Mexiko | Nummer 365 - November 2004

Suche nach Schuldigen am schmutzigen Krieg

Ex-Präsident Luis Echeverría gerät bei Untersuchungen zu den Menschenrechtsverletzungen immer mehr in die Kritik

1968 wurden auf dem Platz der drei Kulturen in Mexiko-Stadt Hunderte von StudentInnen ermordet, 1971 gab es ein weiteres Massaker. Die ganze Zeit herrschte Staatsterror. Neue Forschungen zeigen immer deutlicher die Struktur des Angstregimes: 1971 griff eine paramilitärische Gruppe die DemonstrantInnen an, die direkt vom Militär gesteuert war. Ex-Präsident Echeverría soll sich deswegen nun vor Gericht verantworten.

Dinah Stratenwerth

Ich war 22 Jahre alt und starb vor Angst, aber ich hatte mich entschieden, auf die Straße zu gehen. Ich war einer von tausenden Jugendlichen, die gelernt hatten, mit der Angst zu leben. Angst, wisst Ihr? Dieser unerklärliche Schweiß an den Händen, diese schuldbeladenen Bilder von Freunden im Gefängnis, dieser übliche Albtraum von einem Eimer mit schmutzigem Wasser, in das sie deinen Kopf tauchen. Angst vor einem Staatsapparat der unterdrückte, festnahm, folterte, verschwinden ließ, mordete. Ich war einer mehr.“

Angst der StudentInnen

So beginnen die Erinnerungen Paco Ignacio Taibos II. an den 10. Juni 1971. Die erste große StudentInnendemonstration nach dem Massaker auf dem Platz der drei Kulturen in Tlatelolco 1968 stand bevor. In diesem Jahr, zwei Wochen vor Beginn der olympischen Spiele in Mexiko hatten Soldaten auf dem Platz, wo StudentInnen ein friedliches Meeting abhielten, ein Blutbad angerichtet. In jener Nacht des 2. Oktober waren Hunderte umgekommen und verletzt worden. Weitere wurden verhaftet und gefoltert, einige sind bis heute verschwunden.
Daher die Angst der StudentInnen am 10. Juni 1971. Und sie sollte nicht unbegründet bleiben. Taibo II. beschreibt, wie er hinter den überall aufgestellten PolizistInnen andere mit Stöcken bewaffnete Jugendliche entdeckte und nicht wusste, wer sie waren.
Wenig später griffen diese Jugendlichen die DemonstrantInnen mit den Holzknüppeln und mit Pistolen an. Etwa 40 Menschen starben, Hunderte wurden verletzt. Wenig später erschien die Armee und sperrte das gesamte Gebiet ab. Lange bestritt sie, etwas mit dem Vorfall zu tun zu haben. Rivalisierende StudentInnen hätten sich eine Straßenschlacht geliefert, so die offizielle Version. Doch die Wahrheit kam nach und nach ans Licht: Die Gruppe bewaffneter Jugendlicher war eine paramilitärische Organisation genannt „Los Halcones“ („Die Falken“), die über die Polizei in Mexiko-Stadt vom Militär gesteuert wurde. Dessen oberster Befehlshaber war der Präsident persönlich: Luis Echeverría. Schon 1982 gab es eine Untersuchung der Vorfälle, die allerdings eingestellt wurde. 2001 rief dann Präsident Fox eine auf Verbrechen der Vergangenheit spezialisierte Staatsanwaltschaft (FEMOSPP) ins Leben.

Suche nach der Wahrheit

Diese verklagte im Juli diesen Jahres den Ex-Präsidenten Echeverría und elf weitere hochrangige ehemalige Politiker und Militärs wegen Völkermords. Dadurch wollte der die Untersuchung leitende Richter Ignacio Carillo Prieto die Verjährung des Verbrechens umgehen. Er hatte damit allerdings keinen Erfolg: Die Klage wurde zurückgewiesen und liegt nach einer neuen Eingabe der FEMOSPP nun beim Obersten Gerichtshof. Entscheidet der, dass Echeverría des Völkermords angeklagt werden kann, könnte der 82-Jährige noch im Gefängnis landen.
Vorausgegangen war dieser Entwicklung eine Klage von Rosario Ibarra, Mutter des 1975 verschwundenen Jesus Piedra Ibarra, im Oktober 2003, die damit eine erste Barriere durchbrochen hatte: Der Oberste Gerichtshof hatte in diesem Fall ein Verfahren gegen hohe Militärs zugelassen, weil Verschwindenlassen nicht verjährt – der Entführte ist schließlich nach wie vor nicht aufzufinden. Dieser juristische Dreh wurde schon häufig gegen Ex-Diktatoren angewandt, die sich durch Immunität zu schützen suchen, gegen Augusto Pinochet aus Chile zum Beispiel.

Die Falken in Tlatelolco

Echeverría soll aber nun nicht nur wegen des schmutzigen Krieges der 70er Jahre zur Verantwortung gezogen werden, eine neue Studie der mexikanischen Politologin Soledad Loaeza belastet ihn auch wegen des Massakers in Tlatelolco.
1968 war Echeverría Innenminister. Laut Loaezas Nachforschungen erkannte er die Möglichkeit zum Machtgewinn, als klar wurde, dass Díaz Ordaz mit der damaligen Situation heillos überfordert war: Die StudentInnen protestierten, das Wirtschaftsmodell der Importsubstituierung brach zusammen, die Unternehmerschaft wollte radikale Maßnahmen sehen und die olympischen Spiele standen bevor. Und der Kongress verweigerte dem Präsidenten die Gefolgschaft. In dieser Situation, so die Politologin, übernahm Echeverría das Ruder und tat, was er für das Effektivste hielt: Hart durchgreifen.
Auch der General Ernesto Gutierrez Gómez Tagle, einer der leitenden Militärs der Operation in Tlatelolco, dessen Tagebuch vor kurzem veröffentlicht wurde, erwähnt Echeverría als treibende Kraft hinter der Aktion. Gómez Tagle war der Kommandant einer Gruppe, die sich „Olympisches Bataillon“ nannte und speziell für den Schutz der Spiele ins Leben gerufen wurde.
Bei der Auflösung der Demonstration sollte sein Bataillon in Zivil auftreten, gekennzeichnet durch die Bekleidung mit einem weißen Handschuh. Ihre Aufgabe war es, das Streikkomitee der StudentInnen festzunehmen. Laut Augenzeugenberichten schossen „die mit dem weißen Handschuh“ auf die StudentInnen von der einen Seite, während die Soldaten von der anderen angriffen, wodurch sich sogar beide gegenseitig verletzten. Gómez Tagle zeigt sich in seinem Bericht dennoch überzeugt, seine Aufgabe gut und richtig durchgeführt zu haben.
Weitere Ermittlungen der FEMOSPP legen die Vermutung nahe, dass die Halcones auch 1968 schon mit von der Partie waren und auf das Militär am Platz der drei Kulturen geschossen haben. Damit wären es schon drei militärische Gruppen, zwischen denen die StudentInnen hin- und hergejagt wurden: Soldaten, Olympisches Bataillon und Halcones.

Entdeckungen in alten Dokumenten

Tlatelolco und der „Halconazo“, wie das Morden vom Juni 1971 auch genannt wird, waren nur Höhepunkte des „schmutzigen Krieges“ zwischen Guerilla und Militär, der vor allem in den 70er Jahren in Mexiko wütete und dessen Täter fast alle straffrei sind. Manuel Diaz Escobar, der Chef der Halcones, wurde im Februar 1973 von Echeverría nach Chile geschickt, da die Regierung Echeverrías gute Beziehungen zum sozialistischen Regime Allendes unterhielt.
Dieses wurde aber im selben Jahr gestürzt, woraufhin Echeverría die Beziehungen zu Chile und der folgenden Diktatur Augusto Pinochets 1974 abbrach. Doch paradoxerweise ist das, was er dem chilenischen General vorwarf, mit seiner Billigung oder unter seinem Befehl auch in Mexiko passiert.
2002 öffnete sich zum ersten Mal das Generalarchiv Mexikos zur Erforschung dieser blutigen Zeit, allerdings nur für Material von 1968 bis heute. Die Journalisten und Schriftsteller Julio Scherer García und Carlos Monsiváis haben daraufhin kürzlich in einem Buch die Ergebnisse ihrer Suche in den Papierstapeln des Archivs und einige ihrer Reflexionen dargelegt.
Sie beschreiben, wie Echeverría dem damaligen Bürgermeister von Mexiko Stadt Alfonso Martínez Dominguez befahl, nach dem 10. Juni 1974 erst eine Pressekonferenz und dann eine Großdemonstration pro Regierung zu organisieren. Am 15. Juni sollte diese stattfinden und so groß wie möglich sein.
„Ich setzte Himmel und Hölle in Bewegung“, erinnert sich Martínez in Scherers und Monsiváis´ Buch, „und ich schaffte es, es kamen sehr viele Menschen“. Wenige Tage später zwang Echeverría seinen treuen Gefolgsmann dann zum Rücktritt – ein Bauernopfer, um die Stimmen zu beruhigen, die die Regierung anklagten. Die Existenz der Halcones, erklärt Monsiváis, wurde lange als „Legende“ bezeichnet. Doch Bücher wie das von ihm und Scherer geschriebene, die Aktivitäten von FEMOSPP, anderen Wissenschaftlern und der unermüdliche Kampf der Verwandten von Verschwundenen und Ermordeten ändern langsam das Geschichtsbild.
Ebenso wie die Fotos, die diesen Artikel begleiten, auf denen gewalttätige Übergriffe am 10. Juni 1971 gezeigt sind. Dreißig Jahre lang begleiteten sie Paco Ignacio Taibo II. bei jedem Umzug. Er hat sie nicht alle selbst fotografiert, sondern er hat sie teilweise gesammelt und bewahrt. In diesem Jahr hat er sich entschieden, einige von ihnen in der Tageszeitung La Jornada zu veröffentlichen. In der Hoffnung, einige der FotografInnen wiederzufinden.

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