Literatur | Nummer 293 - November 1998

Skandalöse Herrlichkeit

Die neuen „Analysen und Berichte“ bieten eine Aussicht auf die Mächtigen Lateinamerikas – für einen Panoramablick hat es nicht gereicht

Von einem Skandal ist die Rede: Noch nie war die Konzentration des Reichtums und der ökonomischen Macht in Lateinamerika so überwältigend wie heute, betonen die HerausgeberInnen des neuen Jahrbuchs „Lateinamerika – Analysen und Berichte 22“, das unter dem Titel „Die Macht und die Herrlichkeit“ im Horlemann Verlag erschienen ist. Die skandalöse Kluft zwischen den „Mächtigen und Herrschenden“ und den Armen und Ohnmächtigen werde jedoch durch ein Zweites auf die Spitze getrieben: Begriffe wie „Macht“ oder „Herrschaft“ gälten, nachdem der Neoliberalismus seine Eigendefinition als „technisch“ und „vernünftig“ erfolgreich etabliert hat, in den Sozialwissenschaften wie in der Politik als „ausgesprochen unfein, unseriös und unmodern“. Dieses Tabu zu brechen und diejenigen beim Namen zu nennen, deren Macht und Herrlichkeit für die Misere in ihren Ländern verantwortlich ist, hat sich das kritische Jahrbuch zur Aufgabe gemacht – oder zumindest versucht.

Claudius Prößer

Die Schwächen liegen dabei nicht in der Qualität der einzelnen Analysen. Vielmehr können diese exemplarischen Betrachtungen in ihrer Gesamtheit nicht die Erwartungen erfüllen, die das Editorial weckt – sie bleiben Stückwerk, zeichnen aber bisweilen auch ein differenzierteres Bild, als dies die Einleitung vermuten ließe.
Dies läßt sich bereits am ersten Beitrag festmachen. Ulrich Goedeking verfolgt historische Kon-tinuitäten und Verschiebungen innerhalb der bolivianischen Oligarchien und politischen Eliten. Zwar kam es immer wieder zu Dominanzverlusten bestimmter Gruppen – etwa durch die radikale Umstellung des Exportproduktes – aber selbst die Revolution von 1952 hatte letztendlich nur eine neue politische Elite etabliert und den Zugang der indigenen Mehrheit zu den Sphären der Macht blockiert. Um so erstaunlicher ist insofern, daß die neoliberale Politik eines Gonzalo Sánchez de Losada (1993-1997) mit der Herausbildung einer „modernen“ politischen Elite und mit einem Reformpaket einherging, das Dezentralisierung und eine stärkere Beteiligung aller Gesellschaftsgruppen (par-ticipación popular) anstrebte. Besonders interessant ist dabei die Tatsache, daß die gonistas, Präsident „Gonis“ junges Technokratenteam, die Rolle der indígenas neu bewerteten, ja sogar – was bislang undenkbar war – einen Aymara zum Vizepräsidenten machten. Die gonista-Elite, so Goe-deking, die sich selbst als unpolitisch von den traditionellen Parteien abgrenzte, habe trotz aller tatsächlichen Beschränkungen „einen demokratisierenden Stein ins Rollen“ gebracht, dessen volle Konsequenzen heute noch nicht absehbar seien. Kein Musterbeispiel also für eine Elite, die allein auf die rücksichtslose Wahrung ihrer Herrschaftsinteressen fixiert ist.
Peter Imbusch beschreibt in seiner Analyse die überaus erfolgreiche Verankerung der „Minimalstaatsideologie“ und des Konsumismus in den Köpfen der ChilenInnen und ihrer politischen Reprä-sentantInnen, durch welche die fast lückenlose Vermarktwirtschaftlichung der chilenischen Ökonomie und Gesellschaft erst zum Naturgesetz geadelt wird. Imbusch untersucht dabei insbesondere die Rolle der Unternehmerschaft, die sich selbst als Protagonistin des Strukturwandels begriffen hat und begreift. An mehreren Fällen zeigt er den außerordentlichen Einfluß auf, den sie bei der Aushandlung von Reformen unter den Regierungen Aylwin und Frei zu ihren Gunsten geltend machen konnte. Freilich verrät seine solide Untersuchung des Transitionsprozesses und der fortbestehenden „autoritären Enklaven“ wenig Neues über die chilenischen Zirkel der Macht. Ein tieferer Einblick in die Strukturen der Unternehmeroligarchie, die ja unter der Schockpolitik der Chicago-Boys selbst radikale Ein- und Umbrüche hatten erleben müssen, oder des aristokratisch-elitären Militärs wäre dem Anspruch des Jahrbuches eher gerecht geworden.

Ungebrochener Hang zur Überausbeutung

Dies gelingt dem Beitrag der spanischen Journalistin María Dolores Albiac, die El Salvadors „Reichsten der Reichen“ unter die Lupe nimmt. Sie zeichnet den Werdegang der traditionellen oligarchischen Familienclans und der neuen wirtschaftlichen Elite nach und zeigt auf, daß das salvadorianische Großkapital trotz aller historischen Verwerfungen seine Vormachtstellung ausbauen konnte. Auch wenn die unvollständige Agrarreform von 1980 sowie die Verstaatlichung und Reprivatisierung wichtiger Wirtschaftszweige manche Familien aus dem Zentrum der Macht beförderte und andere dort installiert hat, bildet immer noch eine überschaubare Nomenklatura den Kern der wirtschaftlichen und politischen Macht. Charakteristisch, so Albiac, sei für diese Gruppe immer der „Hang zur Überausbeutung von Mensch und Natur und die abgrundtiefe Abneigung gegen jegliche Form der Umverteilung“ geblieben.
Dem Geschlechterverhältnis in der peruanischen Oberschicht widmet sich Lioba Kogan. Sie beschreibt diese kleine und erlesene Gruppe als ein Mosaik aus unterschiedlichen ethnischen Einwanderer-“Kolonien“ sowie alten und neu(reich)en Eliten, deren Mechanismen der Klassenerhaltung – unangefochten von den modernen Kommunikationsformen und -technologien – auf hermetischen Sozialisationsmustern basieren. Religiöse Privatschulen, Heiratsallianzen und Clubs bilden dafür die institutionelle Basis. Leider beleuchtet Kogan diese Zusammenhänge viel zu kurz, um dann ausführlich die Reproduktion der Geschlechterrollen zu betrachten, die in Peru immer noch auf den Normen vergangener Jahrhunderte zu beruhen scheint. Im Kontext dieses Jahrbuches wäre eine eingehendere Untersuchung der Frage, warum gerade die peruanische upper-class ihren strengen Wertekodex so lange konserviert hat, aufschlußreicher gewesen.

Korruption dies- und jenseits des Staates

Die US-amerikanischen Politologen Luigi Manzetti und Charles Blake beleuchten die Funktionsweise der Korruption in Zeiten von Privatisierung und Deregulierung. An den Beispielen Argentiniens, Brasiliens und Venezuelas machen sie deutlich, daß die Entstaatlichung in diesen Ländern eben nicht die Korruption hat einschränken können. Vielmehr boten wirtschaftliche Krisensituationen, Strukturanpassung und die damit meist einhergehende Erweiterung der Entscheidungsbefugnisse an der politischen Spitze den fruchtbaren Boden für unkontrollierte Manipulation bei Privatisierungsmaß-nahmen oder Auftragsvergabe. Daß Carlos Menem nicht – wie Collor de Melo und Carlos Andrés Pérez – Opfer seiner Machenschaften wurde, lag vor allem an seinem anfänglichen Erfolg bei der Bewältigung der Wirtschaftskrise. Die Autoren sind zwar nicht der Ansicht, daß Marktreformen per se Korruption begünstigen, sie betonen aber, daß nur damit einhergehende Kontrollmechanismen die Transparenz und Sauberkeit eines solchen Vorgangs garantieren können.
Der niederländische Soziologe Dirk Kruijt wirft die Frage auf, weshalb das Militär in Lateinamerika trotz seiner schwindenden Daseinsberechtigung in vielen Ländern einen überproportionalen politischen und wirtschaftlichen Einfluß ausübt. Er versucht, die traditionelle Schlüsselstellung der Streitkräfte anhand ihrer Doktrin nationaler Sicherheit und Stabilität zu erklären, die sie in ihrem Selbstverständnis zu einer quasi-pädagogischen Institution angesichts zerrütteter Zivilgesellschaften machten. Besondere Aufmerksamkeit widmet er der Ambivalenz der „militärischen Intellektuellen“, die einerseits für die Errichtung funktionierender Repressionsapparate in Diktaturen sorgten, bisweilen aber auch – wie in Peru – ihre Thesen zur nationalen Sicherheit mit dem entwicklungspolitischen „ZentrumPeripherie-Ansatz“ der CEPAL verknüpften. Kruijt schildert ausführlich die Rolle des Militärs in den Bürgerkriegen Perus und Guatemalas, verzichtetaber damit auf eine umfassendere Synopse, die die Überschrift seines Beitrags „Militär und Ge sellschaft in Lateinamerika“ doch nahelegt.
Aufstieg, Debakel und schleichende Rehabilitierung des argentinischen Militärs untersucht schließlich Melanie Quandt. Angelpunkt ihrer Analyse ist die neuentfachte Debatte über die gravierenden Verbrechen der letzten Diktatur. Quandts These lautet, daß die Alfonsín-Regierung trotz all ihrer das Militär betreffenden Disziplinierungsmaßnahmen und auch angesichts aller gebotenen Vorsicht ihren politischen Handlungsspielraum nicht ausgeschöpft habe. Der Menem-Regierung wirft Quandt die Bestrebung vor, neben der faktischen Straflosigkeit für die Täter der Diktatur wieder die polizeilichen und militärischen Zugriffsrechte auf die politische und soziale Opposition auszudehnen. Dies verschaffe den Streitkräften staatlicherseits neue Legitimität.

Kein Rezept gegen die Macht

Für sich genommen sind die Beiträge des Jahrbuches allesamt lesenswert. Schon deshalb – und wegen der fundierten Länderberichte, die den Band in gewohnter Manier ergänzen – sei der Kauf empfohlen. Fraglich bleibt jedoch der Anspruch des HerausgeberInnenteams, mit der getroffenen Auswahl der Texte ein auch nur annähernd rundes Bild der „Macht und Herrlichkeit“ zu entwerfen. Fragen, die das Editorial aufwirft – nach der Rolle des Auslandskapitals, der Medien, der Kirche, des Drogengeschäftes – werden nur am Rande oder gar nicht beantwortet; viele Analysen beleuchten zwar eingehend einen spezifischen Fall, verweisen aber zu wenig auf ein Ganzes. Daß der Band – wie im Klappentext angekündigt – nach den Chancen frage, wie wirtschaftliche und politische „Macht und Herrlichkeit zu kontrollieren, zu begrenzen und zu überwinden“ sei, stellt sich in der Realität als viel zu ambitiös heraus.
Und was hat eigentlich Fidel Castro auf dem – leider schon wieder neu gestalteten – Umschlagbild zu suchen? Über seine ganz besondere Spielart der Macht und Herrlichkeit findet sich im Buch kein Wort.

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