Nicaragua | Nummer 565/566 - Juli/August 2021

TABULA RASA

Interview mit Héctor Mairena zu Repressionen in Nicaragua

Nur vier Monate vor dem Wahltermin am 7. November 2021 in Nicaragua sitzen alle Anwärter*innen auf die Präsidentschafts-kandidatur nach einer beispiellosen Verhaftungswelle im Gefängnis oder stehen unter Hausarrest. LN sprachen mit Héctor Mairena, dem Pressesprecher der Partei Unamos in Berlin, über seine Einschätzung der weiteren politischen Entwicklung in Nicaragua.

Interview & Übersetzung: Elisabeth Erdtmann

Héctor Mairena ist Pressesprecher der Partei Unamos, vormals MRS (Movimiento de Renovación Sandinista), und Mitglied der Kommission für Internationale Beziehungen der UNAB. Die Partei MRS wurde 1995 gegründet und hat sich im Januar 2021 in Unamos (Unión Democrática Renovadora) umbenannt. (Foto: Unamos)


Nicaragua erlebt gerade eine beispiellose Verhaftungswelle. Inzwischen befinden sich Politiker*innen, Anwält*innen, Unternehmer*innen, Journalist*innen und Aktivist*innen des gesamten oppositionellen Spektrums von links bis rechts im Gefängnis. Wie genau war die Entwicklung und wie kann man sich den Wahltag am 7. November vorstellen? Wird Ortega ohne Gegenkandidat*in antreten und sich mit den Stimmen seiner Anhänger*innen zum Sieger proklamieren?
Die jüngste Eskalation der Gewalt begann am 20. Mai mit der illegalen Durchsuchungsaktion der Büros der Informationsmedien Confidencial und Esta Semana durch die Polizei. Diese setzte sich am 2. Juni mit der Gefangennahme von Cristiana Chamorro fort, die unter Hausarrest gestellt wurde, und den folgenden Verhaftungen von vier weiteren Präsidentschaftskandidaten. Ferner mit der Verhaftung von sechs Anführern von Unamos, der Verhaftung von Violeta Granera und José Pallais, den Führern der Nationalen Einheit (UNAB) und der Nationalen Koalition (CN) sowie José Adán Aguerri von der Christlichen Allianz und schließlich Pedro Joaquín Chamorro Barrios (Journalist und Politiker, Anm. d. Red.).

Die repressive Eskalationsspirale hat unserer Meinung nach im Wesentlichen drei Ziele: das erste ist, die Präsidentschaftskandidaten, die das größte Potenzial haben, aus dem Spiel zu entfernen. Das zweite Ziel ist, die Opposition zu demontieren und zu lähmen. Aus dem Grund haben sie die Anführer von Unamos, von der UNAB und der CN verhaftet. Das dritte Ziel ist der Versuch, die unabhängigen Medien und unabhängige Journalisten zum Schweigen zu bringen.

Das alles wird gemacht, weil es Teil der Strategie der Diktatur ist, dass die Wahlen am 7. November genau in dem Rahmen verlaufen, den sie bestimmt. Das heißt, ohne streitbare Kandidaten, ohne Kandidaten, die ein Risiko für sie darstellen, mit einem Minimum an Freiheiten und ohne politische Freiheiten für die Bürgerinnen und Bürger.

Kurzum, der 7. November ist in diesem Gesamtbild eine Farce. Aus diesem Grund haben wir erklärt, dass es gegenwärtig keine Bedingungen für freie, inklusive und international beobachtete Wahlen gibt, wie sie die nicaraguanische Opposition gefordert hat. Nach dieser Wahlfarce wird Ortega natürlich am 8. November auftreten und behaupten, der Sieger zu sein.

Welchen Hintergrund hat die Verhaftung von bekannten revolutionären Persönlichkeiten und ehemaligen Weggefährt*innen aus der Zeit des Befreiungskampfs gegen die Somoza-Diktatur wie Dora María Téllez, Hugo Torres und Víctor Hugo Tinoco, die auch Unamos-Mitglieder sind?
Ich denke, es gibt zwei Gründe, die zur Gefangennahme der Compañeras und Compañeros geführt haben. Zum einen sind sie Führungspersonen von Unamos, ehemals MRS (Movimiento de Renovaciòn Sandinista, Anm. d. Red.). Die Partei ist innerhalb der UNAB eine ihrer wesentlichen Säulen, namentlich in den verschiedenen Arbeitsbereichen. Auf der anderen Seite gibt es einen persönlichen Rachefeldzug von Daniel Ortega und Rosario Murillo gegen historische Figuren wie Dora María Téllez, Hugo Torres und Víctor Hugo Tinoco. Einige von ihnen haben in der Vergangenheit Ortega in Frage gestellt, aber Ortega lässt nicht zu, in Frage gestellt zu werden, schließlich ist er ein Diktator.

Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) hat wiederholt eine Wahlrechtsreform angemahnt, um freie und transparente Wahlen zu ermöglichen und internationale Wahlbeobachtung gefordert. Hätte eine geschlossene Haltung gegenüber Ortega den Entwicklungsverlauf verändert?
Die OAS fordert seit Oktober letzten Jahres freie und transparente Wahlen in Nicaragua und setzte eine Frist bis zum 31. Mai dieses Jahres. Diese Frist ist abgelaufen, ohne dass Ortega den von den Nicaraguanern und der OAS geforderten Reformen zugestimmt hat. Nach Ablauf der Frist hat sich die OAS bei zwei Gelegenheiten mit der Situation in Nicaragua befasst. Am 15. Juni verabschiedete sie eine Resolution, die ein historisches Abstimmungsergebnis erreichte. Sie erhielt 26 Stimmen (von 35 Mitgliedsstaaten, Anm. d. Red.), was in der OAS in Bezug auf Nicaragua in den letzten Jahren noch nie vorgekommen ist. Die Zahl von 26 Stimmen enthüllt die Isolation der Diktatur auf dem amerikanischen Kontinent. Sie belegt die Ablehnung und Zurückweisung, die Ortegas Verhalten provoziert.

Am 21. Juni erhielt die OAS einen Bericht der Interamerikanischen Menschenrechtskommission, aus dem erneut hervorgeht, dass die Eskalation der Repression und die Verletzung der Menschenrechte in Nicaragua nicht nur anhält, sondern sich vertieft hat und Ortega dabei ist, eine im repressiven Sinne juristische und politische Barbarei zu errichten.

Die OAS wird sich in den kommenden Wochen im Juli treffen und über die Anwendung der demokratischen Charta entscheiden müssen − in der Tat ist der Ausschluss Nicaraguas aus der Organisation eine Möglichkeit. Nun gut, die OAS hat ihren Rhythmus − ein festgelegtes Verfahren. Ich möchte hier die Tatsache hervorheben, dass das Ortega-Regime in dem multilateralen Forum der OAS, rundum abgelehnt wird. Selbst von Ländern, von deren Regierungen man sagen könnte, dass Ortega zu ihnen ein mehr oder weniger freundschaftliches Verhältnis hatte, wie im Fall von Mexiko und Argentinien. Aber es wurde klar, dass Ortega auch einige Versuche dieser Regierungen, einen Ausweg zu finden, zurückgewiesen hat.

Welches Schicksal könnte die mehr als 130 politischen Gefangenen erwarten? Forderungen der Vereinten Nationen (UNO) und der Europäischen Union (EU) nach ihrer Freilassung prallen an der Regierung Ortega-Murillo ab. Welches Szenario ist da denkbar?
Für uns ist die Freilassung der politischen Gefangenen eine bedingungslose Forderung. Dagegen beabsichtigt Ortega vor allem jene Gruppe von Personen, die im letzten Monat gefangen genommen wurde, als Geiseln zu nehmen und zu versuchen, mit den Vereinigten Staaten zu verhandeln, was die Freilassung der Gefangenen im Austausch für die Aufhebung der Sanktionen bedeuten würde.

Das werden die USA nicht akzeptieren. Denn die Ursachen, die die Sanktionen gegen die mehr als 30 Funktionäre des Regimes ausgelöst haben, sind nicht verschwunden. Deshalb werden die Sanktionen in Kraft bleiben. Für uns ist der Kampf für die Befreiung aller politischen Gefangenen ein integraler Bestandteil des Kampfes für Demokratie und Freiheit in Nicaragua − im selben Atemzug fordern wir ihre bedingungslose und sofortige Freiheit.

Am 24. Juni war in der Internetzeitung 100%Noticias zu lesen, dass der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu laut der russischen Agentur Sputnik bestätigt habe, dass Präsident Ortega Russland um „Unterstützung im technisch-militärischen Bereich” und Waffenlieferungen gebeten habe. Rechnet Ortega mit dem Entstehen einer breiten Widerstandsfront?
Wir befinden uns einer schizophrenen Diktatur gegenüber, einer Diktatur, die sich im Krieg gegen das eigene Volk befindet und Staatsterrorismus gegen das Volk ausübt. Ich weiß nicht, was gerade in deren Köpfen vorgeht, aber wir in der Opposition waren stets unmissverständlich in unserer Forderung, dass die Eroberung der Demokratie und Freiheit in Nicaragua über den zivilen und gewaltlosen Weg führt, trotz aller Komplexität und Schwierigkeiten, die ein ziviler Kampf gegen eine Diktatur dieser Art mit sich bringt.

Ich glaube, dass die Anfrage, die Ortega an die russische Regierung gerichtet hat, Teil der Drohungen ist, die er nicht nur dem nicaraguanischen Volk gegenüber in Szene setzen will, sondern auch gegenüber den Vereinigten Staaten und den Ländern der Region. Allerdings denke ich, dass die Signale Ortegas in der Tat die Aufmerksamkeit der Länder in der Region erregen sollten.

Welche Formen des Widerstands sind überhaupt noch denkbar, da jeder öffentliche Protest sofort im Keim erstickt wird?
Bei den Widerstandsformen und dem zivilen Kampf bestehen wir darauf, dass der Weg im Kampf für Demokratie der zivile Widerstand ist, es ist der gewaltlose Widerstand, es ist der Kampf mit demokratischen Mitteln. Und in der Kampfform des zivilen, gewaltlosen Widerstands gibt es eine Bandbreite an Möglichkeiten zur Mobilisierung und Meinungsäußerung. Im Moment kontrolliert der Orteguismus die Straßen mit Waffengewalt – durch Repression. Das Ortega-Regime regiert nicht, es unterdrückt nur, doch das ist mittel- und langfristig nicht haltbar. Das Regime leidet an einer Erschöpfung, die voranschreitet. Es durchlebt eine Endzeit-Krise, die enden könnte – ich weiß nicht genau, wann, wir können es nicht vorhersagen – aber Tatsache ist, dass die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die Bedingungen der Unterdrückung, die Bedingungen der Isolation, worin das Land bereits versinkt, interne Konsequenzen haben werden. Deshalb haben wir gesagt, dass das Fehlen einer Lösung für die Krise in Nicaragua – und die Lösung, die wir wollen, sind freie Wahlen – kurz- oder mittelfristig nur weitere Gründe für neue soziale und politische Ausbrüche liefern wird, da Ortega sich weigert, eine Lösung anzubieten.

 

AKTUELLE VERHAFTUNGSWELLE IN NICARAGUA
Am 5. Juli wurden der Bauernführer Medardo Mairena und vier weitere Personen der Opposition verhaftet. Die Bundesregierung verurteilte daraufhin am 9. Juli. die „zunehmende Repression” in Nicaragua und forderte von der Regierung Ortega-Murillo, die „sofortige Freilassung aller politischen Gefangenen”. Das Kommuniqué prangerte die „Verhaftungswelle” an, die seit mehreren Wochen in Nicaragua stattfindet und zur Inhaftierung von insgesamt 26 oppositionellen Aktivist*innen geführt hat, darunter mit der Verhaftung von Madardo Mairena sechs Präsidentschaftskandidat*innen.

Bärbel Kofler, die Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechte und humanitäre Hilfe, warnte Managua, dass sich Nicaragua durch sein Verhalten international zunehmend isoliere.

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