Argentinien | Nummer 455 - Mai 2012

So argentinisch wie Tango und Mate

Die Afro-Argentinier_innen im Kampf um Anerkennung und gegen Rassismus

Dass in Brasilien oder der Karibik große Anteile der Bevölkerung afrikanische Wurzeln haben, ist weitläufig bekannt. Aber dass aktuellen Schätzungen zufolge auch zwei Millionen Argentinier_innen der gleichen Herkunft sind, erscheint wie ein gut gehütetes Geheimnis. Einst aus Afrika an den Río de la Plata entführt und versklavt, kämpften sie für die argentinische Unabhängigkeit und prägen bis heute die Kultur des Landes. Doch während den weißen Unabhängigkeitsheld_innen Denkmäler gesetzt wurden, fanden die Afrikaner_innen keinen Platz in den Geschichtsbüchern und müssen um Anerkennung ihrer Rechte kämpfen.

Mirko Petersen

„Nach mehr als 400 Jahren auf diesem Territorium werden wir immer noch gefragt, wo wir denn eigentlich herkommen. Jemandem mit europäischen Wurzeln passiert das nicht.“ Mit entschlossener Stimme fügt Marcelino Santos hinzu: „Wir sind genauso argentinisch wie Tango und Mate!“ Mit seinen Statements bringt der Aktivist vom afro-argentinischen Verband „Freunde der kapverdischen Inseln“ auf den Punkt, womit Argentinier_innen mit afrikanischen Wurzeln tagtäglich konfrontiert werden: Unwissen, Ignoranz, Diskriminierung, Marginalisierung.
Marcelino Santos spricht auf der zweiten „Nationalen Konferenz der Afrikanischstämmigen in Argentinien“, die am 16. und 17. März 2012 in Buenos Aires stattfand und deren Ziel im Untertitel formuliert wurde: „Hin zu einer Implementierung von Politik für Afrikanischstämmige“. Die Konferenz wurde von verschiedenen afro-argentinischen Verbänden organisiert. Unterstützung erhielten sie vom Ministerium für soziale Entwicklung sowie vom staatlichen Institut gegen Rassismus und Xenophobie INADI. Afro-argentinische Aktivist_innen aus zehn verschiedenen Provinzen des Landes waren angereist und verschiedene Gastredner_innen konnten für die Veranstaltung gewonnen werden. Sandra Chagas von der „Afrokulturellen Bewegung“ betonte im Gespräch mit den Lateinamerika Nachrichten: „Die Konferenz ist besonders wichtig, um uns treffen und beraten zu können. Die Konferenz ist unsere Zukunft!“ Dass diese Zusammenkunft in einem offiziellen Rahmen stattfinden kann, ist bereits ein Erfolg, der vor wenigen Jahren noch nicht abzusehen war. Die Situation der Afro-Argentinier_innen ist bis heute wenigen bekannt und ihre Geschichte wird selten erzählt.
Der Widerstand der indigenen Bevölkerung und die dünne Besiedlung von Teilen Lateinamerikas – welche auch auf Grund eingeschleppter Krankheiten aus Europa entstanden war – führte zu einem Mangel an Arbeitskräften. Daher begannen die spanischen und portugiesischen Kolonisatoren ab dem 16. Jahrhundert in großen Teilen Lateinamerikas aus Afrika entführte Menschen zu Sklavenarbeit einzuschiffen, so auch in der Region des Río de la Plata, in den heutigen Staaten Argentinien und Uruguay. Bei der Ausbeutung von Bodenschätzen und in der Landwirtschaft leisteten sie unmenschliche Schwerstarbeit. Mariela Gabriela Pérez, Künstlerin sowie Aktivistin beim INADI, warnt vor einer Verharmlosung der Geschichte bei der heutigen Betrachtung: „Der Völkermord an den Afrikanern in Amerika muss als solcher anerkannt werden. Es wird zwar von unseren Leiden gesprochen, aber das wahre Ausmaß kommt dabei auf nationaler und internationaler Ebene nicht zum Ausdruck.“
Die Versklavten spielten bei der Verteidigung Argentiniens während der Invasion Großbritanniens in den Jahren 1806 und 1807 eine wichtige Rolle. Ebenso waren sie maßgeblich am Erringen der Unabhängigkeit Argentiniens von Spanien im Jahre 1810 beteiligt. Später gingen allerdings andere als Unabhängigkeitsheld_innen in die Geschichtsbücher ein. Von einer Beteiligung der afro-argentinischen Bevölkerung wollte niemand mehr etwas wissen. Die Sklaverei wurde zwar abgeschafft, aber der soziale Status der Afrikanischstämmigen verbesserte sich kaum. Im Krieg gegen Paraguay (1865-1870) wurden sie von der Militärführung als Kanonenfutter an die Front geschickt und auch infolge von Epidemien, insbesondere des Gelbfiebers, ließen viele ihr Leben. Einige wanderten ins benachbarte Uruguay aus, da das politische Klima für sie dort angenehmer war. Durch all diese Aspekte sank die Zahl der afrikanischstämmigen Argentinier enorm.
Doch die Behauptung, dass es keine schwarzen Argentinier_innen mehr gäbe, ist schlicht falsch. Trotz ihrer bewussten Marginalisierung hinterließen die Afrikanischstämmigen in der regionalen Kultur deutliche Spuren. Unter anderem ist eines der vielleicht bekanntesten Symbole Argentiniens, der Tango, aus ursprünglich afrikanischen Zeremonien und Festen hervorgegangen. „Wir waren der Motor in der Konstruktion dessen, was sich heute Argentinien nennt“, hebt Marcelino Santos hervor. „An allen Ecken und Enden lässt sich der afrikanische Einfluss entdecken: in der Musik, im Essen, im Tanz, im argentinischen Spanisch und in vielem mehr. Das Traurige ist, dass die positiven Aspekte unserer Präsenz in fast keinem Dokument festgehalten sind. Die argentinische Geschichte muss neu geschrieben werden, damit uns der Platz zugewiesen wird, der uns zusteht.“
Die meisten Afro-Argentinier_innen, leben heute in den nordöstlich gelegenen Provinzen Santiago del Estero, Tucumán, Santa Fe, Catamarca und Corrientes. Ihre soziale Situation ist meist von Armut und Diskriminierung bestimmt. Viele der Kinder mögen aus Angst vor Beleidigungen kaum zur Schule gehen. Ein großer Teil der Gesellschaft assoziiert die Afro-Argentinier_innen lediglich mit den Berufen der Kuchen-Verkäufer_in, der Tellerwäscher_in und der Reinigungskraft. Im Kampf gegen diese Stereotype sowie gegen unwürdige Lebensbedingungen wurden jedoch in den letzten Jahren erste kleine Schritte nach vorn getan.
Seit den Präsidentschaften Néstor und Cristina Kirchners und deren starker Akzentuierung der Menschenrechtspolitik haben die Afro-Argentinier_innen mehr Möglichkeiten erhalten, sich in Debatten einzubringen und sich besser zu organisieren. Der Kirchnerismus kümmert sich mit Nachdruck um die Umsetzung von anti-diskriminatorischen Maßnahmen, die auf der Welt-Konferenz gegen Rassismus im südafrikanischen Durban im Jahre 2001 beschlossen wurden. Als einen ihrer größten Erfolge sehen die Afroargentinier_innen an, dass die Frage nach afrikanischen Wurzeln 2010 in den nationalen Zensus aufgenommen wurde. Um ihre ökonomischen, kulturellen, sozialen, zivilen und politischen Rechte in ihren jeweiligen Heimatländern zu fördern, hat die Generalversammlung der UN das Jahr 2011 zum internationalen Jahr der Afrikanischstämmigen weltweit erklärt. In diesem Kontext schuf der INADI das Programm „Afrikanischstämmige gegen Diskriminierung, Rassismus und Xenophobie“, um auf die Afro-Gemeinschaft aufmerksam zu machen und ihnen eine vollwertige Staatsbürgerschaft zu garantieren (siehe Kasten).
Doch auch wenn die jetzige Regierung mehr als jede andere zuvor auf diesem Gebiet handelt, sind die Fortschritte überschaubar. Aus Sandra Chagas Worten ist ein deutlich gedämpfter Optimismus herauszuhören: „Trotz der Verbesserungen seit 2003 bleibt die Realität weit hinter unseren Bedürfnissen zurück. Es gibt immer jemanden, der einem das Leben schwer macht, so zum Beispiel die Regierung der Stadt Buenos Aires, die uns 2009 grundlos dazu zwang, das Gebäude zu räumen, in dem unser afrikanisches Kulturzentrum beheimatet war.“
Die Afro-Argentinier_innen möchten kein Mitleid ernten, sondern fordern lediglich, die gleichen Rechte wie andere Argentinier_innen zu bekommen. Marcelino Santos macht zudem darauf aufmerksam, wie absurd es sei, sie wie anthropologische Untersuchungsobjekte und nicht wie eine soziale Bewegung zu behandeln: „Für uns ist es wichtig, dass auch alle weißen Journalisten und Wissenschaftler uns nicht wie ein Relikt der Vergangenheit behandeln. Wir brauchen hier und jetzt staatliche Instrumente, die unsere Lebenssituation verbessern.“
Um genau diese Instrumente zu verbessern und auszubauen, wurde als Ergebnis der zweitägigen nationalen Konferenz dieses Jahres ein Dokument präsentiert. Darin wurden konkrete Vorschläge an die Politik gemacht und diese wurden an die Ministerin für soziale Entwicklung, Dr. Alicia Kirchner, weitergeleitet. Aufbauend auf ihren bisher erzielten Erfolgen, werden die Afro-Argentinier_innen ihren Kampf für Anerkennung und gegen Rassismus fortsetzen. Sie wollen ihren Teil dazu beitragen, dass die alte argentinische Logik durchbrochen wird, nach der auf der einen Seite Europäer_innen die Zivilisation und Gauchos, Indigene und Schwarze die Barbarei darstellen.

Infokasten:

Zentrale Ziele der afro-argentinischen Bewegung

Schaffung und Förderung von Programmen zur Einbindung der Afro-Argentinier in den Bereichen Arbeit, Gesundheitswesen und Bildung // Strategien zur Sensibilisierung und Schulung der Gesellschaft in Bezug auf das Thema der Afro-Argentinier, besonders im Bildungsbereich // Neubewertung der geschichtlichen Rolle der Afrikaner in der Entstehung der argentinischen Nation // Schaffung eines Hauses der afrikanischen Kultur // Anerkennung der afrikanistischen Religionen durch den Staat Argentinien// Anerkennung der Candombe (traditionelle Trommel) als wichtigen Bestandteil der afro-argentinischen Kultur // Stärkung des Einflusses bzw. der Mitarbeit der Afro-Gemeinschaft in verschiedenen staatlichen Bereichen // Ausbau des internationalen Kampfes gegen Rassismus und Diskrimination, gemeinsam mit anderen sozialen Bewegungen.

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