Chile | Nummer 444 - Juni 2011

Terroristen sollt ihr sein

Die Anklage gegen angebliche BombenlegerInnen ist in Chile sehr umstritten

Ein Justizverfahren sorgt in Chile für Furore. Laut Anklage sollen 14 AnarchistInnen für mehr als 100 Bombenanschläge innerhalb von fünf Jahren verantwortlich sein. Doch die Begleitumstände der Anklage und die einseitige Berichterstattung der Massenmedien lassen immer mehr Kritik am Verfahren aufkommen.

David Rojas-Kienzle

„Lebenslänglich!“ – Diese härteste aller Freiheitsstrafen forderte Ex-Staatsanwalt Alejandro Peña für Pablo Morales und Rodolfo Retamales, denen er vorwirft, Anführer einer terroristischen Vereinigung zu sein. Er betrachtet sie als die Hauptverantwortlichen für über 100 Bombenanschläge, die seit 2005 in Chiles Hauptstadt Santiago gegen Bankautomaten und Regierungsgebäude verübt wurden. Sie und zwölf weitere Angeklagte, zehn Männer und zwei Frauen, sollen TerroristInnen sein, AnarchistInnen noch dazu.
Die TäterInnenfrage im sogenannten Caso Bombas schien für die Staatsanwaltschaft klar zu sein: Denn bei den zwei Hauptangeklagten handelt es sich um zwei ehemalige Mitglieder des Mapu Lautaro, einer aus der Undidad Popular hervorgegangen militanten Organisation, die die Militärdiktatur in Chile (1973 bis 1990) bekämpfte, dazu Häuser besetzte und anarchistische Literatur herausgab.
Doch von der anfänglich scheinbar so klaren Sachlage ist nicht mehr viel übrig. Nach einem mehr als 60 Tage andauernden Hungerstreik sind seit dem 5. Mai 2011 sämtliche Beschuldigte aus der Untersuchungshaft in Hausarrest entlassen worden und warten nun dort auf die Eröffnung des Prozesses. Doch die Ermittlungen in diesem Fall dauern schon lange an, ein Ende ist nicht absehbar.
2005 wurde der Staatsanwalt Xavier Armendáriz mit dem Fall beauftragt. Fünf Jahre ermittelte er mit seinem Team, ließ besetzte Häuser überwachen, Telefongespräche abhören, verdeckte ErmittlerInnen einsetzen, ZeugInnen verhören – kurz: er zog alle ermittlungstechnischen Register, konnte aber trotzdem keine Ergebnisse präsentieren. Im Juni 2010 wurde Armendáriz dann durch den mittlerweile ins Innenministerium abgewanderten Alejandro Peña ersetzt, der sich in der Bekämpfung von Drogenbanden einen Namen gemacht hatte. Dieser schaffte in zwei Monaten das, was sein Vorgänger in fünf Jahren nicht erreicht hatte. Er präsentierte 14 Beschuldigte, die er bei zeitgleichen Razzien am 14. August 2010 in Santiago und Valparaíso aus ihren Wohnungen oder Wohnprojekten heraus festnehmen ließ. Acht von ihnen wurden in Hochsicherheitsgefängnisse verfrachtet.
Die Medien stürzten sich sofort auf den Fall und schon bald darauf wurde im Fernsehkanal TVN eine Sondersendung über die Verhafteten ausgestrahlt, die im Wesentlichen auf Bildmaterial der Ermittlungspolizei (PDI) basierte. Gezeigt wurden Aufnahmen versteckter Kameras vor und in besetzten Häusern sowie aufgezeichnete Telefongespräche, die außer der Tatsache, dass einige der Angeklagten in den Häusern wohnten, keinerlei Aussagekraft haben. Dennoch war in dieser Sondersendung sowie in den großen Printmedien El Mundo, La Tercera und La Segunda schnell klar, was Sache ist. Der Angeklagte Oscar Hermosillo sagte im Interview mit der Zeitung El Ciudadano: „Einige Medien verurteilten uns bereits öffentlich. Damit haben sie zu einer perfekten Atmosphäre für unsere Festnahmen beigetragen.“
Für Teile der chilenischen Medienlandschaft ist es offenbar schon höchst verdächtig, in einem besetzten Haus zu wohnen. So verweist La Tercera in einer Nachricht über eine Festnahme darauf, dass der Festgenommene neben dem Vorwurf Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte geleistet zu haben, „außerdem in einem besetzten Haus wohnt“.
Tatsächlich sind die bisher präsentierten Beweise dürftig. Lediglich leere Plastikflaschen, anarchistische Literatur, Videos, die zeigen, dass sich die Angeklagten in besetzten Häusern aufhalten und Fahrräder – die BombenlegerInnen waren meistens mit Fahrrädern unterwegs – sind die Grundlage, auf der die Angeklagten in Haft gehalten wurden.
Dass dies überhaupt möglich war, verdanken die chilenischen Ermittlungsbehörden einem Antiterrorgesetz aus dem Jahr 1984. Dieses ermöglicht neben weitreichenden Ermittlungsbefugnissen und der extrem langen Untersuchungshaft auch die Benennung von anonymen ZeugInnen, von denen im Caso Bombas mehr als 30 berufen wurden. Neben diesem Fall wird das Antiterrorgesetz bei den sich ebenfalls im Hungerstreik befindenden gefangenen Mapuche angewendet (LN 435).
Die Hungerstreiks der mittlerweile freigelassenen AnarchistInnen und der Mapuche haben nun auch ein juristisches Nachspiel. Und wieder kommt die zweifelhafte Rolle der Medien in diesem Fall zum Vorschein. Der nationale Fernsehrat Chiles (CNTV) hat eine Klage gegen die Fernsehsender TVN, Chilevisión, Canal 13, Mega und UCV-TV angenommen. Sergio Millamán von der Online -Zeitung Mapuexpress und Luis Cuello von dem Blog Otra Prensa! werfen besagten Fernsehsendern vor, mit ihrer mangelnden Berichterstattung über die Hungerstreiks gegen das Presserecht verstoßen zu haben. Die Erfolgsaussichten der Klage stehen nicht schlecht: Mega wurde in einem anderen Verfahren wegen der unausgewogenen Berichterstattung über den Caso Bombas im Zeitraum zwischen dem 14. und 18. August 2010 schon zur Zahlung einer Geldstrafe verurteilt.
Neben dem medialen Dauerfeuer gegen die Angeklagten geraten auch die Beweggründe der Staatsanwaltschaft in die Kritik. Linke Medien wie El Ciudadano bezweifeln die Unabhängigkeit des früheren Staatsanwalts Peña, dem enge persönliche Kontakte zu Innenminister Rodrigo Hinzpeter nachgesagt werden. Auch der Vorwurf, das ganze Verfahren sei inszeniert, ist immer häufiger zu hören. „Der Einschätzung einiger sehr respektabler Anwälte nach, sieht es so aus, als ob es sich hier um eine Inszenierung des berühmten Staatsanwalts Peña und des Innenministeriums handelt“, äußerte der Priester Alfonso Baeza, mit dessen Hilfe der Hungerstreik der Gefangenen beendet werden konnte, im Interview mit dem Radiosender ADN.
Kritische Stimmen wie José Miguel Guzmán vom Menschenrechtszentrum CINTRAS gehen mittlerweile davon aus, dass es weniger um die Aufklärung des Falls an sich als um die Kriminalisierung von Oppositionellen geht: „Heute sind es diese jungen Leute, morgen kann es andere Bereiche der Gesellschaft treffen, wie Gewerkschaftsführer, Studenten, und all diejenigen, die sich gegen das politische, ökonomische und soziale System auflehnen. In diesem Fall geht es darum, diejenigen zu stigmatisieren, die aufbegehren und gegen das rebellieren, was in unserem Land schlecht ist“.
Aktuell sieht es aus, als ob eine Prozesseröffnung in naher Zukunft nicht zu erwarten ist. Und auch die Staatsanwaltschaft scheint kalte Füße zu bekommen. Nachdem schon Teile der gesammelten „Beweise“ gegen die Angeklagten für ungültig erklärt wurden, hat die Ermittlungspolizei PDI dem Angeklagten Francisco Solar einen Deal versprochen, wie dieser im Interview mit der Zeitschrift the clinic sagte. Wenn er sich für schuldig erklären würde, müsse er nicht mehr ins Gefängnis. Anscheinend werden sich auch die Behörden bewusst, dass ihre Anklage auf Sand gebaut ist. Und immerhin: El Mercurio berichtete über den Deal.

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