Literatur | Nummer 505/506 - Juli/August 2016

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Salvador Elizondos Farabeuf oder die Chronik eines Augenblicks ist eine Abhandlung über das Vergessen, das Erinnern und das Festhalten der Ewigkeit

Der mexikanische Autor Salvador Elizondo (1932-2006) war Vorreiter einer hispanoamerikanischen Literaturbewegung der sechziger und siebziger Jahre, die von der Kritikerin Margo Glantz schlicht La Escritura (dt. „Das Schreiben“) getauft wurde. Diese zeichnete sich durch die explizite Auseinandersetzung mit der Sprache des literarischen Textes aus. Farabeuf, das Meisterwerk Elizondos, ist einer dieser Texte, die wir nie wieder loswerden, obwohl er uns den Drang, ihn zu vergessen, durch seine schonungslose Verfasstheit und fehlende Handlung geradezu aufzwingt.

Von Elena von Ohlen

„Gibt es etwas hartnäckigeres als die Erinnerung?“, fragt der Erzähler, nur um sich diese Frage Seiten später selber zu beantworten: „Das Vergessen ist hartnäckiger als die Erinnerung“. Um sowohl dem Vergessen als auch dem Erinnern zu entgehen, versuchen die beiden einzigen Figuren – der Mann und die Frau – Augenblicke photographisch festzuhalten, sie einzufrieren, aus dem Gedächtnis heraus zu transportieren und an einem dem Geiste fernen Ort zu fixieren. „Die Photographie –, sagte Farabeuf, – ist eine statische Form der Unsterblichkeit“. Der Titel bringt die Notwendigkeit und gleichzeitig die Unmöglichkeit des Festhaltens auf den Punkt: in dem Moment, da ein einziger Augenblick chronologisch erfasst werden kann, ist er kein Augenblick mehr, sondern eine Erinnerung. Die Erinnerung wiederum wird durch das Vergessen verdrängt. Dieser unauflösbare Konflikt ist der einzige rote Faden, der die Fragmente des Romans – wobei Elizondo selbst ab der zweiten Auflage veranlasste, den Untertitel novela vom Cover zu streichen – miteinander vereint.
Der Mann, der dem französischen Chirurgen Louis Hubert Farabeuf (1841-1910) nachempfunden ist und dem eine Leidenschaft für die erotische Ästhetik von Amputationen nachgesagt wird, und die Frau, eine Krankenschwester, begegnen sich immer wieder in verschiedenster Gestalt: mal sind sie Farabeuf und die Krankenschwester, mal zwei Menschen, die das Foto eines gefolterten Mannes im Augenblick seines Todes betrachten, mal ihr eigenes Spiegelbild, mal treiben sie ihr erotisches Amputationsspiel so auf die Spitze, dass sie selbst und auch die Leser*innen nicht mehr wissen, wer sie sind. Sie begegnen sich auf dem Operationstisch oder vor einem großen, goldumrahmten Spiegel in einem alten, verlassenen Haus in der Pariser Rue de l‘Odéon. Die Ekstase, in der sich beide in den Augenblicken befinden, die sie festzuhalten suchen, lässt erahnen, dass Chirurgie, Amputation, Folter und Erotik, Leben, Tod und Traum für beide nicht voneinander zu trennen sind. Die Symbolik des Spiegels begleitet den Mann und die Frau in ihrer Jagd nach Augenblicken: „Erinnerst du dich“, fragt Farabeuf immer wieder, während er in den goldenen Spiegel schaut. Oder „Wem gehört dieser Körper, den wir so sehr lieben?“, heißt es in einem der wenigen Dialoge zwischen den beiden. „Und wenn wir nur das von einem Spiegel wiedergegebene Bild wären?“, „Sind wir die Erinnerung von jemandem, der uns gerade vergisst?“ Der Mann und die Frau existieren nur miteinander, durch die chirurgische Intervention, durch den Wunsch nach physischer Grenzüberschreitung und dem Ausklinken aus dem eigenen Körper.
Während Elizondo sich mit Farabeuf in Mexiko unsterblich gemacht hat, ist er hierzulande kaum bekannt. Die einzige deutsche Übersetzung von Ursula Pfisterer ist 1969 im Hanser Verlag erschienen und fristet nun seit Jahrzehnten ihr Dasein in Antiquariaten. Eine Neuauflage ist längst überfällig, um auch dem deutschsprachigen Publikum den Zugang zu einem außergewöhnlichen Werk zu erleichtern, das weder-noch ist, das nicht festlegt, wo das Leben aufhört und der Tod beginnt und uns mitten in der Suche nach der Ewigkeit ausharren lässt.

Salvador Elizondo // Farabeuf oder die Chronik eines Augenblicks // Hanser Verlag // München 1969 // Übersetzt von Ursula Pfisterer // www.hanser.de

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