuche, Andersdenkende auszubooten. Der CGH verlor nach und nach an Pluralität, da sich viele mit den internen Strukturen nicht mehr identifizieren konnten oder sich diskriminiert fühlten. Gleichzeitig sorgte die zweifelhafte Persönlichkeit mancher Anführer unter den StudentInnen, aber auch unter dem Rest der Bevölkerung, für Misstrauen. Ohne in die Falle der die ganze Zeit brodelnden Gerüchteküche tappen zu wollen, kann man davon ausgehen, dass einige Köpfe der Bewegung mit der PRI gemeinsame Sache gemacht haben und angehalten wurden einer Dialoglösung auch von innen entgegen zu wirken.

Ausweglose Situation

Trotz dieser massiven Kritik soll hier nicht der Versuch unternommen werden, den gesamten Streikrat als eine Art Selbsterfahrungsgruppe oder noch schlimmer als eine Art Verschwörungsorgan darzustellen. Denn die unvorstellbare Hetze, die Repression und die inszenierten Übergriffe wogen schwer. Sie hatten die aktiven Studierenden leiden lassen und sie quasi von Anfang an verbittert. Die Medien logen, AktivistInnen wurden verschleppt und schwer misshandelt, einige sogar ermordet.

Wunsch nach Gerechtigkeit

Angesichts dieser Situation wuchs der Wunsch nach Gerechtigkeit: Danach, dass die ganze Bevölkerung begreife, um was es geht und was alles wirklich geschehen ist. Dass nicht nur ein Kompromiss gefunden wird, sondern sich etwas nachhaltig verändert.
Gleichzeitig verbirgt sich hinter den Äußerungen, man wolle zum „Märtyrer“ werden oder „Geschichte machen“ nicht der platte Stumpfsinn einiger StudentInnen, sondern ein Ausdruck von Fatalismus, ein Ausdruck davon, in diesem System nichts mehr zu verlieren zu haben oder an nichts mehr zu glauben. Diese Aussagen sind damit auch die Antwort auf eine soziale und politische Realität. Der Zustand des noch nicht entschiedenen Kampfes und das Eintreten für ihre Forderungen macht in einem solchen Moment viel mehr Sinn. Der Kampf, weil er immer die Möglichkeit eines Sieges mitdenkt und die Forderungen, weil sie zu einem Teil Streikidentität wurden. Wie dieser Sieg hätte konkret aussehen sollen, spielt dabei vielleicht gar keine so große Rolle. Aber mit diesen Sehnsüchten war man in eine ausweglose Situation geraten, die die Angst vor der Rückkehr zur Normalität bestärkte.
Von Ausweglosigkeit zu reden unterstellt, dass die Forderungen niemals hätten erfüllt werden können – trotz der diversen Zusagen der staatlichen Stellen. Ein fast pathologisches Misstrauen, selbst gegenüber verbindlichen Angeboten oder integeren Personen hat die Verhandlungen bis zur Unmöglichkeit erschwert. Die Schwierigkeit, in einem eigentlich rechtsfreien Raum Verbindlichkeiten zu regeln, erklärt die Haltung der Streikenden. Die PRI ist nicht nur Staatsregierung, sie ist der Staat. Die latente Rechtsbeugung rechtfertigt jedes Misstrauen gegenüber den staatlichen Stellen. Der noch amtierende Staatspräsident Zedillo war als Mann der Gesetze angetreten, er wollte die Vetternwirtschaft und Korruption, die eine besondere Blüte unter seinem Vorgänger Salinas gehabt hatten, bekämpfen. Viel ist nicht passiert. Die Demokratisierung des Landes ist wieder eindeutig rückläufig. Das bietet keine gute Vertrauensbasis.
Auch das die Oppositionspartei PRD zur Zeit die Stadtregierung stellt, konnte den CGH nicht verhandlungsbereiter machen. Ihr fehlte jede klare Haltung gegenüber den Streikenden.
Das Ausland hat sich als Beobachter oder gar als Garant für die Erfüllung der Zusagen immer wieder disqualifiziert. Die wirtschaftlichen Verflechtungen mit der Welt verhindern zusätzlich die Kritik an der mexikanischen Regierungspolitik. Zudem kann man in Sachen neoliberalistischer Bildungspolitik kaum vom Ausland erwarten, dass es sich gegen die Einführung von Studiengebühren in Mexiko aussprechen würde.
Insofern war die polizeiliche, gewalttätige Räumung des Campus eigentlich abzusehen. Der harte Kern der Streikenden hatte sie selbst provoziert. Denn es ließen sich immer weniger Indizien dafür finden, dass sie an einer Beendigung der Besetzung interessiert gewesen wären.
Der Sonderfall Mexiko führte zu der paradoxen Situation, dass mit demokratischen Spielregeln verhandelt wurde, beide Seiten sich aber bewusst waren, dass dazu die Basis fehlte. In Umkehrung einer populären Parole also: no se puede – es geht nicht.
Das Konzept des Streikrats war es auch schon lange nicht mehr, einmalig bessere Studienbedingungen für ein kostenloses Studium auszuhandeln, sondern in die Hochschulpolitik eingebunden zu werden, als autonome, außerparlamentarische Opposition. Die Installierung einer solchen „Kontrollinstanz“ hätte vielleicht eine gewisse Garantie für die Einhaltung der Verhandlungsergebnisse darstellen können. Doch ist auch diese Chance vertan.
VerliererInnen sind besonders diejenigen, deren Verteidigung sich die AktivistInnen auf die Fahnen geschrieben hatte: die mittellosen StudentInnen, die sich die Gebühren nicht hätten leisten können. Viele von diesen konnten sich auch den Verlust von zwei Semestern nicht leisten: einige brachen ihr Studium ganz ab.
Es ist anzunehmen, dass über Jahre hinaus die meisten Studierenden der UNAM nicht mehr für einen Streik votieren würden, selbst, wenn im nächsten Sexenio, also der neuen Amtszeit des im Juli zu wählenden Präsidenten, ein neuer Versuch gemacht wird, Studiengebühren zu erheben. Die Erfahrung, die mit einem Gefühl der Macht und Machbarkeit begonnen hatte, ist traumatisch geworden. Die Apolitisierung und Selbstfixierung der meisten mexikanischen Jugendlichen hat durch den Streik eher zu- als abgenommen.
Ob nun die neoliberalistischen Kräfte davon profitieren werden, sei allerdings dahingestellt. Denn auch sie haben Prellungen davon getragen und ein neuer Angriff auf die öffentliche Bildung scheint zumindest erst einmal vom Tisch.
Siege hat keiner zu feiern. Schade für den Streik.

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