SO WIRD GESCHICHTE GESCHRIEBEN
Historisches Urteil entkriminalisiert in Ecuador Abtreibungen nach Vergewaltigungen
“Entscheiden ist mein Recht” Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrrüchen jetzt! (Foto: Karen Toro)
Es scheint skandalös, aber trotz einer langjährigen Debatte über Frauenrechte und des unermüdlichen Kampfes von Aktivist*innen und feministischen Organisationen, blieb in Ecuador bis 2014 ein Strafrechtskodex von 1938 bestehen, wonach eine Abtreibung nur erlaubt war, wenn die Schwangerschaft eine Gefahr für die Gesundheit oder das Leben der Mutter darstellte, oder wenn es sich um eine Vergewaltigung einer „geisteskranken oder idiotischen Frau“ handelte. „Geisteskrank oder idiotisch“, so stand es im Gesetz.
Bereits 2013 wurde die Entkriminalisierung von Abtreibung nach einer Vergewaltigung und die Reform des Strafgesetzbuches in der ecuadorianischen Nationalversammlung debattiert. Paola Pabón, derzeitig Abgeordnete von Rafael Correas Partei Allianz des Landes (AP), stellte den entsprechenden Antrag, welcher von 20 ihrer Mitstreiter*innen unterstützt wurde. Die Artikel 149, welcher das Strafmaß für medizinisches Fachpersonal regelt, das die Abtreibungen durchführt sowie der Artikel 150, welcher die Ausnahmen für eine Abtreibung nach einer Vergewaltigung darlegt, sollten für verfassungswidrig erklärt werden.
Die Reaktion darauf war von Zensur und patriarchalen Drohungen geprägt. Unmittelbar nachdem der Antrag gestellt wurde, hielt der damalige Präsident Rafael Correa eine frauenfeindliche Rede im nationalen Fernsehen und sagte, er würde sein Amt niederlegen, wenn seine Partei „diesen Verrat“ vorlegen würde. Am nächsten Tag war es offiziell: Pabón zog den Antrag vor dem Plenum zurück – im Namen der innerparteiischen Einigkeit. Schlussendlich wurde während Correas Amtszeit lediglich die Formulierung „geisteskrank oder idiotisch“ (Artikel 150 Strafgesetzbuch, Paragraf 2) durch „Frauen mit geistiger Behinderung“ ersetzt.
Was Correa damals als Sieg betrachtete, war in Wirklichkeit ein durch Angst und politische Gewalt erzwungener Sieg und markierte den Beginn neuer Strategien und Aktionen der feministischen Bewegung.
Präsident Rafael Correa würgte Bestrebungen ab, das Abtreibungsrecht zu liberalisieren
Nur rund 11 Prozent der Taten werden angezeigt
Die Staatsmacht kümmert sich nicht um die 14 Mädchen unter 14 Jahren, die in Ecuador jeden Tag in Folge einer Vergewaltigung schwanger werden. Auch die Tatsache, dass bei der Staatsanwaltschaft jeden Tag elf Anzeigen wegen Vergewaltigung eingehen, wobei 95 Prozent der Täter zum engen Kreis der Opfer und Überlebenden gehören, wurde ignoriert. Der Regierungsapparat verweigerte die Gelder zur Ausführung des „Integralen organischen Gesetzes zur Verhinderung und Beseitigung von Gewalt gegen Frauen“ und kümmerte sich nicht um die zerstörten Lebensentwürfe der Opfer. Die Frauen vergaßen dies nicht. Sie würden – mit erhobenen Fäusten – ein neues Kapitel schreiben.
Sie hätte davon träumen können, Ärztin oder Sängerin zu werden. Sie hätte daran denken können, nachmittags mit Freund*innen zu spielen, sie hätte die Abenteuer genießen können, die das Leben lebenswert machen. Stattdessen wurde Lucía mit 14 Jahren dazu gezwungen, Mutter zu werden. Sie lebte mit ihren vier Schwestern und Brüdern, ihrer Mutter und ihrem Stiefvater zusammen. Statt von ihrer Familie umsorgt und beschützt zu werden, erlebte Lucía furchterregende Nachmittage allein mit dem Mann ihrer Mutter. Eines Tages gab ihr Stiefvater ihr dann einen Drink, um sie zu betäuben und zu vergewaltigen. Es gelang Lucía nicht, dieses schreckliche Kapitel aus ihrem Leben verdrängen und zu vergessen, wie auch, wo sie schwanger war? Sie konnte nicht zur Schule zurückkehren, hatte keine Betreuungsmöglichkeiten für ihr Kind und konnte keine Therapie machen, um das Trauma des Missbrauchs zu überwinden. Wusste der Staat, was sie, eine Überlebende, und ihr Kind, im Stillen durchlebten, während der Angreifer auf freiem Fuß war? Ja, der Staat wusste es und sah tatenlos zu.
Die Zahlen sprechen für sich: 2019 erschienen mehr als 4.000 schwangere Mädchen zu ihrem ersten Vorsorgetermin. Im Jahr 2020, mitten in der Pandemie und mit eingeschränktem Zugang zur öffentlichen Gesundheitsversorgung, waren es mehr als 3.400. Alle von ihnen wurden vergewaltigt. Und das sind nur die offiziellen Zahlen: tatsächlich zeigen nach Angaben der Frauenrechtsorganisation Surkuna nur 10,8 Prozent der Frauen und abtreibungsfähigen Personen, die Opfer einer Vergewaltigung oder anderer Sexualverbrechen wurden, ihre Angreifer an.
Zwischen August 2014 und Ende 2020 wurden 419 Frauen wegen Abtreibung verurteilt
Im Jahr 2008 lud Ana Cristina Vera die niederländische Organisation Women on Waves („Frauen auf Wellen“) nach Ecuador ein, um Frauen zu einer sicheren Abtreibung zu verhelfen. Das Prinzip von Women on Waves ist einfach, aber genial: Die Frauen machen einen Termin aus und segeln so lange, bis das Boot internationale Gewässer erreicht hat, wo die Prozedur mit sicheren und legalen Medikamenten durchgeführt werden kann, ohne Angst vor strafrechtlicher Verfolgung haben zu müssen.
Am 17. Juni des gleichen Jahres wurde die „Virgen del Panecillo“, die 41 Meter hohe Jungfrauenstatue im Herzen Quitos, mit einer Botschaft geschmückt, die bis heute im Gedächtnis der Menschen bleibt. Die Statue war mit einem weißen Transparent geschmückt, auf dem „Deine Entscheidung. Sicherer Schwangerschaftsabbruch“ sowie eine Notrufnummer für sichere Abtreibungen zu lesen war. Ana, ihre Gefährt*innen und Mitstreiter*innen sind Teil dieser Geschichte für die Anerkennung von Frauen und Mädchen als Menschen mit Würde und helfen ihnen, sich ihre Körper wieder aneignen zu können und ihre Stimmen zurückzugewinnen.
Auch am 28. April dieses Jahres versuchten religiöse Fanatiker*innen und Abtreibungsgegner*innen sich den Aktivist*innen entgegenzustellen. Getrennt durch eine Kette von Sicherheitskräften hielten sie ein Transparent auf dem „Familie, Tradition und Eigentum“ stand. Ein Mann – aggressiv, mit abgewetzter Totenkopfmaske – kletterte auf einen Baum, als wolle er sich auf die Frauen stürzen, und schrie: „Mörder, Mörder! Dies ist eine satanische Veranstaltung.“ Und während er sich als „Pro-Life“ bezeichnete, beleidigte er die Aktivist*innen, die Gerechtigkeit forderten. Die Frauen antworteten mit lauten Sprechchören, sie sangen und tanzten. Ohne Aggression, nur mit Umarmungen und in steter Wachsamkeit. Die Abtreibungsgegner*innen verstummten und verließen den Ort.
Cristina Cachaguay, nationale Präsidentin der Organisation Frauen für den Wandel, verkündete zunächst inoffiziell: „Es ist ein historischer Moment im Land. Der Kampf einer jeden von euch, der Genoss*innen aus dem Hochland, von der Küste und dem Amazonas, trägt heute Früchte. Die Richter des Verfassungsgerichts haben grünes Licht für die Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs gegeben.“
„Es ist eine gewonnene Schlacht“
“Der Vergewaltiger bist du!” Die Choreographie des Kollektivs Las Tesis hallt durch Quitos Straßen (Foto: Karen Toro)
Der Beschluss ist eindeutig: Mädchen, Frauen, Jugendliche und Gebärfähige, deren Schwangerschaft das Ergebnis einer Vergewaltigung ist, werden nicht mehr kriminalisiert oder bestraft, wenn sie sich für einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden. Auch kann das medizinische Fachpersonal, das die Eingriffe durchführt, nicht mehr strafrechtlich verfolgt werden.
Blanca Chancoso, indigene Führungspersönlichkeit und eine der Gründerinnen der Konföderation der Kichwa-Nation Ecuadors (Ecuarunari), antwortet auf die Frage, was es für sie bedeutet Geschichte zu schreiben: „Es bedeutet Leben zu retten. Das, was heute erreicht wurde. Von Dorf zu Dorf, von Frau zu Frau. Wir sind so oft vergewaltigt worden, haben so viel Gewalt erlitten, seit wir Kinder waren. Auch wir, als indigene Frauen, sind verletzt worden. Dieses historische Urteil wird Leben retten und es ist sehr wichtig. Es ist eine gewonnene Schlacht. Frauen müssen sich nicht mehr an unsichere Orte begeben, an denen ihre Gesundheit bedroht wird, um abzutreiben. Sie sollen sich nicht verurteilt fühlen und wir sollen uns nicht verurteilt fühlen. Lasst uns weiter kämpfen um Chancengleichheit, für Bildung und Gesundheit.“
Die Entkriminalisierung der Abtreibung bei Vergewaltigung war dringend notwendig. Sie ist das Minimum. Die feministische Bewegung wird nicht müde. Sie ist bereit, die nächsten Schritte auf dem Weg zu einer liberalen Gesetzgebung zu ebnen. Wir werden nie wieder schweigen. Ja. So wird Geschichte geschrieben.