Bolivien | Nummer 464 - Februar 2013

TIPNIS entzweit weiter

Nach Abschluss der Befragung über den Bau der Überlandstraße durch das TIPNIS-Gebiet herrscht weiter Uneinigkeit über deren Bewertung

Der Konflikt um den Bau der Überlandstraße durch das indigene Territorium und Nationalpark Isiboro Sécure (TIPNIS) geht in die nächste Runde. Der Abschlussbericht über die Befragung liegt vor, doch klar scheint derzeit nur eines zu sein: die Uneinigkeit über die Bewertung der Abstimmung.

Evelyn Linde

Bereits im Verlauf der von Ende Juli bis Anfang Dezember vergangenen Jahres laufenden Befragung der Bewohner_innen des TIPNIS war nur eines sicher: die herrschende Uneinigkeit (siehe LN 462). So überrascht es nicht, dass der am 8. Januar 2013 von der Obersten Wahlbehörde (TSE) präsentierte Abschlussbericht zu anderen Ergebnissen kommt als ein Bericht, der gemeinsam von der Katholischen Kirche, der Ständigen Vereinigung für Menschenrechte in Bolivien (APDHB) und dem Internationalen Bund für Menschenrechte (FIDH) erarbeitet wurde.
Von den 69 Gemeinden seien 58 über das Straßenbauprojekt und die „Unantastbarkeit“ des Territoriums, die mit einem Gesetz als Reaktion auf Proteste gegen die Überlandstraße im Jahr 2011 erlassen wurde, befragt worden. Der Direktor vom Interkulturellen Dienst zur Stärkung der Demokratie (SIDFE), einer Unterabteilung der Wahlbehörde TSE, Juan Carlos Pinto, verkündete zudem, dass sich lediglich drei der 58 befragten Gemeinden gegen das Straßenbauprojekt ausgesprochen hätten. Eine weitere sei für die weitere „Unantastbarkeit“ des Territoriums. Pinto erklärte weiter, von den elf Gemeinden, die nicht an der Befragung teilgenommen hatten, hätten sechs die Durchreise der Regierungsbrigaden verhindert und die restlichen fünf hatten öffentlich ihre Ablehnung über die den Beni und Cochabamba verbindende Straße kundgetan.
Die Wahlbehörde legt den Bericht Ende Januar der Legislative vor, damit diese entscheidet wie das Gesetz 180 verändert wird, das das TIPNIS zum „unantastbaren“ Territorium macht, um den Bau der Straße zu ermöglichen. Ramiro Paredes, Sprecher des TSE, sagte, in der Befragung wurde noch nicht die Konstruktion der Überlandstraße beschlossen. „Was wir festlegen können ist, dass die Fachmänner der Brigaden den Gemeinden mögliche Entwürfe der Straße präsentiert haben“, meint Paredes jedoch. Das von Befürworter_innen der besagten Straße in Gang gesetzte Referendum hat sein Ziel somit erreicht: Die Straße kann gebaut werden und die Regierung legitimiert die nun ausstehenden Planungen des Straßenverlaufs mit den Ergebnissen der Wahlbehörde.
„Falsch und verlogen“ sei der Bericht der TSE, meint jedoch der Präsident der Subcentral TIPNIS Fernando Vargas. Des Weiteren beklagt er, „die Befragung ist nicht repräsentativ“. Diese Stimmen lassen sich nachvollziehen, wenn ein anderer Bericht zur Hand genommen wird. Auf die Einladung von führenden indigenen Autoritäten des TIPNIS besuchte eine Kommission, die durch die Katholische Kirche, den APDHB und FIDH gebildet wurde, von Ende November bis Mitte Dezember 35 Gemeinden und ein Zentrum im TIPNIS. Zeug_innenberichte über die Befragung wurden gesammelt und es sollte überprüft werden, ob die Standards einer rechtlich vorgesehenen „vorherigen, freien, informierten“ Befragung erfüllt wurden. Als solche tituliert die Regierung die Befragung, die von Gegner_innen jedoch von Anfang an als inadäquate verspätete Befragung abgelehnt wurde.
In elf Punkten wurde zusammengefasst, was die Kommission in den Gemeinden „gehört und gesehen“ hat. Zunächst fällt auf, dass nur in 18 der 35 besuchten Gemeinden Versammlungen stattfanden, die von der Regierung als Befragung erachtet werden. In den ausbleibenden 17 Gemeinden wurden keine Brigaden empfangen. Insgesamt kam die Kommission zu dem Ergebnis, dass 30 der besuchten Gemeinden eine Straße durch das TIPNIS ablehnen und nur drei diese akzeptieren. Weitere drei Gemeinden äußerten, dass sie die Verbindungsstraße nur unter bestimmten Bedingungen und einem anderen Verlauf akzeptieren würden. Weiteres Resultat der Befragung der Gemeindemitglieder ist, dass die Befragung nicht den national und international festgelegten Standards gerecht wird. Die Verteilung von Geschenken, Angebote von Projekten und der Verbesserung des Bildungs- und Gesundheitsangebots begleiteten die Treffen mit den Regierungsvertreter_innen. Aber nicht nur positive Versprechungen empfingen die Gemeinden, in einigen Fällen erfuhren sie Repressalien wie das Aussetzen der Gesundheitsversorgung oder die Verpflichtung, die gesamte Gemeinde durch einen Vertreter zu repräsentieren. Die Kommission schlussfolgert, dass das Kriterium einer „freien“ Befragung unter solchen Umständen nicht erfüllt ist. Ebenfalls lässt das Attribut „informiert“ nach sich suchen. Zwar wurden Bilder für das Modell der geplanten Straße gezeigt, über die möglichen ökologischen Folgen wurde jedoch nicht aufgeklärt. Dort, wo Versammlungen stattfanden, gaben die Brigaden nicht nur mangelnde Auskunft, sondern es erfolgte auch eine gezielte Desinformation. Obwohl das Gesetz über die „Unantastbarkeit“ des Territoriums traditionelle Nutzung durch die Bewohner_innen explizit erlaubt, erläuterten die Brigaden den Menschen, die „Unantastbarkeit“ verbiete jegliche Nutzung. So lehnten die Gemeindemitglieder das Gesetz 180 in dem Glauben ab, es verbiete ihnen das Jagen und Fischen. Ein weiterer Punkt, den der Bericht ausfindig macht, bezieht sich auf die Verfahrensweisen der Befragung. Sie fand an anderen Orten statt, als an denen, wo traditionell Versammlungen erfolgen oder nur wenige Familien nahmen teil, da der Rest der Gemeinde nicht einverstanden war mit den Versammlungen. Dies säte Zwietracht innerhalb der Gemeinden.
Die Menschen in den Gemeinden äußerten für den Fall eines Baus der Straße auch die Angst vor einer Unterwerfung durch die Kokabauern und
-bäuerinnen, da diese dank der Straße weiter in ihr Territorium vorrücken könnten. Damit verbunden ist auch die Angst, dass diese den Kokaanbau für den Drogenhandel ausweiten könnten. Des Weiteren befürchten sie eine Verschmutzung des Wassers durch die Kokakultivierung, da dies bereits im Alto Isiboro beobachtet wurde.
Abschließend fasste die Kommission zusammen, dass die Mehrheit der von ihnen besuchten Gemeinden den Bau der Überlandstraße durch das TIPNIS ablehnt, gegen die sie sich bereits in der Vergangenheit aufgelehnt haben und dies in dem VIII und IX Marsch zum Ausdruck brachten. Einen internationalen Protestmarsch „zur Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte (CIDH) und der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) mit Sitz in Washington“, kündigte Vargas auch in Reaktion auf den Bericht der TSE an. Rafael Quispe, indigene Autorität, kündigte bereits an, sich im Falle des Straßenbaus international an das Ständige Forum für Indigene Fragen, die Internationale Arbeitsorganisation (ILO), das OAS-Expert_innenkommitee und den CIDH zu richten.

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