Straflosigkeit trotz Demokratie
Brasilianische Gerichte schützen Mörder aus den Reihen der Polizei und des Militärs
Am 16. Februar 2006 hob ein Berufungsgericht in São Paulo die gegen Oberst Ubiratan Guimarães im Jahr 2001 verhängte lebenslängliche Haftstrafe auf. Der für das Gefängnismassaker von Carandiru verantwortliche Militär kann sich somit weiterhin als freier Mann bewegen.
Hintergrund seiner ursprünglichen Verurteilung war die Ermordung von 111 unbewaffneten Häftlingen im Oktober des Jahres 1992 im Staatsgefängnis Carandiru im Zentrum von São Paulo. Damit handelt es sich um einen der spektakulärsten Fälle von Menschenrechtsverbrechen im re-demokratisierten Brasilien. Entsprechend empört reagierten Menschenrechtsorganisationen auf diesen richterlichen Widerruf. Für Paulo Sampaio von der Organisation Christen für die Abschaffung der Folter ist die Entscheidung „eine Schande für Brasilien“.
Das Urteil spiegelt die gravierenden und bisher nicht gelösten Probleme des demokratischen Rechtsstaates in Brasilien wider: Die Nichtahndung von Menschenrechtsverletzungen.
Das Massaker
Am Morgen des 2. Oktober 1992 entwickelte sich im Block neun des Gefängnisses von Carandiru während eines zwischen den Inhaftierten ausgetragenen Fußballspiels ein Streit zwischen zwei Gefangenen, der sich zu einem Tumult ausweitete. Nachdem die Gefängniswärter die Kontrolle über das Geschehen verloren hatten, lösten sie Alarm aus und verließen den Block. Für die Häftlinge bestanden keine Fluchtmöglichkeiten; Geiseln wurden nicht genommen.
Im Laufe des Tages postierte Oberst Ubiratan Guimarães auf richterliche Anordnung eine Einheit von 320 Militärpolizisten vor den Gefängnismauern. Hierauf wurden von zahlreichen Häftlingen weiße Laken aus den Fenstern gehängt, um zu signalisieren, dass kein Widerstand geleistet werden würde. Der Gefängnisdirektor bemühte sich über Megafon um Kontaktaufnahme mit den Inhaftierten, nachdem sich die versammelten Verantwortlichen kurz zuvor verständigt hatten, diese Verhandlungen abzuwarten. Dessen ungeachtet gab Oberst Guimarães eigenmächtig Befehl, das Gefängnis zu erstürmen.
Die meisten Inhaftierten flohen daraufhin in ihre Zellen. Die mit automatischen Waffen und Maschinengewehren ausgestatteten Militärpolizisten zielten vorwiegend auf Kopf und Brustkorb.
Bei den 111 Toten handelte es sich ausschließlich um Gefangene. Die später vorgetragene Behauptung der Militärpolizei, die Häftlinge hätten sich mit Schusswaffen zur Wehr gesetzt, wurde durch ballistische Untersuchungen entkräftet. Vermutlich sind die aufgefundenen 13 Gewehre nachträglich den Leichen zugesteckt worden.
80 Prozent der Opfer waren Untersuchungshäftlinge, die laut der brasilianischen Verfassung gar nicht mit bereits verurteilten Straftätern zusammen inhaftiert hätten werden dürfen, wie es in Carandiru der Fall war.
Wahlnummer 111
Die brasilianische Justiz brauchte fast fünf Jahre zur Klärung, ob das Verfahren vor einem Militär- oder Zivilgericht geführt werden soll. Erst im April 1997 entschied ein Oberstes Bundesgericht zugunsten der zivilen Strafgerichtsbarkeit. Eine Eröffnung des Verfahrens gegen Oberst Guimarães vor dem nunmehr zuständigen Geschworenengericht in São Paulo scheiterte zunächst daran, dass er mittlerweile parlamentarische Immunität genoss. In der Zwischenzeit war er nämlich – mit der Wahlnummer 111 – in den Landtag von São Paulo eingezogen. Oberst Guimarãres beteuerte stets, seine Wahlnummer habe rein zufällig der Anzahl der ermordeten Gefangenen entsprochen. Kritische Beobachter wie Sandra Carvalho von der brasilianischen Menschenrechtsorganisation Justiça Global (Globale Gerechtigkeit) gehen jedoch davon aus, dass die Zuordnung ganz bewusst festgelegt wurde – Oberst Guimarães sei nicht trotz, sondern gerade wegen des Massakers gewählt worden. Der Journalist und Buchautor Josmar Jozina, der sich seit vielen Jahren intensiv mit den Zuständen in den Gefängnissen von São Paulo beschäftigt, unterstützt diese These. Josmar Jozina erinnert sich noch gut daran, wie am Tag nach dem Massaker die Telefondrähte seiner Redaktion heißliefen, weil unzählige AnruferInnen ihre Genugtuung über die Ermordung der Gefangenen zum Ausdruck bringen wollten.
Der Prozess
Als Oberst Guimarães schließlich im April 2001 der Prozess gemacht wurde, wies er jegliche Verantwortung für die Ermordung der Gefangenen von sich. Zu seiner Verteidigung brachte er vor, dass nur 111 und nicht alle 2.200 Gefangenen umgekommen seien. Dies zeige, dass er nicht geplant habe, die Gefangenen zu töten. Der Staatsanwalt konterte: „Es ist, als wenn Hitler sich damit gerechtfertigt hätte, von den in Europa lebenden 30 Millionen Juden nur 6 Millionen umgebracht zu haben.”
Das Geschworenengericht befand den Angeklagten für schuldig und verurteilte ihn Ende Juni 2001 zu einer Gefängnisstrafe von 632 Jahren. Da Gumiarães’ Anwälte Berufung einlegten, wurde der Strafvollzug ausgesetzt.
Die Verurteilung konnte seine Popularität in der Bevölkerung nicht schmälern. Eine Woche nach dem Schuldspruch nahm Oberst Guimarães unter dem Jubel tausender Schaulustiger an einer Militärparade teil, und bei den anschließenden Wahlen erhielt er wiederum ein Abgeordnetenmandat.
Gesellschaftliche Nachwirkungen
Während Menschenrechtsverletzungen zur Zeit der Militärdiktatur (1964-1984) von einem Großteil der brasilianischen Bevölkerung eindeutig missbilligt wurden, hat deren gesellschaftliche Akzeptanz im demokratischen Brasilien eher zugenommen, wie das Nachspiel des Prozesses gegen Oberst Guimarães gezeigt hat.
Auf der anderen Seite erhielten viele BrasilianerInnen erst durch die Medien realistische Einblicke in den Alltag der Strafvollzugsanstalten: Sie wurden Zeugen der unhygienischen Bedingungen, der chronischen Überbelegungen, der Gefangenenrevolten, der Massaker, der Korruption sowie der Misshandlungen und Folterungen durch das Gefängnispersonal. Zehn Jahre nach dem Massaker kamen gleich mehrere Bücher auf den Markt, die über die Verhältnisse im Gefängnis von Carandiru und das Massaker berichteten. Brasiliens größter Fernsehsender Globo strahlte eine Serie zu dem Thema aus. Und der 2003 gedrehte Streifen Carandiru wurde zu einem der erfolgreichsten Filme Brasiliens: mehr als 4,5 Millionen ZuschauerInnen drängten sich in die Kinos.
Menschenrechtsorganisationen, kritische JournalistInnen und andere fortschrittliche Kräfte fordern vom brasilianischen Staat seit langem ein rigoroses Einschreiten gegen die unter einer zivilen Regierungsform zunehmenden gewalttätigen Übergriffe, die von staatlichen Sicherheitskräften ausgeübt werden. Eine bürgernahe Polizei und eine auf Resozialisierung zielende Gefängnispolitik stehen ganz oben auf ihrer Agenda.
Situation in den Gefängnissen
Eine Besserung der katastrophalen Verhältnisse in den Haftanstalten ist nicht in Sicht. Im Gegenteil, die Situation spitzt sich von Jahr zu Jahr zu, vor allem aufgrund des steten Anstiegs der Gefangenenzahl. 1992 befanden sich insgesamt 120.000 Menschen in den Haftanstalten; mit 51.000 Häftlingen hatte São Paulo schon damals den höchsten Anteil. In den darauf folgenden 12 Jahren stieg die Anzahl der Häftlinge auf mehr als das Doppelte: in Brasilien insgesamt auf 250.000, in São Paulo allein auf 104.000.
Oftmals ist die gemeinsame Unterbringung von Verurteilten und Untersuchungshäftlingen geübte Praxis. Wegen Ladendiebstahls verdächtigte Untersuchungsgefangene sitzen nicht selten mit zu lebenslanger Haft verurteilten MehrfachmörderInnen zusammen. Eine Resozialisierung ist in unter solchen Bedingungen undenkbar.
Das Profil der brasilianischen Gefängnisinsassen ist nahezu homogen: Sie stammen fast ausschließlich aus extrem armen Verhältnissen. Zwei Drittel sind dunkelhäutig, 79,9 Prozent sind funktionale AnalphabetInnen, 54,2 Prozent sind jünger als 30 Jahre, und jedes Jahr sinkt der Altersdurchschnitt. Man kann behaupten, die Gefängnisse in Brasilien sind zu einem ‚Armendepot’ geworden.
Law-and-Order-Politik
Organisationen, die sich für menschenwürdige Bedingungen der Häftlinge einsetzen, finden in der brasilianischen Gesellschaft kaum Rückhalt und sind oftmals sogar direkten Anfeindungen und Bedrohungen ausgesetzt, wie die folgende an die Gefängnispastorale von São Paulo gerichtete E-Mail verdeutlicht:
„Herzlichen Glückwunsch, ihr Mörder von der Gefängnispastorale. Ihr seid für Morde, Folter, Vergewaltigung und sexuelle Gewalt an unseren Kindern, Freunden, Müttern und Brüdern verantwortlich. Wir haben diese Woche mit unserem Kreuzzug gegen euch begonnen, und wir werden nicht Halt machen, bis die Todesstrafe und die Folter gegen Vergewaltiger und Mörder eingeführt sind. Wir werden euch lynchen und ins Gefängnis stecken – ihr Verteidiger des Verbrechens.“
Die AbsenderInnen präsentieren hier ein menschenverachtendes und aggressives Gedankengut, was auch in den Köpfen der brasilianischen Öffentlichkeit verinnerlicht wird und Anklang findet – eingeschlossen das brutale Vorgehen von PolizistInnen und GefängniswärterInnen. Die Gouverneurin von Rio de Janeiro Rosinha Matheus Garotinho brachte es im Mai 2003 anlässlich eines Presseinterviews auf den Punkt: „Wir wollen nicht, dass jemand umkommt, aber wenn jemand sterben muss, dann derjenige, der Schlechtes in die Gesellschaft bringt.“
Straflosigkeit
Vor diesem gesellschaftlichen Hintergrund überrascht es nicht, wenn Verfahren gegen Menschenrechtsverbrecher regelmäßig mit Freisprüchen enden. Auch bei schweren Menschenrechtsverletzungen, die nationale und internationale Ächtung hervorrufen, bleiben die TäterInnen zumeist auf freiem Fuß. Der Fall von Oberst Guimarães steht stellvertretend für zahlreiche Militärs und PolizistInnen, die in den vergangenen Jahren an Massakern beteiligt waren.
Das demonstrative Desinteresse der Ermittlungsbehörden und Gerichte an der strafrechtlichen Verfolgung von Verbrechen führt wiederum zu einem Anstieg der Delikte, weil sich die Täter in Sicherheit wiegen können.
„In Brasilien schützt die Justiz einige Personen, während sie andere verfolgt.“ Diese Schlussfolgerung zog die UN-Sonderberichterstatterin für außergerichtliche Hinrichtungen Asma Jahangir am Ende ihres dreiwöchigen Besuchs in Brasilien Anfang Oktober 2003. Die Beauftragte der Vereinten Nationen kritisierte die Straflosigkeit in Brasilien scharf. Was sie am meisten erschreckte, war die „Taubheit und Langsamkeit der Justiz.” Die Entscheidung vom 16. Februar 2006 hat die Einschätzung der UNO-Beauftragten auf traurige Weise bestätigt.