Fotografie | Nummer 358 - April 2004

Straßenkinder fotografieren sich

In dem Bildband Narben auf meiner Haut zeigen kolumbianische Straßenkinder ihre Welt

Weltweit gibt es schätzungsweise 20 bis 30 Millionen Straßenkinder. Doch ist es schwierig, etwas von ihrem Alltag zu erfahren. Ihr Leben, ihre Anschauungen und ihre Probleme bleiben den meisten von uns verborgen und ihnen damit die Rückkehr in Sicherheit und Geborgenheit verwehrt. Ein deutsch-kolumbianisches Projekt hat sich jetzt erstmals ihrer Sicht der Welt angenommen und in einem Bildband dokumentiert. Die Erkenntnisse, die dabei entstanden sind, eröffnen allen eine kleine, neue Welt.

Jérôme Cholet

John Freddy ist ungefähr 17 Jahre alt. Sein Bein ist eingegipst, und mit seinen Krücken kann er sich nur langsam fortbewegen. Pedro ist trotz seiner 16 Jahre nur 1.50 Meter groß. Er zieht das Hemd bis zum Hals hoch und zeigt auf eine große Narbe an der Schulter. Victor ist 14 Jahre alt, als er aufgeregt an seinem Hemd knibbelt, werden einige Narben auf seinem Bauch und an den Schultern sichtbar, die ihm jemand mit einer Flasche beigebracht hat. Carlos, Juan Carlos, Jorge und Wilson geht es nicht anders, denn sie sind Straßenkinder in der kolumbianischen Millionenmetropole Medellín und von diesem Schicksal gezeichnet.
Der Zugang zu diesen Kindern, die sich mittlerweile auf allen Kontinenten meist als Bettler, Stricher, Diebe oder Dealer durchschlagen müssen, gestaltet sich schwierig. Ob in Berlin, in Nairobi oder Manila, in St. Petersburg oder London, in Bombay oder wie in diesem Fall Medellín, die Sichtweisen und das Leben der von UNICEF weltweit auf 20 bis 30 Millionen geschätzten Straßenkinder bleiben im Verborgenen. Häufig wird nicht mehr gesehen, als ihre verwahrloste Gestalt, ihre Verhaltensauffälligkeiten, ihre Krankheiten oder ihr Hang zu Drogen und Gewalt.
Kolumbien ist ein klassisches Land der Straßenkinder. Seit über 300 Jahren sind die Straßen für viele die letzte Zufluchtstätte geworden. Im 19. Jahrhundert wurden sie als chinos de la calle bezeichnet, heute nennt man sie gamines (Straßenkinder) oder niños deplazados (Kinder vom Land Vertriebener, die auf der Straße landen). Häufig schlägt die „limpieza social“ zu. Obdachlose Minderjährige gehören zu den bevorzugten Opfern: „Besser man tötet sie, solange sie klein sind,“ heißt es, „später werden sie doch zu Banditen.“ Für das neueste Phänomen, der aus den Vororten geflohenen Kinder, gibt es noch gar keinen eigenen Namen. Sie sind direkte Folge des Bürgerkrieges und seiner neuerlichen Eskalation. „Mit dem Einzug der Auseinandersetzungen in die großen Städte wurden Kinder und Jugendliche Opfer einer neuen Welle der Gewalt. Anfang März flogen tagelang Helikopter über Medellín. Sie kreisen vor allem über dem Elendsgürtel der Stadt. Jetzt gerät auch die städtische Zivilbevölkerung und mit ihr vor allem die Jugendlichen zwischen die Fronten“, stellen Hartwig Weber und Sor Sara Sierra, die AutorInnen des Buches erschüttert fest. Neben der Publikation dieses Buches leiten sie, ein deutscher Theologieprofessor und eine kolumbianische Salesianerschwester, das Projekt „Patio 13 – Schule für Straßenkinder.“

gamines oder niños deplazados
„Straßenkinder fotografieren sich selbst“, war nur eine Frucht ihrer Arbeit. Und es ist die beliebteste Anekdote der Projektleiter, von der Verwunderung zu berichten, die sie überkam, als sie die einhundert Einwegkameras, die sie Straßenkindern in Medellín austeilten, nach wenigen Tagen wieder vollständig und mit vielfältigsten Motiven wieder zurückbekamen. Nicht ein Kind hatte die Befürchtung, die Kameras an der nächsten Ecke für ein paar Hundert Pesos zu verkaufen, bestätigt. Zu verlockend war die Aussicht, ein eigenes Foto in Händen zu halten. Verlockender selbst als das Geld in Klebstoff zu investieren, von dem die meisten Kinder abhängig sind. Veröffentlicht wurde eine Auswahl dieser Fotos in dem vorliegenden Band, den sich die AutorInnen zudem zum Anlass nahmen, über die Bedeutung von Fotos, von Verletzungen, aber auch des Bürgerkrieges und der Politik zu reflektieren. Den Zugang zu den Straßenkindern fanden sie durch Gespräche über ihre Narben und ihre Verletzungen. „Gelegenheiten für eine Kontaktaufnahme gehen oft von irgendeiner Auffälligkeit ihres äußeren Erscheinungsbildes aus; ein blauer Fleck am Knie, ein entzündetes Auge oder eine sichtbare Narbe sind Gesprächsanlass genug. Tut es Dir weh? Straßenkinder lassen sich gerne auf solche Fragen ein,“ konstatieren die AutorInnen und konnten so einen Grundstein zur Auseinandersetzung mit diesen Kindern legen. Schnell kamen sie dabei vom Kleinen ins Große, von den Bildern zu wissenschaftlichen Werken und von dem Schicksal Einzelner zu Erkenntnissen für die gesamte Gesellschaft. Ein äußerst lesenswertes Werk und ein gutes Beispiel für die Notwendigkeit, die Welt auf der Straße zu erforschen – und nicht im Elfenbeinturm.

Die Fotos sind aus dem Bildband.
Hartwig Weber und Sor Sara Sierra J.: Narben auf meiner Haut. Straßenkinder fotografieren sich selbst. Edition Büchergilde, Frankfurt am Main, 2003. 198 Seiten, 24,90 Euro.

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