Migration | Nummer 354 - Dezember 2003

Tijuana, Ende und Anfang einer Legende

Portrait einer Grenzstadt

Um diese Stadt stricken sich Legenden aus aller Welt, nicht nur mexikanische und amerikanische, auch europäische. „Welcome to Tijuana – Tequila, Sexo y Marihuana“ ehrt sie Manu Chao. In jeder Legende findet sich ein Körnchen Wahrheit: Es gibt viel Tequila, billigen Sex und noch billigere Drogen. Also gewiss keine tote Stadt. Das „Laster“ ist aber lange nicht alles, was Tijuana lebendig macht. Tijuana ist ein mythischer Ort. Beseelt mit dem Wunsch nach einem besseren Leben ist Tijuana die Stadt der MigrantInnen: derjenigen die dort hin wollten, derjenigen, die dort hängen blieben, und derjenigen, für die Tijuana wahrhaftig nur ein Zwischenstopp auf dem Weg in die USA blieb.

Georg Neumann

Damas y caballeros,
welcom tu Tijuana,
el lugar más mítico del mundo
donde las lenguas se aman y se unen
en el aló, el oquei, el baibai y el verbo tu bi;…(1)

Mein verrosteter, klappriger Pick-up fährt auf der Schnellstraße an der Grenze zu den USA entlang. Sie wird durch einen rostigen Zaun aus alten Metall-stücken markiert, die im Vietnamkrieg als Flugzeuglandefläche dienten – el bordo. Täglich schwirren Helikopter durch die Luft über dem freien Landstreifen, in der Ferne glitzert der Pazifische Ozean. Die Border Patrol kontrolliert den Landweg. Hier kommt keiner unbemerkt in die USA. Vor meinen Augen breitet sich ein buntes Häusermeer aus, eingehüllt in eine Dunstwolke: Tijuana, B.C., Mexiko.
1889 gegründet hatte Tijuana im Jahre 1900 beschauliche 230 Einwohner. 1940 war es noch immer eine Kleinstadt mit 21. 977 offiziell gemeldeten TijuanenserInnen. Ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bevölkerte sich das Fleckchen Erde am nördlichsten Rand Mexikos. Die Wachstumsraten betrugen in den 50er Jahren fast zehn Prozent jährlich. 1970 wohnen rund 350.000 Einwohner in Tijuana, noch einmal 30 Jahre später waren es rund 1,6 Millionen. Offiziell. Inoffiziell zählt die Stadt zirka 2,5 Millionen Einwohner und noch immer werden es täglich mehr. Jeder freie Flecken Land des von Cañons durchzogenen Hinterlands südlich von San Diego wird vom Menschen urbar gemacht. Auf jeder noch so kleinen, freien Fläche wird ein Haus gebaut, zunächst provisorisch aus Restmaterialien, aus Blech und Holz. Die Cañons werden mit Kühlschränken, Müll und Erde aufgefüllt, Häuser an die Hänge geklatscht, eines neben und über dem anderen.
Und doch: Tijuana ist geprägt vom nicht vorhandenen Wunsch nach Sesshaftigkeit und dem Streben nach höheren Zielen. Alles ist und bleibt Provisorium. Dass es kein wirklich funktionierendes öffentliches Verkehrssystem gibt, ist nur ein weiteres Beispiel. Die Planung für eine Verlängerung der Trolley San Diegos geht in das zweite Jahrzehnt. Hauptverkehrsmittel sind Taxen, ausgediente amerikanische Chevys, die Platz für neun Personen plus Fahrer bieten.
Einen Marktplatz oder ein historisches Zentrum gibt es nicht. Die zweifelhaften baulichen Sehenswürdigkeiten lassen sich an einer Hand abzählen. Da wäre das Jai Alai in orientalischer Architektur, eine Halle für das baskische Ballspiel Pelota. Und vielleicht das CECUT, ein kugelrundes IMAX und Theater, kulturelles Zentrum der Stadt. Mexitlán, eine originalgetreue Nachbildung Mexikos und seiner Sehenswürdigkeiten, zerfällt seit zehn Jahren. Die Partymeile „Avenida de la Revolución“, oder nur „la Revu“, zieht sich von der Grenze bis an den ersten Hügel und wird im immer wiederkehrenden Rhythmus von Tequilageschäft, Apotheke und den marktschreierischen Türstehern der Nachtlokale gesäumt.
Der Touristenpfad führt an bunten Verkaufsständen mit mexikanischem Kunsthandwerk vorbei in Richtung „Revu“. Links und rechts der Straße häufen sich in grellen Farben gewebte Teppiche, Ton- und Ledererzeugnisse. Aber auch Kultfiguren des amerikanischen Trickfilmfernsehens dürfen nicht fehlen: Tweedy, Micky Maus und Snoopy geben der Virgen de Guadalupe, der mexikanischen Nationalheiligen, die Hand. Was es in Tijuana zu sehen gibt, nennt sich für viele La Jolla, Balboa Park und Downtown, und ist nach zwei Stunden Schlangestehen an der Grenze in San Diego zu finden.

„Tequila, Sexo y Marihuana“
Gerade für das in San Diego ansässige Marine-Hauptausbildungslager ist die Partystraße in Tijuana die einzige Abwechslung an den öden Wochenenden – so erscheint es zumindest angesichts der vielen durch und durch muskulösen, kahl geschorenen Männer auf der Straße. Bereichert wird die Mischung von Leuten unter 21 Jahren, die in den USA noch nicht ausgehen dürfen. Für acht Dollar, “chicks for free”, und ein bisschen Trinkgeld kann die ganze Nacht gesoffen werden. Die Hemmungen fallen um zwei Uhr morgens, dann gibt es den Bikini-Contest, American-Porno.
Aber auch die Tijuanenser profitieren von der Nähe zu San Diego. Ohne die mexikanische Kaufkraft wäre San Diego wohl nicht eine der reichsten Städte der Vereinigten Staaten. Wenn sogar Bohnen in den USA billiger sind als in Tijuana, gehört der wöchentliche Supermarkteinkauf ebenso zum Ritual der tijuanensischen Mittelschicht, wie das Tanken von amerikanischem Benzin. US-Amerikanische Produkte stehen für Qualität. Dafür sind die Drogen in Tijuana, dank der verstärkten Grenzkontrollen, im Überfluss vorhanden, billig wie nie. Für 30 Pesos (um die 3 Euro) gibt es nicht etwa ein Gramm Marihuana, sondern ein Gramm Heroin.

Welcom tu Tijuana,
La ciudad de las luces
Y hogar de Juan Soldado,
El santo de los migrantes,
Amo y señor de los milagritos;…(2)

Auf dem ersten Friedhof Tijuanas, 500 Meter von der internationalen Grenze entfernt, findet man das Grab Juan Soldados, der Heiligenfigur der MigrantInnen, die aus Heimat und Traditionen gerissen wurden. Die Legende besagt, dass Soldado fälschlicherweise der Vergewaltigung und des Mordes an einem jungen Mädchens beschuldigt und zum Tode verurteilt wurde. Der Möglichkeit sich zu verteidigen beraubt, versuchte er, als das Erschießungskommando anlegte, davonzurennen und begleitete seine Flucht mit Flüchen gegen die Autorität, die ihn anklagte. In dem Moment wurde er erschossen. So wurde Juan Soldado zum Opfer, zum Helden und zum Wundertäter. Viele kommen an diesem Grab vorbei, bevor sie die Grenze überqueren und bitten ihn um Hilfe.

Stadt von MigrantInnen
Die Mehrzahl der Bewohner Tijuanas sind MigrantInnen und wohnen erst seit Kurzem in der Stadt. Für die einen ist Tijuana eine Übergangsstadt, Teil eines Lebenslaufes, Etappe auf dem Weg ins Paradies. Für die anderen steht Tijuana für ein besseres Leben, weil es Arbeit gibt. Denn Tijuana hat die niedrigste Arbeitslosenquote im ganzen Land, da der Freihandelsvertrag mit den USA (NAFTA) in den 90er Jahren für die Ansiedlung von amerikanischen Fertigungsbetrieben (Maquiladoras) sorgte. Die Arbeitsbedingungen sind jedoch miserabel und die Lebenserhaltungskosten in Tijuana so hoch wie in der Touristenhochburg Cancún.
Für eine kleine Mittelschicht ist Tijuana, besonders seit den 80er Jahren, Ort des Neuanfangs oder lockt als sichere und viel versprechende Alternative zu Mexiko-Stadt. Da ist beispielsweise Rafael Licéaga Campos, der 1979 nach Tijuana kam. Einen Arbeitsvertrag in der Tasche hatte er nach dem Studium die Nase voll von der überbevölkerten und verschmutzten Hauptstadt. Damals gab es in Tijuana noch beschauliche Wohngegenden. Licéaga Campos gehörte zu einer Mittelschicht, die abwägten und sich entscheiden konnte.
Die meisten MigrantInnen haben jedoch keine Wahl. Auf dem Land gab und gibt es keine Zukunft. Sie kommen nach Tijuana, um weiter, um über die Grenze zu gelangen. Diese andere Seite Tijuanas findet sich beim nächtlichen Stelldichein mit Schleppern in der Zona Norte, dem Rotlichtviertel. Zwei, drei Nächte bei „meinem Onkel in Tijuana“, geplant ist ein kurzer Zwischenstopp. Aber dann: Der Übergang klappt nicht, es geht wieder zurück, noch ein Versuch. Das Gesparte ist weg und im Heimatdorf wartet der Rest der Familie auf gute Nachrichten und den versprochenen Reichtum. Ergebnis sind gescheiterte Existenzen, die an der Grenze hängen bleiben. Vielleicht holen sie ihre Familie nach, vielleicht gehen sie nirgendwo mehr hin, häufig landen sie auf der Straße und halten sich mit billigen Drogen über Wasser.

US-amerikanische Abwehr
Man braucht sich nur einige US-amerikanische Comics aus den 70er und 80er Jahren anschauen, um sich ein Bild der Klischees zu machen, die in den USA über den südlichen Nachbarn vorherrschen. Anarchie, Chaos und staatliche Willkür schüren die Angst vor dem Unbekannten. Die staatlichen Sicherheitsmaßnahmen zur Begrenzung der Einwanderung in den 90er Jahren verschärfen diese Sichtweise nur, ändern aber nichts an der Situation der MigrantInnen. Grenzpatrouille, Scheinwerfer, Infrarotüberwachung und Hubschrauber beherrschen heute den Grenzstreifen.
Die Flüchtlinge gehen weiterhin nach Tijuana, aber von dort ins Hinterland, wo zwei- bis dreitägige Fußmärsche den Weg ins Paradies versprechen. Viele der MigrantInnen fallen Schiebern (polleros) zum Opfer oder halten dem wüstenähnlichen Klima nicht stand.
Das Problem regelt sich so für die amerikanische Migrationsbehörde INS (Immigration and Naturalization Service) in San Diego, seit März 2003 unter der Direktion des neu geschaffenen Departement of Homeland Security (DHS), zum Teil von alleine. Trotzdem sind sechs von zehn ImmigrantInnen in Kalifornien Mexikaner, davon fast jeder zweite „illegal“. Die Gesamtzahl der MigrantInnen hat sich durch die Militarisierung der Grenze nicht verringert, sondern auf verschiedene Routen verlagert.

…donde la polka se vuelve cumbia,
el norteño se hace tecno,
los mofleros son escultores,
los pintores son grafiteros
y la cultura está en la Zona Norte;…(3)

Kulturlabor Tijuana
Vor dem kulturellen Zentrum Tijuanas bauen eine Gruppe junger Musiker und Designer ihre Bühne auf. Zwei Stunden später ist der Platz voll und die Menge tanzt zu der musikalischen Mischung aus nordmexikanischen Rhythmen und House. Im Hintergrund laufen Videoinstallationen. Die jungen KünstlerInnen nennen sich Nortec und waren Vorreiter einer Kunstbewegung, die der Kultur in Tijuana Ausdruck verlieh. Sie trafen den Nerv der Stadt. Seit sie 15 Dollar Eintritt verlangen und sich international orientieren, mag sie in Tijuana keiner mehr. Glücklicherweise haben sich genügend Nachahmer gefunden. Immer wieder werden innovative Events veranstaltet, beispielsweise eine Literaturnacht mit Musik und Video auf einem Schrottplatz. Der Kreis der Kulturschaffenden in Tijuana ist übersichtlich. Traditionelle Kultur findet sich wenig, da es schlicht keine Örtlichkeiten gibt. Aber gerade deswegen tut sich in Tijuana einiges. Grenze bedeutet Nähe und damit zwangsläufig auch Offensein für Einflüsse. Es wird viel experimentiert, im musikalischen, literarischen und grafischen Bereich. Literatura Fronteriza, wie eine bedeutende Strömung mexikanischer Literatur heißt, bezeichnet nicht nur eine geographische Ortsbestimmung, sondern spiegelt auch Thematiken, Probleme und Kulturformen des mexikanischen Nordens in sprachlicher und literarischer Hinsicht wieder. Literatur im Internet, wie die für jeden offene Tijuana Bloguita Front (TJBF), unabhängig von Verlagen und Kommerz, gewinnt dabei im-mer mehr an Bedeutung.

Entgrenzende Hybridisierung
Wenn man den sprachlichen Mischmasch betrachtet, ist man geneigt zu sagen, in Tijuana ver-us-amerikanisiere die Kultur. Aber in San Diego passiert auf umgekehrte Weise etwas Ähnliches. So entsteht vielmehr ein entgrenzendes Hybrid. Migration reduziert sich nicht auf den bloßen Wechsel des Territoriums. Neue Symbole entstehen und Werte werden geprägt. Halloween und der Tag der Unabhängigkeit, der Osterhase, Juan Soldado und die Virgen de la Guadalupe werden gleichsam gefeiert. Der mexikanische Sprachschatz wird um spanisch ausgesprochene Anglizismen erweitert. Elektronische Gothic-Musik und die Lieder der Ranchera-Gruppe Tucanes de Tijuana sind beide Teil der Kultur. Tiefergelegte Pick-ups mit Narcos, den Drogenhändlern, die bei lauter Ranchera-Musik durch die Stadt cruisen, sind normal und gehören zum Stadtbild.
Tijuana entwickelt eine Identität, mit eigenem Ausdruck und einem experimentelleren und wandelnden Charakter. Das ist zu ihrem Markenzeichen geworden. Alles ist möglich. Tijuana ist Postmoderne. Eine Patchworkstadt zwischen Caguama (1-Liter-Bierflasche) in der Zona Norte und erlesenem Rotwein im Nopal. Jeder sucht sich hier einen Grund zum Leben und Überleben.

…welcom tu Tijuana
Tierra prometida de migrantes,
Nacionales y extranjeros,
Donde vale mucho la vida
Y la muerte es un negocio…(4)

In großen Lettern steht am Grenzübergang in San Ysidro: „Hier beginnt Lateinamerika.“ Mit Tijuana hört Lateinamerika auch auf. Aber die Grenzen sind nicht mehr so einfach zu definieren. Die kulturellen Grenzen verschwimmen. In Tijuana sagen die Mexikaner über ihr Bevölkerungsübergewicht in Kalifornien ironisch: Wir holen zurück, was uns die Amerikaner 1848 weggenommen haben. Auf unsere Weise.

Auszug aus „El perro labioso“ von Roberto Castillo Udiarte, 2002

Meine Damen und Herren,
welcom tu Tijuana,
der mythischste Ort der Welt
wo die Sprachen sich lieben und einen,
im „aló“, dem „oquei“, dem „baibai“ und dem Verb „tu bi“;…(1)

Welcom tu Tijuana,
Die Stadt der Lichter
Und Zuhause von Juan Soldado,
Der Heilige der Migranten,
Herr und Señor der Wunderchen;…(2)

…wo die Polka eine Cumbia,
der Norteño Tekno wird,
die Auspuffreparateure Bildhauer sind,
die Maler Graffiti-Künstler
und die Kultur findet sich in der Zona Norte;…(3)

…welcom tu Tijuana
Versprochenes Land der Migranten,
Einheimische und Ausländische,
Wo das Leben viel zählt
Und der Tod ein Geschäft ist…(4)

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren