Nummer 358 - April 2004 | Stadtentwicklung

Städtisches Leben

Veränderungen in der urbanen Kultur Mexiko-Stadts

Ihr immenses Wachstum hat das Leben der mexikanischen Hauptstadt in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt. Aus einer halbwegs überschaubaren Stadt mit kolonialem Stadtkern und kleinen malerischen Vororten ist eine scheinbar uferlose Metropole geworden, die heute die verschiedenartigsten Facetten und Nutzungen aufweist. Auch der öffentliche Raum und der Umgang mit ihm haben sich verändert.

Benedikt Fallbusch

Bis in die 60er Jahre hinein war das Centro Histórico noch Mittelpunkt, wichtigster und lebendigster Bereich von Mexiko-Stadt, sowohl in wirtschaftlicher als auch in kultureller und politischer Hinsicht. Mit der extremen Stadtexpansion der vergangenen Jahrzehnte entstanden jedoch vornehmlich am Stadtrand neue Subzentren und entvölkerten das Zentrum. Heute dem Verfall überlassen und tendenziell von den MexikanerInnenn gemieden, gilt es als unsicher. Zwar gibt es dort weiterhin die größte Dichte an spezialisierten Händlern, aber Banken und Büros bevorzugen längst die moderneren Gebäude in der Peripherie. Die Menschen, die es sich leisten konnten, sind an den Stadtrand oder in die besseren Stadtteile vornehmlich im Westen der Stadt gezogen.
Tagsüber wird das Centro noch von ca. 1 Million PendlerInnen, TouristInnen und StraßenverkäuferInnen bevölkert, so dass es einem orientalischen Basar gleicht. An jeder Ecke stehen Saft- oder ObstverkäuferInnen, CD- HändlerInnen oder Straßenküchen aller Art. Besonders im östlichen Centro Histórico gibt es kaum noch reguläre Geschäfte, dort findet der Verkauf weitgehend auf der Straße statt. Mit Sonnenuntergang sind jedoch alle StraßenhändlerInnen verschwunden.
Nachts gleicht das noch bis vor wenigen Stunden belebte Zentrum einer Geisterstadt und gilt als einer der gefährlichsten Orte der Stadt. Bars, Cantinas und Clubs wandern ab. Neben der Zona Rosa und dem ehemaligen Vorort Coyoacan ist die Condesa der zurzeit gefragteste Ort für neue Bars. Die Schickeria hat diesen Stadtteil für sich entdeckt. Neben einigen Gebäuden aus der Zeit der ersten Stadtexpansion um 1900 gibt es dort die jüngsten Beispiele mexikanischer Wohnbauarchitektur. Aus Sichtbeton, Stahl und Glas werden in diesem Vietel sechsgeschossige Wohnhäuser hochgezogen, die ihre wohlhabenden BewohnerInnen vor dem „Alltag“ schützen sollen. Hinter Milchglasscheiben oder blickdichten Fassadenkonstruktionen wird die Umgebung ausgeblendet und auch die MieterInnen und deren Reichtümer sind vor neidischen Blicken sicher. In der Nachbarschaft etablierte sich eine ebenso schicke Restaurant- und Clubszene, deren strenge Türpolitik das Publikum nach dem Motto selektiert: je heller die Haut, desto kürzer ist die Wartezeit. Viele MexikanerInnen wissen, dass sie vergebens warten würden und stellen sich gar nicht erst an.

Augeklammerte Umgebung
Auch außerhalb der Orte für gut Situierte spielt sich das bürgerliche Leben in Siedlungen ab, deren „öffentlicher Raum“ nur einem ausgewählten Publikum zugänglich ist: den so genannten „gated communities“. Da die Stadt generell als sehr unsicher gilt, schotten sich immer mehr BewohnerInnen ab und verharren in ihren eigenen Mikrokosmen. Wirkliches öffentliches Leben kann in Quartieren, deren Zutritt stark reglementiert ist, nicht stattfinden. Läden findet man nur an Hauptverkehrsachsen, zum nächsten Walmart ist es aber auch nicht weit. Gefeiert wird privat, die Gästeliste wird selber erstellt und der Abend bleibt kontrollierbar. Ein Großteil der Mittelschicht lebt in diesen sehr beliebten Quartieren, die Oberschicht sowieso. Zu den „gated communities“ zählen auch die Wohntürme, die wie Pilze aus dem Boden der Peripherie schießen. Sie stehen oft in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Quartieren der Armen, aus Wellblechhütten und betongrauen Häuschen bestehend, deren BewohnerInnen durch hohe Mauern und Zäune auf Distanz gehalten werden. Begleitet wird der Bauboom der Reichensiedlungen von den allseits beliebten und vollklimatisierten Shopping Malls US-amerikanischer Art mit ausreichend Parkmöglichkeiten sowie vielen schönen grünen Golfplätzen. Das Leben und die Investitionen finden in der Peripherie statt, die Innenstadtbezirke bleiben sich selbst überlassen.
Diese Entwicklung ist bedenklich. Durch die beschriebene Form der Verstädterung sind die letzten Naturreserven des Hochlandtals um Mexiko-Stadt herum gefährdet, immer weniger Fläche steht zur Verfügung. Gleichzeitig verwahrlosen die Innenstadtbezirke, was natürlich im Fall des Centro Histórico, das zum UNESCO Weltkulturerbe zählt, besonders besorgniserregend ist. Ob der langen Wege nimmt aber auch das Interesse für Kultur ab. Die meisten Museen und Theater, die es in Mexiko-Stadt gibt, befinden sich fast ausschließlich in der Stadtmitte. Bis dorthin dauert die Fahrt allerdings eine Stunde. So wird der Museumsbesuch durch den Besuch eines nahen, gigantomanen Multiplexkinos abgelöst – oder gleich der neueste Blockbuster in der nächsten Videothek ausgeliehen. So wird der Abend auch gern zu Hause verbracht. Die sechs meistgenannten Freizeitaktivitäten der MexikanerInnen sind: fernsehen, ausruhen, Zeitung lesen, Musik hören, Familienleben und Sport. Allesamt Aktivitäten, die abgeschottet von der Außenwelt zu Hause stattfinden. Drei Viertel aller Haushalte in Mexiko-Stadt haben einen Videorecorder oder DVD – Player. Unterhalb der Woche nutzen sechs Prozent der Bevölkerung die Stadt für Aktivitäten wie einkaufen, Freunde besuchen, Essen gehen, für Parties und einen Theater- oder Konzertbesuch, am Wochenende immerhin 30 Prozent der MexikanerInnen.

Übrig gebliebene Orte des öffentlichen Lebens
In den letzten Jahren hat sich zumindest die Musikszene in Mexiko-Stadt sehr entwickelt. Für die meisten KünstlerInnen ist die Metropole eine der wichtigsten Stationen in Lateinamerika. Bekannte Größen spielen in Stadien oder auf Festivals, sogar die Loveparade hat sich als beliebter Berliner Kulturexport etabliert. Auch der Untergrund bietet zahlreiche attraktive Veranstaltungen. Viele europäische oder südamerikanische DJs legen in den Clubs auf oder es gibt informelle Parties, wie man es aus der Nachwendezeit in Berlin kennt. Mexiko-Stadt bietet zahlreiche spannende Orte zum Ausgehen, und es gibt genug Ausweichmöglichkeiten, wenn die Stadtverwaltung mal wieder einen illegalen Club geschlossen hat. Doch die Szene öffnet sich nur den Partygängern mit viel Zeit, etwas Geld und Abenteuerlust. Aber nicht nur lange Wege oder Unsicherheit führen dazu, dass sich die Menschen vom öffentlichen Leben fern halten. Auch die städtische Bebauungsdichte und der dadurch bedingte Mangel an Freiraum schränken die Nutzungsmöglichkeiten der Stadt ein. Besonders an den Wochenenden sind die wenigen unbebauten Plätze von unzähligen Menschen bevölkert. In der Alameda Central, einem Park im Zentrum aus der Kolonialzeit, flanieren die MexikanerInnen zwischen KleinkünstlerInnen und Zuckerwattebuden. Diego Rivieras in der Nähe ausgestelltes Bild „Sueño de una Tarde Dominical en la Alameda“ karikiert, angereichert mit zahlreichen politischen Anspielungen, das typische Treiben an einem Sonntag in diesem Park. So wie die Alameda symbolisch für das alte Mexiko steht, gehört die Plaza Coyoacan der jungen Szene und der Bosque Chapultepec, der größte Park Mexikos, den Familien. Auffallend ist, wie viele Menschen tagsüber an diesen Orten zusammenströmen. Im Bosque Chapultepec steht man fast auf den Wegen, so langsam bewegt sich die Menge am Sonntagnachmittag. Kleine Kinder werden angeleint, damit sie nicht verloren gehen. Abends allerdings bietet lediglich Coyoacan ein Angebot an Bars und Restaurants, so dass dieser Platz auch nachts lebendig bleibt. In einigen anderen Stadtteilen bleiben den NachtschwärmerInnen noch Cantinas und kleinere Restaurants, die bis Mitternacht geöffnet sind. Ab ca. neun Uhr sieht man aber nur noch wenige Menschen auf der Straße. Die Metro fährt – fast leer – noch bis Mitternacht.

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