Aktuell | Film | Nummer 607 - Januar 2025

Tanz auf der Kitsch-Klinge

Emilia Pérez: Ein Narco-Trans-Musicaldrama als unterkomplexer, aber faszinierender Rausch der Bilder und Gefühle

Von Dominik Zimmer
(Foto: Neue Visionen Filmverleih, Wild Bunch Gremany)

„Und wie kann ich Ihnen helfen, Señor Del Monte?“, fragt Rita Mora mit zitternd gefasster Stimme, aus ihrem Blick spricht die nackte Angst. Die Anwältin sitzt mitten im Nirgendwo auf der abgedeckten Ladefläche eines LKWs der Person gegenüber, die sie nach ihrem letzten gewonnenen Prozess gewaltsam aus Mexiko City entführt hat: Manitas Del Monte, einer der berüchtigtsten Kartellbosse des Landes. Rita (Zoë Saldaña) verhilft als unterbezahlte Assistentin einer Kanzlei Verbrecher*innen zu erwünschten Urteilen und ist durchaus vertraut mit ihrem Gesprächspartner. Auf das Angebot, das Manitas ihr unterbreiten wird, ist allerdings selbst sie nicht vorbereitet: Manitas outet sich ihr gegenüber als trans und möchte ein neues Leben als Frau beginnen. Emilia Pérez soll ihr neuer Name lauten. Im Austausch dafür würde sie Rita zur Millionärin machen. Es ist ein großzügiges Angebot, das sie aber auch gar nicht ablehnen kann, wenn sie das Gespräch lebendig verlassen will.

Der französische Regisseur Jacques Audiard hat sich im Laufe seiner langen Karriere ausführlich mit der Anziehungskraft von Kriminalität beschäftigt. Mit einem Film im Milieu der mexikanischen Drogenmafia bleibt er sich thematisch treu. Dass Emilia Pérez auch ein Musical-Film geworden ist, überrascht dagegen zunächst, ergibt aber schon nach wenigen Minuten durchaus Sinn. Vor den Sing- und Tanzeinlagen müssen Musical-Muffel zum Glück keine Angst haben: Die meisten sind eher kurz gehalten und fügen sich organisch in die Story ein. Zum Ende ertappt man sich fast schon dabei, wie man sich auf die Gesangsszenen freut, was allerdings auch an der nicht immer lückenlos erzählten Geschichte liegt. Die geht nach Ritas Einwilligung in Manitas’ Angebot furios weiter. Sie jettet auf der Suche nach dem perfekten Schönheitschirurgen um die Welt und schafft es schließlich tatsächlich, die Aufträge ihres Klienten auszuführen: Tod fingieren, heimliche geschlechtsangleichende Operationen organisieren, Familie an einen sicheren Ort bringen. Wie genau sie das alles als Anwaltsgehilfin neben ihrem normalen Job auf die Reihe bekommt, könnte alleine schon einen Spielfilm füllen – in Emilia Pérez nimmt es gerade einmal 15 Minuten ein. Für mehr bleibt keine Zeit und lässt dadurch einige Fragen zur Umsetzung des Ganzen offen, doch der Film geht danach eigentlich erst richtig los: Denn Emilia Pérez zeigt weiter großes Interesse an Ritas Fähigkeiten.

Um detailgenaues Erzählen geht es Regisseur Audiard in Emilia Pérez nicht – auch deswegen der Griff zum Musical, wodurch er Unschärfen im Drehbuch mit Emotion zu kaschieren weiß. So werden die Motive der Protagonist*innen sowie ihre wechselseitigen Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse untersucht. Eine Schlüsselrolle spielt dabei in der zweiten Hälfte des Films Emilias Ehefrau Jessica (Selena Gomez). Die ist für die gemeinsamen Kinder nun alleine verantwortlich, hat das Narco-Luxusleben aber nicht vergessen. Und auch bei Emilia (Karla Sofía Gascón) wird trotz äußerlicher und charakterlicher Wandlung bald klar: So ganz wird sie die machtbewusste und skrupellose Person, die sie einmal war, nicht los.

Emilia Peréz ist ein stilistischer Tanz auf der Rasierklinge, der sich in Form und Inhalt nicht nur einmal haarscharf am Rande des Kitschs im Telenovela-Stil bewegt. Dass der Film trotzdem immer gerade noch die Kurve bekommt, liegt an seiner herausragenden Umsetzung. Vor allem Zoë Saldaña spielt als Anwältin Rita die Rolle ihres Lebens mit einer Intensität, die ihr eine Oscar-Nominierung einbringen könnte. Dabei bringt sie ihre Ballett-Ausbildung voll zur Geltung, unter anderem wenn sich ihre Figur auf einem Bankett voller korrupter Geldgeber*innen die Wut über die Zustände von der Seele tanzt. Trans Schauspielerin Gascón beeindruckt in der Doppelrolle als Drogenboss und Dame der höheren Gesellschaft und auch Selena Gomez ist als Narco-Gefährtin die richtige Besetzung (wenn man von ihrem alles andere als mexikanischen Akzent absieht).

Ebenfalls faszinierend sind das Tempo des Films, der trotz über zwei Stunden Laufzeit keine Längen hat, sowie Audiards technisch brillante Umsetzung. Die Totalen von Mexiko City bei Tag und Nacht sind wunderschön und lassen die Stadt so gut aussehen, wie selten im Kino. Der Einsatz von Licht, ob das Halbdunkel des Narco-LKW oder die Lichterketten im Kinderzimmer, fängt auf virtuose Weise Stimmungen ein. Obwohl es Emilia Pérez nicht gelingt, die vielen aufgegriffenen Themen (Drogenkriminalität, verschwundene Personen, Trans-Themen, Feminismus) in der ihren gebührenden Komplexität zu behandeln, funktioniert der Film auf der emotionalen Ebene. Dem Rausch der Bilder und Gefühle, den Emilia Pérez entfaltet, kann man sich nur schwer entziehen. Und wer gut sucht, kann unter dieser Schicht sogar ein Stück Systemkritik finden: Die Gesellschaft, die Manitas del Monte hervorgebracht hat, ließ ihm schließlich nie eine Wahl, sein Leben von Beginn an nach eigenen Vorstellungen zu leben. Oder wie es Rita in einer ihrer Gesangseinlagen beschreibt: „Wenn man zum Töten erzogen wird, heißt es Tanzen oder Sterben!“

Emilia Pérez // Frankreich/Mexiko // 130 Minuten // Regie: Jacques Audiard // In Deutschland seit dem 28. November 2024 im Kino


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