Todesschwadronen in Peripherie und Stadt
Die Massaker an FavelabewohnerInnen in Rio de Janeiro ains Audruck institutionalisierter Gewalt
Die von staatlichen Sicherheitskräften verübten Morde an Favela-BewohnerInnen, Obdachlosen und Straßenkindern sind in Rio de Janeiro zur Routine geworden. Spätestens seit den Massakern an acht Straßenkindern der Candelária-Kirche und 21 BewohnerInnen aus der Favela Vigário Geral im Jahr 1993 gehören von PolizistInnen ausgeübte illegale Hinrichtungen ebenso zum Stadtbild wie der Zuckerhut, die Christus-Statue und die Strände von Copacabana und Ipanema. Trotz dieser zur Alltäglichkeit gewordenen Barbarei schockierte das Massaker vom 31. März 2005, dem 29 Menschen zum Opfer fielen, die brasilianische Öffentlichkeit. Es war nicht nur das größte Massaker in der Geschichte Rios, die Morde riefen auch die in Vergessenheit geratene gesellschaftliche und politische Machtstellung, die die Todesschwadronen in der Peripherie von Rio de Janeiro innehaben, ins Bewusstsein zurück.
Das Massaker
Nach Augenzeugenberichten trafen sich die Täter am Nachmittag des 31. März in einer Kneipe in der Stadt Belford Roxo. Belford Roxo liegt in der Peripherie von Rio de Janeiro, der so genannten Baixada Fluminense (siehe Kasten). Die vier Männer – allesamt Mitglieder der örtlichen Militärpolizei – nahmen über mehrere Stunden hinweg etliche Biere und Cachaça zu sich.
Gegen 20:00 Uhr fuhren die Täter in einem silberfarbenen Auto der Marke ‚Gol’ in die Nachbarstadt Queimados und bedrohten unterwegs die Menschen auf der Straße mit den Worten: „Wir kommen bald wieder zurück und bringen euch den Terror.“ Eine halbe Stunde später machten die Polizisten ihre Drohungen wahr. Bei den ersten Opfern handelte es sich um zwei Fahrradfahrer, die sie aus ihrem Wagen heraus erschossen. In den darauf folgenden Minuten töteten die vier Männer in Queimados wahllos weitere neun Menschen. Anschließend fuhren sie in die 15 Kilometer entfernt gelegene Nachbarstadt Novo Iguaçu und erschossen weitere 18 Personen.
Während die Täter in Queimados maskiert waren, zeigten sie in Novo Iguaçu ihre Gesichter ganz offen – ein eindeutiger Hinweis, dass sie keine Strafverfolgung fürchteten. Das Massaker dauerte nicht länger als eine halbe Stunde. Die insgesamt 29 Opfer, unter ihnen Frauen, Jugendliche und ein 13-jähriges Kind, hatten keinerlei Möglichkeit zu reagieren oder gar zu fliehen. Der Großteil der Morde wurde nicht etwa in dunklen, abgelegenen Ecken, sondern in belebten Straßen verübt. Die Anzahl der Opfer hätte auch noch weitaus höher ausfallen können; viele Menschen, die sich in unmittelbarer Nähe der Tatorte befanden, überlebten rein zufällig.
Die Täter
Da die meisten der tödlichen Kugeln aus Revolvern stammten, die ausschließlich von der Polizei verwendet werden, räumte am Tag nach dem tragischen Vorfall sogar der Sekretär für öffentliche Sicherheit von Rio de Janeiro, Marcelo Itagiba, ein, dass es sich bei den Tätern allem Anschein nach um Angehörige der Militärpolizei handelte. Eine Woche später saßen neben den vier Mördern weitere sieben Militärpolizisten in Untersuchungshaft. Nach offiziellen Angaben gehören alle elf Festgenommenen einem so genannten „Schutzring” an, eine euphemistische Umschreibung für Todesschwadron. Fest steht mittlerweile, dass mehrere der Tatverdächtigen bereits in der Vergangenheit verschiedene Verbrechen wie Erpressung und Mord begangen hatten. Einer von ihnen war laut Augenzeugen an dem Massaker an sechs Jugendlichen im September 2001 in Belford Roxo beteiligt.
Mit der Bluttat wollten die Militärpolizisten wahrscheinlich die Festnahme von neun Kollegen aus Duque de Caxias rächen. Der Kommandant des Militär-Bataillons von Duque de Caxias, Paulo César Lopes, geht seit einigen Monaten konsequent gegen das korrupte Verhalten seiner Untergebenen vor: Ein paar Tage vor dem Massaker hatte er zwei Militärpolizisten festnehmen lassen, die vermutlich zwei Menschen ermordet und einen von ihnen sogar geköpft hatten.
Reaktionen
Am 9. April 2005 organisierten FreundInnen der Opfer, PolitikerInnen , AnwohnerInnen, sowie VertreterInnen von Kirchen, Nichtregierungsorganisationen und sozialen Bewegungen zeitgleich zwei Demonstrationen in Novo Iguaçu und Queimados, um ihrer Empörung Ausdruck zu verleihen. „Für mehr Sicherheit und Gerechtigkeit“ stand auf den Transparenten, und man spürte ihre Angst vor einem neuen Massaker. Ein Priester aus Queimados sagte: „Ich sehe hier kaum Familienangehörige. Sie haben Angst – vor der Polizei.“
Der Stiefvater eines der ermordeten Jugendlichen nahm bewusst nicht an der Demonstration teil, da er „es nicht ertragen kann, Seite an Seite mit Militärpolizisten zu marschieren“, die die öffentliche Kundgebung begleiteten. Damit drückte er aus, was viele der etwa 3.000 DemonstrantInnen dachten.
Neben der Angst macht sich Hoffnungslosigkeit unter den Menschen breit. Die tödlichen Schüsse vom 31. März erinnerten an das Massaker in der Favela Vigário Geral vom August 1993. Häufig werden die aktuellen Verbrechen mit den Gewalttaten vor 12 Jahren verglichen, und so sind die Hoffnungen, dass den Hinterbliebenen der Opfer Gerechtigkeit widerfährt und die Täter zu hohen Strafen verurteilt werden, nur sehr gering. Von den nach dem Massaker in Vigário Geral identifizierten 40 Tätern wurden lediglich fünf verurteilt und nur drei von ihnen sitzen ihre Strafe ab. Für Tim Cahill von amnesty international stellt die Nichtahndung der Täter das größte Problem bei der Verbrechensbekämpfung dar, da sie der „Nährboden für neue Massaker“ sei.
Baixada Fluminense
Angst und Misstrauen gegenüber der Polizei und den in der gesamten Peripherie von Rio de Janeiro agierenden Todesschwadronen prägen den Alltag der Menschen aus der Baixada Fluminense, und zwar nicht erst seit dem 31. März 2005. In dieser Region werden pro Tag durchschnittlich fünf Menschen ermordet. Seit 1995 wurden mehr als 20.000 Mordopfer gezählt. Da viele der von Todesschwadronen getöteten Menschen auf heimlichen Friedhöfen verscharrt werden, dürfte die Dunkelziffer extrem hoch liegen.
Bezogen auf die Bevölkerungszahl übersteigt die Mordrate in der Baixada Fluminense eindeutig die in Rio de Janeiro. Im krassen Gegensatz hierzu steht die geringe Anzahl der Mordanzeigen bei der Polizei – sie liegt deutlich unter der von Rio de Janeiro. Ursache für diese Diskrepanz ist die Angst der Hinterbliebenen vor Racheakten. Das Menschenrechtszentrum der Diözese von Novo Iguaçu hört immer wieder von den Angehörigen der Opfer, ihnen werde kurz nach der Tat mit dem Tod gedroht für den Fall, dass sie zur Polizei gehen.
Die Hauptursache für die Dominanz der Todesschwadronen in der Baixada Fluminense ist ihre historisch gewachsene Verwurzelung mit der lokalen Politik. Den Anfang machte Tenório Calvacanti, der in den 1940er und 50er Jahren mit einer Bande von Revolvermännern erfolgreich seine politischen Interessen in Duque de Caxias durchsetzte. Calvacanti war der erste und einzige Bundesabgeordnete Brasiliens, der sich in der Öffentlichkeit mit einem Maschinengewehr zeigte. Die von ihm ausgelöste Welle von Gewalt nahm ein Ausmaß an, das ganz Brasilien aufhorchen ließ. Seiner Beliebtheit in der Region tat dies keinen Abbruch. Im Gegenteil: Bei seiner Wiederwahl zum Bundesabgeordneten erhielt er die meisten Stimmen im Bundesstaat Rio de Janeiro.
In den 60er Jahren kam es zu Hungerrevolten in der Baixada Fluminense. Die Nahrungsmittelversorgung lag zu dieser Zeit in der Hand einiger weniger Händler. Diese nutzten ihre Monopolstellung aus und versteckten die Lebensmittel in heimlichen Depots, um so die Preise künstlich hochzuhalten. Mit Rufen wie „Wir wollen essen“ fielen am 5. Juli 1962 unzählige Menschen über etwa 2.000 Geschäfte her. Auf Druck des Industrie- und Handelsverbandes von Duque de Caxias initiierten Polizei und Militär so genannte freiwillige ‚Brigaden zur Verteidigung der Familien von Caxias’. Obwohl der örtlichen Justiz die Illegalität dieser paramilitärischen Gruppen bewusst war, rechtfertigten sie ihre Bildung mit dem Recht der Geschäftsleute, ihr Eigentum „mit allen dafür notwendigen Mitteln zu verteidigen“.
Neue Entwicklungen
Nach dem Militärputsch von 1964 erhielten die Milizen eine neue politische Ausrichtung: Die neuen militärischen Machthaber in der Baixada Fluminense entledigten sich mit ihrer Hilfe oppositioneller PolitikerInnen.
Die Anzahl der Todesopfer stieg in den 1960er und 70er Jahren auf ein so hohes Niveau, dass auch die Presse in Rio de Janeiro davon Kenntnis nahm und immer öfter über die skandalösen Zustände berichtete. Die Militärpolizei und die hinter den Todesschwadronen stehenden rechten PolitikerInnen versuchten nun, die Morde als notwendiges Übel zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung darzustellen. Ihre Ideologie „Nur ein toter Bandit ist ein guter Bandit“ hat bis heute Bestand. Die Tatsache, dass unter den Opfern völlig Unbeteiligte (darunter ganze Familien), Zeugen der Morde, unbequeme PolitikerInnen und nicht korrumpierbare PolizistInnen sind, lässt weite Teile der Bevölkerung unbeeindruckt.
In den 1980er Jahren trat bei den Todesschwadronen ein signifikanter Wandel ein. Die Zahl ihrer KomplizInnen vervielfachte sich, wobei ein nicht unbedeutender Anteil der neuen Gruppen nicht mehr unter der ausschließlichen Kontrolle der Militärpolizei stand. Tatsächlich änderte dies nichts an der Tatsache, dass ihre zahlreichen Mitglieder PolizistInnen waren. Erstreckte sich ihr Aktionsradius bis Ende der 1970er Jahren mehr oder weniger auf die Städte Novo Iguacu und Belford Roxo, so breiteten sie sich nun auch in den anderen Teilen der Peripherie aus. Die Folge war eine Eskalation der Morde. Massaker an fünf oder mehr Menschen wurden zur Alltäglichkeit.
Die Todesschwadronen änderten auch ihre taktische Vorgehensweise. Da ihre Verbrechen in der Vergangenheit keine strafrechtlichen Verfolgungen nach sich zogen, gingen sie immer brutaler vor und stellten ihre teilweise bei lebendigem Leib verbrannten oder geköpften Opfer ostentativ in belebten Straßen aus. So sollte allen BewohnerInnen deutlich gemacht werden, was ihnen blüht, wenn sie den Killern in die Quere kommen.
Die 1990er Jahre könnten mit der Überschrift „Mörder an der Regierung“ betitelt werden. Waren die Todesschwadronen bis dahin auf die Rückendeckung von ideologisch gleich gesinnten PolitikerInnen angewiesen, gelangten sie nun selbst an die politischen Machthebel. Nach und nach besetzten ihre Mitglieder immer mehr Abgeordnetensessel und Bürgermeisterposten.
Während die Medien in den 1970er und 80er Jahren ausführlich über die Todesschwadronen in der Peripherie berichtet hatten, gerieten deren Gräueltaten ab den Jahren 1993/94 aus dem Blickfeld des öffentlichen Interesses. Die brasilianische Presse richtete ihr Augenmerk nun auf Rio de Janeiro. Hintergrund für diesen Wandel war eine Welle von Gewalt, die die Stadt in diesen Jahren erschütterte. Seit den Massakern von Candelária und Vigário Geral prangerten vor allem Menschenrechtsorganisationen die von staatlichen Ordnungskräften praktizierte Gewalt an. Medien und PolitikerInnen hingegen thematisierten verstärkt den von Drogenkommandos in den Favelas errichteten Parallel-Staat: 1994 ließ die Regierung von Rio de Janeiro das brasilianische Militär in die Favelas der Stadt einmarschieren.
Todesschwadronen in Rio de Janeiro
Nicht nur in der Peripherie, auch in der Stadt selbst kam es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur Bildung von Todesschwadronen. Ihr gesellschaftlicher Einfluss blieb hier jedoch begrenzt – zumindest bisher. Die erste militante Gruppierung war die von General Amaury Kruel 1958 geschaffene „Abteilung für Geheime Ermittlungen“. Anlass für deren Gründung waren Beschwerden des Handelsverbandes von Rio de Janeiro über zunehmende Überfälle auf Geschäfte. Die „Abteilung für Geheime Ermittlungen“ setzte sich aus 30 Polizisten zusammen, die allesamt für illegale Aktivitäten wie Betrug, Bestechung und Erpressung bekannt waren. Im Auftrag des Staates stiegen diese Männer nun die Favelas hinauf, drangen gewaltsam in die Häuser ein und ermordeten deren BewohnerInnen. Die durch illegale Hinrichtungen praktizierte ‚soziale Säuberung’ in Rio de Janeiro war geboren und sollte in den folgenden 50 Jahren zahlreiche Nachahmer finden. Durch Aktionen wie zum Beispiel der Verteilung von Grundnahrungsmitteln, die ihnen örtliche Geschäftsleute zur Verfügung stellten, gelang es den Milizen, von vielen Favela-BewohnerInnen als neue Machthaber akzeptiert zu werden.
Jüngste Untersuchungen zeigen, dass – zum überwiegenden Teil von Militärpolizisten angeführte – private Milizen den Drogenkartellen ihre Dominanz in den Favelas streitig machen. Besonders im östlichen Teil der Stadt haben private Milizen die Vormachtstellung in den Elendsvierteln übernommen. Von 44 Favelas sind nur noch zwei in der Hand von Drogenkommandos, darunter auch die durch den Film bekannte “Stadt Gottes” (Cidade de Deus). Neuesten Informationen zufolge befürchten aber auch deren BewohnerInnen eine baldige Übernahme durch private Milizen.