Stabilität auf Zeit
Die Mittelklasse zwischen Inflationsangst und Konsumrausch
Die kleine Minderheit von vier Millionen BürgerInnen, die nach Jahren der Deindustrialisierung und Deregulierung von der argentinischen Mittelklasse noch übriggeblieben sind, haben wohl am meisten von der Währungsstabilität profitiert. Gestiegene Gehälter in der Privatwirtschaft und in leitenden Positionen der Verwaltung bei einer erleichterten Kreditaufnahme haben ihr Zugang zu den modernsten Importprodukten ermöglicht. In den Jahren galoppierender Inflation unter der Regierung Alfonsín schien ein gewisser Nachholbedarf entstanden zu sein, der in den letzten Jahren befriedigt werden kann wie zu Zeiten des “süßen Geldes” (plata dulce) unter der letzten Militärdiktatur. In erster Linie wurden die flüssigen Dollar-paritätischen Pesos in langlebige Konsumgüter, Appartements und Reisen umgesetzt.
Mehr denn je ist der Konsum nicht nur auf die unmittelbare Bedürfnisbefriedigung ausgerichtet, sondern darauf, das neu Erworbene zeigen zu können. Ein Auto sollte importiert sein, auch wenn auf dem heimischen Markt vergleichbare Qualität zu bekommen ist. Bei Bekleidung und Schuhen zählt nichts mehr als das sichtbare Markenzeichen. Reisen werden danach gebucht, was gerade “in” ist. Dazu zählen Disneyland in Orlando, Florida, oder Cancun in Mexico.
Heute fährt der Mittelklasse-Argentinier allerdings auch nach Punta del Este, in den uruguayischen Badeort der “Reichen und Schönen” des Cono Sur, und wenn’s nur für eine Woche ist.
Konsum und Image
als Lebensinhalt
Natürlich wird auch an die Bedürfnisse der Kinder gedacht. So rechnete das bedeutendste politische Wochenmagazin “Noticias” kürzlich vor, was die Sprößlinge der Mittelklasse so benötigen: Für Studium, Unterhaltung, Bekleidung, Miete und Fahrtkosten kommen monatlich ca. 850 US-Dollar zusammen, etwa das Doppelte eines argentinischen Mindestlohns.
Viele haben sich zur Erfüllung dieser lang gehegten Wünsche bis über die Ohren verschuldet. Selbstverständlich sind Kredite in US-Dollars aufzunehmen. Ansonsten gilt nach wie vor die beliebte Zahlungsweise mit Kreditkarte, wobei man bis zur Abbuchung im besten Fall zwei Monate gewinnen kann, und es wird auf Raten gekauft.
Angesichts seiner eigenen Verschuldungssituation resümiert ein selbstkritischer Gesprächspartner, die ArgentinierInnen hätten wohl eine ökonomische Harakiri-Mentalität entwickelt: Was zähle, sei der Konsum im Augenblick, auch wenn die Verschuldung beispielsweise bei einer Abwertung des Peso sicher in den finanziellen Ruin führe.
Für Aufsehen sorgte Ende 1994 die Veröffentlichung der offiziellen Arbeitslosenstatistik. Mit über 13 Prozent wurde ein neuer Rekord aufgestellt, in einem Land, dem sein Präsident vor fünf Jahren eine “produktive Revolution” versprochen hatte. Gleich nach der Veröffentlichung meldeten sich Regierungsvertreter und schließlich der Präsident, an dem Besorgnis über die soziale Lage im Lande sonst abperlen wie an einem Regencape, höchstpersönlich zu Wort, um die Daten als übertrieben zu dementieren. Bei höchstens 9 Prozent liege die Arbeitslosigkeit, rechnete Menem vor.
Tatsächlich jedoch, so belegt Susana Torrado, ehemals hohe Funktionärin des nationalen Statistikinstituts INDEC, haben rund 40 Prozent der ArgentinierInnen Probleme mit dem Arbeitsplatz. Offiziell würden jedoch lediglich die Personen statistisch berücksichtigt, die sich arbeitslos gemeldet hätten. Wer sich dagegen innerhalb der letzten Woche nicht mehr arbeitslos gemeldet habe, falle aus der Statistik. Ebensowenig tauchten diejenigen in der Datensammlung auf, die hoffnungslos unterbeschäftigt seien, mit Einkünften unterhalb des Existenzminimums auskommen müßten oder schwarz arbeiteten. Dabei gebe es von Mal zu Mal weniger Lohnabhängige und immer mehr unabhängig Beschäftigte, womit in erster Linie informelle Tätigkeiten gemeint sind – etwa ambulante HändlerInnen.
An der Spitze der Arbeitslosenstatistik stehen Städte wie San Miguel de Tucumán, die wichtigen Hafenstädte Bahía Blanca und Rosario und die Provinzhauptstadt Santa Fé. Im Großstadtgürtel um Buenos Aires liegt die offizielle Arbeitslosenquote bei 14,9 Prozent, und die Industriebetriebe sterben weiter. Gerade hier hat man Angst vor den Konsequenzen der Marktöffnung im Zuge des Mercosur. Der brasilianischen Industrieproduktion fühlt man sich nicht gewachsen. Schon jetzt sind in den Straßen zahlreiche Volkswagen do Brasil zu sehen, und auf den Landstraßen aus Richtung Norden rollen immer mehr brasilianische LKWs, ob nun mit Autoteilen oder Brahma-Bier beladen.
Der Besitzstand
wird verteidigt
Wichtigste Antwort der Politik auf die wachsende Arbeitslosigkeit ist ein Gesetzespaket zur weiteren Flexibilisierung der Arbeit. Erwartet werden Produktivitätszuwächse und eine Verbesserung der internationalen Konkurrenzsituation, denn die Arbeitskraft sei in Argentinien nach wie vor teurer als in den Nachbarländern – versprochen wird eine rasche Abnahme der Arbeitslosenzahlen.
Publikumswirksamer ist allerdings eine mit Unterstützung der Medien betriebene Kampagne gegen illegal Beschäftigte, die überwiegend aus Chile, Peru und Bolivien kommen. Daß diese auf dem Bau und in einfachen Dienstleistungen Eingesetzten zahlenmäßig eigentlich keine Rolle spielen, stört dabei wenig. “Die Chilenen nehmen uns die Arbeitsplätze weg”, heißt es.
Der Staat, hier personifiziert durch den Innenminister, veranlaßt Razzien, und das Fernsehen setzt alles entsprechend ins Bild: Illegale ausländische Arbeiter werden wie Schwerverbrecher in Handschellen abgeführt, als erste Meldung in den Abendnachrichten. Die neuesten Daten des INDEC belegen dagegen: Selbst wenn alle in den letzten fünf Jahren nach Argentinien gekommenen Arbeitskräfte in ihre Heimatländer zurückkehren würden, sänke die Arbeitslosigkeit um lediglich 0,2 Prozent.
Insbesondere im Großstadtgürtel von Buenos Aires sind Armut und soziale Ungerechtigkeit weiter gewachsen. Hier teilen sich 54 Prozent der am unteren Rand der Einkommenspyramide Angesiedelten untereinander ebensoviel wie die 6 Prozent an ihrer Spitze. Die sozialen Konflikte und die Kriminalität nehmen drastisch zu, und auch hier reagiert der Staat demonstrativ mit harter Hand. Immer häufiger werden besonders jugendliche Delinquenten von Polizisten umgebracht.
Medien, Glanz und Glitter trüben die Wahrnehmung
Während die Reichsten in privat bewachten Vierteln des Hauptstadtbezirks wohlgeschützt leben, sind in dieser Region angesiedelte Kleinunternehmen und Mittelklasse-Wohnungen Ziel von Einbrüchen und Raubüberfällen. Immer häufiger verteidigen die Besitzer ihr Eigentum mit der Waffe in der Hand, und die Justiz zeigt dabei weitgehend Verständnis.
Vor etwa zwei Jahre erregte der Fall eines Mannes Aufsehen, dem mehrfach sein Cassettenrecorder aus dem Wagen gestohlen worden war. Als er bei einem weiteren Diebstahlversuch den Täter stellen konnte, erschoß er ihn auf offener Straße. Nach wie vor befindet sich der Schütze, ein Ingenieur und braver Familienvater, auf freiem Fuß. Das Gericht gestand ihm zu, er habe sich in einer Schocksituation befunden.
Ähnliches werden wohl ein Vater und sein Sohn geltend machen können, die im Dezember nach dem Diebstahl ihres Autos den potentiellen Täter verfolgten, mit mehreren Schüssen verletzten, auf ein leeres Grundstück warfen und dort verbluten ließen.
Daß die Wahrnehmung der wirklichen sozialen Lage allzumal bei der konsumorientierten Mittelklasse getrübt erscheint, dafür sorgen die Werbung und die Medien, allen voran das Fernsehen. Geradezu obszön erscheinen in diesem Kontext die Hinweise auf Schlankheitskuren, Diäten und Fitness, die neben der Markenkleidung die äußere Erscheinung der modernen Argentinierin und ihres männlichen Pendants vervollkommnen sollen. Vor- und Nachmittagsprogramme des Fernsehens sind mit Telenovelas argentinischer Produktion, venezolanischen oder mexikanischen Culebrones, die unendlichen Fernseheserien, oder Spielshows gefüllt.
Unterhaltung ist alles, je greller und lauter, um so besser. Die höchsten Einschaltquoten erzielt nach wie vor die nie alternde Mirta Legrand, die seit Jahren Gäste aus Politik, Sport und Showbusiness zum Smalltalk beim Mittagessen einlädt. Einmal im Jahr darf auch der Präsident kommen und nach Herzenslust plaudern.
In den Abendprogrammen dominieren seit zwanzig Jahren dieselben Namen die Diskussionssendungen. Bernardo Neustadt (“Tiempo Nuevo”) verbreitete seine reaktionären Weisheiten schon unter der Militärdiktatur. Mariano Grondona tat dies früher mit ihm gemeinsam, hat mittlerweile jedoch sein eigenes Programm (“Hora Clave”). Die beiden Altmeister haben inzwischen mit “Hadad y Longobardi” eine jugendliche Konkurrenz bekommen. Und bei allen haben in den letzten Monaten Sex und Crime als Thema gegenüber der Politik an Gewicht gewonnen.
Die Korruption ist öffentlich wie selten – macht nichts
Die Korruption grassiert. Pagina/12 als einzige bedeutende kritische Tageszeitung mit einer Auflage von über 100.000 Exemplaren denunziert zwar nach wie vor unermüdlich die zahlreichen Korruptionsfälle. Aber auch sie mußte zum Jahresende feststellen, daß zwar einige Fälle vor Gericht verhandelt wurden, kein einziger aber auch zur Verurteilung kam.
Zwar stehen über 70 hohe FunktionäInnen und persönliche FreundInnen des Präsidenten aus Unternehmerkreisen vor Gericht, aber längst ist die Justiz selbst Teil des Korruptionssystems geworden. Um so unverfrorener wird in die Kameras der Nachrichtenprogramme gelogen, um so heftiger werden JournalistInnen der Verleumdung beschimpft.
Während die argentinischen RentnerInnen nach wie vor für die pünktliche Auszahlung ihrer Renten demonstrieren müssen, wurden in der staatlichen Rentenversicherung PAMI in den Jahren der Menemregierung 1500 sogenannte ñoquis in den Gehaltslisten geführt. Das sind Funktionäre, die lediglich am Monatsende an ihrem Arbeitsplatz erscheinen, um den Gehaltsscheck entgegenzunehmen. Hier bediente die peronistische Regierung ihre Klientel teilweise mit Gehältern zwischen 3.000 und 5.000 US-Dollar monatlich.
Lästig scheint die Denunziation der Korruptionsskandale in den Medien für die Regierung trotzdem zu sein. Wie sonst erklären sich die Versuche der Regierung, die Presse mundtot zu machen. Der dritte Anlauf wurde Anfang des Jahres gestartet: Die neueste Gesetzesvorlage zum sogenannten Ley Mordaza (Knebel) wurde von Menem selbst eingebracht. Es droht JounalistInnen, die “Verleumdungen” publizieren oder “falsch berichten”, mit hohen Strafen. Für die veröffentlichenden Medien sollen Geldstrafen bis zu 200.000 US-Dollar und Verpflichtungen zur Entschädigung der Betroffenen bis zu 500.000 US-Dollar fällig werden.
Ein weiterer Schritt, kleinere, kritische Medien ökonomisch auszuschalten, ist die Verpflichtung, sich unabhängig von ihrer Größe in Höhe von 500.000 US-Dollar versichern zu lassen. Zusätzlich soll eine neue Rechtsfigur geschaffen werden, die sogenannte “falsche Beschuldigung”. Danach dürfen keine Verdächtigungen, die “auf falschen Tatsachen beruhen”, mehr veröffentlicht werden.
Die Mittelklasse steckt ob ihrer vielen Kredite tief in der menemistischen Schuldenfalle. Sie wird den Präsidenten wählen, der am glaubwürdigsten die Fortsetzung der Währungsstabilität verspricht. Menem machte mit der Wahl des jetzigen Innenministers Ruckauf zu seinem Kandidaten auf die Vizepräsidentschaft ein weiteres Angebot an die Mittelklasse.
Ruckauf, unter Isabel Peron 1975 schon einmal Minister, ist ein aalglatter Law and Order-Vertreter. Er verspricht hartes Durchgreifen gegen Kriminelle und Schutz des Besitzstandes. Menem selbst scheint Garant für den Wahlsieg im alles entscheidenden Stimmenbezirk des verarmenden Großstadtgürtels von Buenos Aires.
Ausschlaggebend auch hier: die Währungsstabilität nach den Jahren der Geldentwertung unter der Regierung Alfonsín mit seiner “Radikalen Bürgerunion”, UCR. Zudem bietet eben diese zweite große Volkspartei keine Alternative. Ihr erst vor wenigen Monaten gekürter Spitzenkandidat Massachessi, bisher Gouverneur der Agrarprovinz Rio Negro, scheint von vorneherein weit abgeschlagen. Auch er verspricht die Fortführung der Stabilität allerdings mit mehr sozialer Gerechtigkeit. Die wichtigsten wichtigsten Schritte der ökonomischen Umstrukturierung hatte die UCR in den letzten Jahren mitgetragen.
Der politische Pakt zwischen den beiden großen Parteien, der zur Verfassungsänderung zwischen dem aktuellen Präsidenten und seinem Vorgänger arrangiert worden war, scheint für die WählerInnen ein weiterer Grund, sich eher für eine bereits bekannte Regierungspolitik zu entscheiden, anstatt mit der UCR ein neues Risiko einzugehen.
Die Frente Grande (FG), das linke Oppositionsbündnis, hat in den letzten Monaten vor allem personalpolitisch von sich hören lassen. Unter Protest gegen den Führungsstil und den Verlust linken Profils trennte sich Pino Solanas von der FG. Es gehe anscheinend nur noch darum, wer Präsidentschaftskandidat werde, monierte der Filmemacher. Inzwischen hat er selbst eine neue Partei gegründet, die ihn sicher als Präsidentschaftskandidaten aufstellen wird.
In der FG selbst ist der peronistische Dissident Chacho Alvarez Spitzenkandidat. Unter seiner Führung schloß sich die FG mit anderen Oppositionsgruppierungen zusammen, deren wichtigste von einem weiteren Sprößling des Antimenemismus, dem Gouverneur von Neuquén, José Octavio Bordón, geführt wird. FREPASO heißt dieses neue Oppositionsbündnis nun, Frente País Solidario.
Zum Gründungsakt im Dezember in Buenos Aires kamen immerhin rund 10.000 Menschen. Nach der endgültigen Verabschiedung von radikalen Positionen etwa der PC und der Vereinigung mit Bordón, der allerdings ein relevanteres Stimmenpotential mitbringt, soll nun bald durch eine offene Wahl entschieden werden, wer von den beiden Ex-Peronisten gemeinsamer Präsidentschaftskandidat der FREPASO werden soll. Bisher treten Alvarez und Borbón gemeinsam auf, Hauptthemen: Korruption und soziale Ungerechtigkeit. Auf ihr wirtschaftspolitisches Konzept angesprochen, läßt sich die Kernaussage der Linksopposition jedoch so zusammenfassen: “Wir garantieren die Stabilität besser als der Menemismus”, so Chacho Alvarez in einem Interview.
Bei solch offensichtlichem Mangel an politischen Alternativen scheint die Wiederwahl Carlos Menems sicher. Politik ist darauf reduziert, Währungsstabilität zu garantieren. Obwohl offensichtlich ist, daß auch die jetzige Regierung dies längerfristig nicht kann, hat die argentinische Mittelklasse doch keine Wahl, sie hat nur eine Hoffnung und eine Option.