Nummer 294 - Dezember 1998 | Theologie der Befreiung

Stimme der Stimmlosen

Zum Einsatz der Kirche für Frieden und Gerechtigkeit in El Salvador

In El Salvador – ebenso wie in ganz Lateinamerika – begab sich die Kirche jahrhundertelang in eine verhängnisvolle Komplizenschaft mit den Mächtigen und Reichen. Bis vor 30 Jahren in der Versammlung der lateinamerikanischen Bischöfe in Medellin eine neue Grundsatzentscheidung gefällt wurde: Man entschied sich für die „Option für die Armen“. Fortan wollte man sich für Befreiung und Gerechtigkeit in Lateinamerika einsetzen und die zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit als entscheidende Herausforderung für die Kirche annehmen. Mit einer „kopernikanischen Revolution“ verglich der salvadorianische Befreiungstheologe Jon Sobrino die Bedeutung dieser Entscheidung für die Kirche. Von großer Bedeutung für diesen Standortwechsel der Kirche zugunsten der Armen war die gleichzeitig entstandene Theologie der Befreiung.

Martin Maier SJ

In kaum einem anderen Land Lateinamerikas wurden diese Impulse nachhaltiger umgesetzt als in El Salvador. El Salvador kann dabei als repräsentativ für den ganzen Subkontinent gelten, weil es bei allen nationalen Besonderheiten wie in einem Mikrokosmos alles Elend und Leiden, aber auch alle Hoffnungen Lateinamerikas vereint. Das kleine Land kennt eine lange Geschichte von Repression und Ausbeutung. Nach einem Militärputsch schlug die Armee im Jahr 1932 eine Aufstandsbewegung der Bauern und Landarbeiter in der berüchtigten „Matanza“ mit 30.000 Toten innerhalb weniger Wochen nieder. Bis 1979 herrschten Militärdiktaturen, die eine notdürftige demokratische Fassade aufbauten.
Doch in den 60er Jahren begann es im Volk El Salvadors zu gären. Die Menschen fanden sich mit den extremen sozialen Gegensätzen und der ungleichen Landverteilung nicht mehr einfach ab. Es bildeten sich neue soziale Bewegungen, Gewerkschaften und linksorientierte Parteien. Auch die katholische Kirche mit dem damaligen Erzbischof Luis Chávez y González unterstützte die weitgehend landlosen Bauern in ihren Schritten zur Organisierung. In einer 1976 geplanten aber schließlich von der Oligarchie vereitelten Landreform spielte die christliche Bauern- und Landarbeitergewerkschaft FECCAS-UTC (Federación Cristiana de Campesinos Salvadoreños-Unión de Trabajadores del Campo) eine wichtige Rolle. Damit wurden aber sozial engagierte, christliche Gruppen von den Herrschenden zunehmend als Gegner empfunden, und eine der blutigsten Christenverfolgungen in der jüngeren Kirchengeschichte nahm ihren Anfang.

Rutilio Grande und Oscar Romero

Der Jesuit Rutilio Grande setzte die Neuorientierungen von Medellín als Pfarrer in dem Campesinodorf Aguilares in die Praxis um. Er brachte den verarmten Bauern nahe, daß sie der christliche Glaube keineswegs dazu anhalte, sich mit ihrem Schicksal einfach abzufinden. Im Gegenteil: die Bibel zeige ihnen den Weg, ihre Menschenwürde und Gerechtigkeit von den Unterdrückern einzufordern. So ermutigte er sie, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Doch die Reaktion der Mächtigen ließ nicht lange auf sich warten: Rutilio Grande war der erste Priester, der 1977 in El Salvador ermordet wurde. Kurz zuvor war Oscar Arnulfo Romero zum Erzbischof von San Salvador ernannt worden.
Romero galt als ein tieffrommer, bis dahin aber eher ängstlicher und konservativer Kirchenmann. Als Erzbischof war er der Wunschkandidat der das Land beherrschenden Oligarchie und konservativer Kirchenkreise. Doch die Ermordung von Rutilio Grande löste eine innere Bekehrung in Romero aus. Jetzt machte er selber Ernst mit dem Standortwechsel zugunsten der Armen und Unterdrückten, wie ihn die lateinamerikanischen Bischöfe in Medellín beschlossen hatten. Mit seinen im Rundfunk übertragenen Predigten, in denen er die Menschenrechtsverletzungen des Militärregimes anklagte, wurde er zur meistgehörten Person in El Salvador. „Stimme der Stimmlosen“ wollte er sein.
Wegen seines prophetischen Eintretens für die Armen wurde Oscar Romero zunehmend angefeindet und mit dem Tod bedroht. Er spielte eine wichtige Verhandlungsrolle im Hintergrund des Putsches einer Gruppe von reformwilligen Militärs im Oktober 1979. Doch das Projekt der militärisch-zivilen Junta scheiterte innerhalb weniger Monate. Jetzt regierte in El Salvador endgültig der Terror der Todesschwadronen. Am 24. März 1980 traf Romero während der Feier einer Messe die tödliche Kugel eines aus Armeekreisen gedungenen Scharfschützen. Auftraggeber des Mordes war Roberto D’Aubuisson, Ex-Mayor der Armee und Gründer der ultrarechten ARENA-Partei.

Eine Universität im Dienst der Armen

Einer der engsten Berater Romeros war der Jesuit Ignacio Ellacuría, der es sich als Philosoph, Befreiungstheologe und seit 1979 als Rektor der Zentralamerikanischen Universität (UCA) zur Lebensaufgabe gemacht hatte, die Option für die Armen auf wissenschaftlich-akademische Weise umzusetzen. Die UCA sollte sich unterscheiden von anderen höheren Bildungsanstalten in Lateinamerika, die von der reichen Oberschicht finanziert werden, und in denen nur deren Söhne und Töchter ihre akademische Ausbildung erhalten. Ellacuría wollte, daß sich die Universität in ihrem Selbstverständnis und ihren Zielsetzungen von der sozio-politischen Wirklichkeit El Salvadors her definierte.
Inmitten des zum Himmel schreienden Elends der Mehrheit der Salvadorianer und Salvadorianerinnen konnte nicht Wissenschaft um der Wissenschaft willen betrieben werden. Die UCA sollte sich als Universität für soziale Reformen mit dem Ziel einer gerechteren Gesellschaftsordnung einsetzen. Dies setzte voraus, daß ihre wissenschaftliche Arbeit auch eine politische und soziale Wirkung entfaltete. Ellacuría prägte dafür den schwierig zu übersetzenden Begriff der proyección social. Gemeint ist damit der spezifische Beitrag der Universität zur Gestaltung einer gerechteren und humaneren gesellschaftlichen Ordnung. Wichtige Instrumente dafür waren die Zeitschriften der Universität und der von Ellacuría 1985 geschaffene „Lehrstuhl für die nationale Realität“ – das einzige, einigermaßen freie Forum der politischen Diskussion.
In den 80er Jahren spielte Ellacuría zusammen mit Romeros Nachfolger Erzbischof Arturo Rivera y Damas und seinem Weihbischof Gregorio Rosa Chávez eine Schlüsselrolle in der Einleitung eines Friedensdialogs zwischen Regierung und Guerilla. Sie drängten schon auf eine Verhandlungslösung des Bürgerkriegs, als das bloße Wort „Dialog“ von der Armee und der extremen Rechten als Hochverrat angesehen wurde. Seit 1981 entwickelte Ellacuría die Idee einer „dritten Kraft“ auf der Suche nach mehr sozialer Gerechtigkeit und Frieden. Damit war der notwendige Beitrag der Zivilgesellschaft gemeint. Diese Idee führte 1988 zu der „Nationalen Debatte für den Frieden“, in der sich 62 repräsentative Gruppen der salvadorianischen Gesellschaft zusammenschlossen.

„Tu was für’s Vaterland, töte einen Priester!“

Die katholische Kirche und insbesondere die Jesuiten bezahlten dieses Engagement mit Drohungen und Verfolgung. Von 1976 bis 1989 wurden gegen die UCA 16 Bombenanschläge verübt. 1977 tauchten Flugblätter auf mit der Aufforderung: „Tu was für’s Vaterland, töte einen Priester.“ Insgesamt wurden in El Salvador neben Erzbischof Romero 18 Priester, vier Ordensfrauen und tausende in der Kirche engagierte Männer und Frauen umgebracht. Nach der Ermordung von Rutilio Grande wurden ultimativ alle Jesuiten aufgefordert, binnen eines Monats das Land zu verlassen. Andernfalls würde man sie einen nach dem anderen umbringen. Die Jesuiten blieben – auch wenn sie über längere Zeit jede Nacht ihre Schlafstätte wechseln mußten. Nachdem die Drohungen in den achtziger Jahren abgenommen hatten, nahmen 1989 nach der Machtübernahme der ARENA-Partei die Angriffe gegen die Jesuiten und die UCA wieder zu.
Mit dem Massaker an Ignacio Ellacuría, fünf weiteren Jesuiten und einer Hausangestellten mit ihrer Tochter erreichte die Verfolgung der Kirche am 16. November 1989 einen neuen Höhepunkt. In diesem Verbrechen liefen die wichtigsten Fäden zusammen, an denen das Schicksal und die Tragödie des kleinsten zentralamerikanischen Landes hingen. Um nur einige davon zu nennen: der ungesühnte Terror der Armee gegen die Zivilbevölkerung mit mehr als 75.000 Opfern in den Jahren 1977 bis 1992, die Machtlosigkeit und die Korruption des Justizsystems, die verhängnisvolle Rolle, die die Politik der USA in El Salvador spielte. So konnte man auch hoffen, daß eine lückenlose Aufklärung dieses Verbrechens einem Ariadnefaden gleichkäme, der einen Ausweg weisen könnte aus dem Labyrinth von struktureller Ungerechtigkeit, Repression und Gewalt. Es war deshalb keine Übertreibung, wenn man in El Salvador im Zusammenhang mit den Morden in der UCA vom „Fall der Fälle“ und vom „Prozeß des Jahrhunderts“ redete.

Offiziere auf der Anklagebank

Allerdings nahm sich der ganze Verlauf der von der Regierung und der Armee versprochenen „lückenlosen Aufklärung“ des Verbrechens wie ein auf dem Kopf stehender Kriminalroman aus: Man wußte, wer die Täter im Hintergrund waren, doch systematisch wurden alle Wege blockiert oder abgeschnitten, die juristisch zu diesen Tätern hätten führen können. Nicht zuletzt wurde im Verlauf dieser versuchten Aufklärung viel von der Widersprüchlichkeit und Heuchelei der US-Politik in El Salvador ans Tageslicht gefördert. Auf der einen Seite forderten US-Regierungsstellen mit großem rhetorischem Aufwand, diesem Verbrechen bis auf den letzten Grund zu gehen. Dazu drohte man auch mit einer Kürzung der Militärhilfe, die sich während der 11 Jahre des Bürgerkriegs auf über drei Milliarden Dollar belaufen hatte. Auf der anderen Seite trat völlig klar die Komplizenschaft der US-Botschaft mit der salvadorianischen Armee zu Tage: Beweismittel wurden nicht herausgegeben oder verschwanden. Noch schlimmer war die Vertuschung der Tatsache, daß zumindest zwei US-Militärberater bereits im voraus von der Planung des Verbrechens gewußt hatten, ohne irgendetwas zu unternehmen.
Im September 1991 kam es zu einem Prozeß, bei dem zum ersten Mal in der Geschichte des Landes acht Soldaten und Offiziere auf der Anklagebank saßen. Allerdings wurden nur zwei von ihnen verurteilt, und diese wurden im Zuge einer Generalamnestie im Frühjahr 1993 wieder freigelassen. Obwohl inzwischen feststeht, daß die gesamte Armeespitze in die Planung des Massakers verwickelt war, ist das Verbrechen bis heute noch nicht lückenlos aufgeklärt. Allerdings ließen die Verzögerung und Verschleppung der Aufklärungen den Fall zu einem Druckmittel gegen die Armee und für die Friedensverhandlungen zur Beendigung des Bürgerkriegs werden. Ein salvadorianischer Offizier sagte einmal, nichts habe der Armee in den Jahren des Krieges gegen die Guerilla so geschadet, wie diese von ihr selbst angeordneten Morde. Ein mexikanischer Diplomat bezeichnete das Massaker in der UCA als Wendepunkt des Bürgerkrieges insgesamt. Nicht zuletzt war es die moralische Empörung über die Jesuitenmorde in der öffentlichen Meinung der USA, die schließlich und endlich zu einer Änderung der Salvador-Politik der US-Regierung beitrug.

Kirchenpolitischer Kurswechsel

Auch nach der Unterzeichung der Friedensverträge 1992 sind die Probleme El Salvadors weit von einer Lösung entfernt. Das Land befindet sich immer noch in einem schwierigen und zerbrechlichen Übergangsprozeß vom Bürgerkrieg zu einem wirklichen Frieden, von den jahrzehntelangen Militärdiktaturen zur Demokratie, von extremen sozialen Polarisierungen zu einer nationalen Versöhnung.
Dabei würde der katholischen Kirche auch heute eine bedeutende Rolle zufallen. Doch als Nachfolger des plötzlich verstorbenen Erzbischofs Arturo Rivera y Damas wurde von Rom im Mai 1995 Fernando Sáenz Lacalle vom Opus Dei eingesetzt. Wie sich schon bald zeigte, bedeutete diese Ernennung einen Bruch mit der prophetischen Linie im Geist der Option für die Armen seiner Vorgänger. Kurz nach seiner Amtseinführung erklärte Sáenz Lacalle, Priester sollten nicht zu politischen Fragen Stellung nehmen und es stehe ihnen nicht zu, irgendjemanden zu kritisieren. Wichtige kirchliche Schlüsselpositionen besetzte er mit Vertretern seiner Linie.
Für die Tradition und das Erbe von Oscar Romero und Arturo Rivera y Damas steht heute vor allem Weihbischof Gregorio Rosa Chávez, dem im Juni 1996 der Hessische Friedenspreis für seine Verdienste bei den Friedensverhandlungen verliehen wurde. In einem Gespräch erinnerte er an die letzte Szene aus dem Film „Romero“, die das Volk auf dem Weg zeigt, während eine Stimme im Off die Worte Romeros sagt: „Ein Bischof wird sterben, aber das Volk wird weitergehen.“ Daran anschließend beschrieb Rosa Chávez die Aufgabe der Kirche in El Salvador heute so: „Ich glaube, ein Volk auf dem Weg lädt uns ein, uns nicht geschlagen zu geben und fordert uns heraus, es nicht allein zu lassen. Das ist das Bild, das ich von dem Land habe, in dem ich geboren wurde und dem ich diene: ein Volk, das auf dem Weg ist, das aber einen Führer benötigt, der vorangeht. Die Kirche und alle Führungspersonen des Landes haben hier eine große Verantwortung.“

KASTEN

Ignacio Ellacuría wurde 1930 in Portugalete im Baskenland geboren und trat mit 17 Jahren in den Jesuitenorden ein. 1949 wurde er nach El Salvador geschickt. Die ordensüblichen Studien in Philosophie und Theologie machte er in Quito, Innsbruck und Madrid. 1967 kehrte Ellacuría endgültig nach El Salvador zurück und dozierte Philosophie an der drei Jahre zuvor gegründeten Zentralamerikanischen Universität, deren Rektor er 1979 wurde. Als primäre Aufgabe der Universität verstand er, daß sie kritisches Gewissen der Gesellschaft sein und einen Beitrag zur Veränderung der ungerechten sozialen Verhältnisse El Salvadors leisten solle. Durch seine sozio-politischen Analysen, seine Beiträge zur Theologie der Befreiung und seine Vermittlertätigkeit im Bürgerkrieg wurde Ellacuría zu einer national und international bekannten Persönlichkeit. In der Nacht des 16. November 1989 wurde Ellacuría zusammen mit fünf weiteren Jesuiten und zwei Mitarbeiterinnen von einem Spezialkommando der salvadorianischen Armee ermordet.

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