Suchprozesse emanzipativer Politik
Resonanzen des Zapatismus in Westeuropa
Vergegenwärtigen wir uns die Ausgangssituation des zapatistischen Aufstands 1994: Nach dem Fall der Berliner Mauer gewann nicht nur die in den 80er Jahren begonnene neoliberal-kapitalistische Globalisierung eine noch stärkere Dynamik. Im Zusammenhang damit erstarkten auch gerade in den wohlhabenden westeuropäischen Ländern nationalistische, rassistische und wohlstandschauvinistische Bewegungen. Linke Kritiken waren zuvorderst defensiv und richteten sich gegen die Auswüchse aktueller Entwicklungen wie etwa im Zusammenhang mit Migration und Rassismus, der Umstrukturierung der Innenstädte oder der wachsenden Arbeitslosigkeit. Nicht mehr eine öffnende Perspektive, sondern jene der Verteidigung erreichter sozialer Standards dominierten. Die Zapatistas gehörten zu den Entschiedensten und Ersten, die den Widerstand gegen die neoliberale Globalisierung praktisch formulierten ohne dabei einfach auf den traditionellen Klassenbegriff zurückzufallen.
Zapatistische Anregungen
Beeindruckend waren von Anfang an die ungewohnte Sprache, mit der die EZLN an die Öffentlichkeit ging, die besondere Art der Vermittlung theoretischer und politisch-strategischer Überlegungen mit dem kulturellen und historischen Kontext und vor allem das Fehlen des abgeklapperten revolutionären Jargons. Theoretisch und politisch waren vor allem die Art und Weise des Umgangs mit der Macht wichtig, die Verabschiedung der traditionellen Konzepte einer Übernahme der Staatsmacht, die Betonung des politischen Kampfs gegenüber dem militärischen, der ganz andere Begriff von Subjektivität, die mit dem Begriff der „Würde“ verbundene Vorstellung, dass sich die Menschen im Prozess der Revolte selbst verändern und entwickeln müssen, und zwar in der praktischen Gestaltung ihres Lebens. Wichtig war, dass hier ein Konzept von „Zivilgesellschaft“ entwickelt wurde, das im Kontrast zu den damals hierzulande üblichen Diskussionen stand. Angesichts der weltpolitischen Umbrüche nach 1989 hatte dieser Begriff innerhalb des linksliberalen Spektrums eine beachtliche Konjunktur. Grundlage dafür war die Vorstellung, dass es möglich sei, die kapitalistische Gesellschaft innerhalb der bestehenden ökonomischen und politischen Strukturen zu „zivilisieren“. Die bestehende „Zivilgesellschaft“ wurde dabei ungeachtet der sie durchziehenden ökonomischen Ausbeutungsverhältnisse und Machtstrukturen, der damit verbundenen persönlichen Prägungen und sozialen Praktiken als „demokratisch“ angesehen. Dies bedeutete eine Orientierung an der frühbürgerlichen Zivilgesellschaftstheorie mit ihrer unvermittelten Entgegensetzung von demokratischer civil society und staatlicher Herrschaftsapparatur. Die Zapatistas verstehen unter sociedad civil vor allem die um Emanzipation ringenden Menschen, wozu in den 90er Jahren auch viele gehörten, die „nur“ um die Emanzipation von der Staatspartei PRI kämpften. Sie verwenden also zunächst einmal auch einen „liberalen“ Begriff von Zivilgesellschaft. In Mexiko wirkte in einer konkreten historischen Situation – das von vielen ersehnte Ende der 70-jährigen Einparteienherrschaft – dieses strategisch eingesetzte Verständnis durchaus politisierend. Zugleich wies der Begriff durch die zapatistischen politischen und sozialen Praxen immer auch darüber hinaus, denn er lenkte den Blick auch auf die vielfältigen Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse, aus denen sich die rebellierenden Indigenen befreien wollten. Durch ihre praktische Kritik an bürgerlichen Vorstellungen ermöglichten die Zapatistas die Wiedergewinnung eines kritischen Begriffs.
Alternativen zum Staat
Eine wichtige Anregung für die globalisierungskritische Bewegung betrifft das Staatsverständnis der ZapatistInnen. Die Staatsfixierung vieler GlobalisierungskritikerInnen lässt sich teilweise mit der erwähnten Defensive der Linken in den 90ern erklären. Auf weltpolitische Umwälzungen, den Zusammenbruch des Staatssozialismus und den damit verbundenen Niedergang radikaler Protestbewegungen folgte eine Reorientierung an den herrschenden Mustern von Politik. Gleichwohl ist diese Staatsfixierung zumindest verkürzt, denn der Staat steht – entgegen der Rhetorik sozialdemokratischer Intellektueller – nicht gegen den Markt, sondern ist dessen Bedingung. Der kapitalistische Staat sichert die Eigentumsverhältnisse und die rechtlichen Regeln, die das Funktionieren des Markts überhaupt erst möglich machen. Das „Nullsummenspiel“ Markt und Staat – der Staat als die Instanz, die gegen die Kräfte des Marktes, das heißt die Zwänge des kapitalistischen Verwertungsprozesses eingesetzt werden kann, was etwa in großen Teilen des Attac-Spektrums suggeriert wird – entspricht nicht der Realität. In den aktuellen Bewegungen besteht zudem eine sehr reale Gefahr, nämlich dass der „großen“ Politik der Vorrang gegeben wird, gar noch der internationalen vor der nationalen und lokalen. Dabei werden „kleinteilige“, das heißt nicht-staatliche, gegeninstitutionelle und alltägliche Praxen sowohl für die Reproduktion hegemonialer Herrschaft wie auch für deren Infragestellung als weniger wichtig erachtet.
Nach Meinung der ZapatistInnen sollte der Staat – sie sprechen von Regierung – als zentrale Herrschaftsapparatur grundlegend verändert werden. Das Gesetz zu indigenen Rechten und Kultur hätte enorme, sowohl materielle als auch politisch orientierende Wirkungen für die Indigenen, aber auch für deren öffentliche Wahrnehmung und den Umgang mit ihnen gehabt. Die Antwort der Zapatistas auf das Scheitern der von ihnen angestrebten Verfassungsänderung zur Festschreibung indigener Rechte und Kultur im Frühjahr 2001 war für viele überraschend, aber folgerichtig: Sie zogen sich über eineinhalb Jahre aus jeglicher öffentlichen Diskussion zurück, zu der sie aus eigener Sicht zu diesem Zeitpunkt nichts mehr beizutragen hatten, um sich auf den Aufbau autonomer Gesellschaftsstrukturen zu konzentrieren, die ihnen in ihrem spezifischen Kontext als passend erscheinen. Im August 2003 stellten sie die nach langen Diskussionen entwickelten eigenen Repräsentationsstrukturen bei einem Fest mit 20.000 TeilnehmerInnen vor. Es gibt seither 30 „autonome rebellische Landkreise“, die etwa ein Drittel des Gebietes von Chiapas umfassen, und dort die „Räte der guten Regierung“ (Juntas del Buen Gobierno, gegen die als mal gobierno bezeichnete Regierung), welche den zivilen Zapatismus repräsentieren.
Die Guerilla will sich auf eine Verteidigungsfunktion zurückziehen. Zudem wurden die nach dem Aufstand 1994 eingerichteten fünf überregionalen Treffpunkte (so genannte Aguascalientes) in autonome Regionalräte umgebildet, die vor allem die Probleme innerhalb und zwischen den Gemeinden, ob zapatistisch oder nicht-zapatistisch, angehen sollen. Die entstehenden eigenen politischen Strukturen werden als caracoles (Schneckenhäuser) bezeichnet, was wie eine Metapher der spiralförmigen Ausdehnung der indigenen Regierungsformen verstanden werden kann. Diese caracoles stellen die bislang deutlichste Infragestellung der etablierten staatlichen Strukturen dar.
Die Perspektive bleibt weiterhin, dass es nicht nur darum geht, von der Regierung Rechte zugesprochen zu bekommen, sondern von staatlicher Politik die Absicherung veränderter Lebensverhältnisse zu fordern. Dabei spricht die EZLN auch offen die Widersprüche dieses Projektes an. Denn in vielen Regionen bedeuten autonome Strukturen auf staatliche Unterstützung verzichten zu müssen, was angesichts der großen Armut vielfach Probleme bereitet. Ein anderer dramatischer Widerspruch bleibt angesichts der Militarisierung von Chiapas durch staatliche und paramilitärische Truppen die Defensivhaltung der EZLN. Obwohl die Repression stark ist, immer wieder Zapatistas ermordet werden und über ein Eingreifen der bewaffneten Guerilla Morde teilweise verhindert werden könnten, verweigert sich die EZLN der militärischen Logik.
Die praktische Seite der Diskurse
Deutlich wird insgesamt: Emanzipative Politik „geht“ nicht schnell – wenngleich „Sprünge“ vor allem auf der symbolischen Ebene und als von Medien geförderte positive Selbsteinschätzung unverzichtbar sind. Deswegen sind der Aufstand in Chiapas und die Proteste in Seattle und Genua als international wahrgenommene Ereignisse wichtig. In überwiegendem Maße ist gesellschaftliche Veränderung in emanzipativer Absicht jedoch komplizierter und muss an die alltägliche Praxis in Uni, Betrieb, Stadtteil, politischen Organisationen oder persönlichen Beziehungen rückgebunden werden. Denn meist wird unterschätzt, dass der Neoliberalismus gerade auf der kulturellen und sozialisatorischen Ebene überaus erfolgreich war, dass seine Herrschaft ganz wesentlich darauf beruht, dass seine Denkweisen und Verhaltensformen sich tief in den (meisten) Köpfen festgesetzt haben. Die Zapatistas bieten auf diesem Gebiet viele Anregungen. Die „Übersetzungsarbeit“ muss jedoch in den spezifischen räumlichen oder inhaltlichen Kontexten geleistet werden. Die ZapatistInnen sind, einem eigenen Ausdruck zufolge, Katalysator. Das scheint ein geeigneter Begriff, denn sie regen an, eigene Praxen zu überdenken, sie motivieren, weil es am „Ende der Geschichte“ noch dynamische emanzipatorische Bewegungen gibt, sie binden ein ohne Vorgaben zu machen. Mehr noch – und hier liegt eine vielleicht bislang unterschätzte Neuerung: Das radikale Denken und Handeln der Zapatistas wird gerade nicht im Sinne einer Wahrheitsproduktion verbreitet. Sie versuchen eine andere Sprache, einen anderen Ton zu finden, der nicht „Wahrheiten“ verkündet, sondern oft auf Paradoxien verweist und sich über Macht lustig macht. Auch das bedeutet die Formel „preguntando caminamos“. Paradox ist beispielsweise die Antwort auf die Frage, wer denn nun hinter der Maske des Sup stecke. Sie besteht in der Aufforderung, doch bitte schön in den Spiegel zu sehen. „Todos somos Marcos“ (Wir alle sind Marcos). Und subversiv ist die Aussage, dass wenn es sich bei der Globalisierung um einen unvermeidlichen Prozess handle, der wie die Schwerkraft nicht außer Kraft zu setzen sei, dann eben die Schwerkraft außer Kraft gesetzt werden müsse.
In den aktuellen globalen sozialen Bewegungen gibt es, wenngleich nicht dominierend, ein wachsendes „hegemonietheoretisches“ Verständnis von sozialer Herrschaft, wozu die Zapatistas durchaus beigetragen haben. Insbesondere die relative Stabilität neoliberaler Verhältnisse und ihre Verankerung in Alltagsverhältnissen sowie deren nicht zuletzt „alltagspolitische“ Veränderungen scheinen immer mehr AktivistInnen plausibel.
Natürlich geht es bei politischen Auseinandersetzungen immer auch um Begriffe, Interpretationen und Sichtweisen. Man sollte aber berücksichtigen, dass Diskurse eine materielle Basis haben, die in den herrschenden gesellschaftlichen Strukturen und Praktiken zu finden ist. Das heißt, dass es eben auch und ganz zentral darum geht, diese zu verändern. Das bezieht sich auf den ganzen Komplex der herrschenden Lebensweisen, die Produktions- und Arbeitsformen, die Geschlechterverhältnisse und Konsumnormen und nicht zuletzt auch auf Formen der politischen Organisation, die die bestehenden Herrschaftsverhältnisse nicht einfach reproduzieren. Geschieht auf dieser Ebene nichts, dann wird auch keine „Diskurshoheit“ – was immer das sei – zu erreichen sein, sondern bestenfalls vorübergehende Medienresonanz. Gerade die ZapatistInnen haben dies immer betont, einmal abgesehen davon, inwieweit ihnen es wirklich gelungen ist, eine solche Politik in die Praxis umzusetzen.
Es handelt sich hier um eine stark gekürzte Version, die vollständig in „Das Argument“ 253 (Dezember 2003) erschienen ist.