Berlinale | Nummer 524 - Februar 2018

TOWARDS DIVERSITY

Die Berlinale 2018 setzte auf Vielfalt – Die LN geben hier einen kleinen Überblick und stellen die diesjährigen lateinamerikanischen Filme vor.

Von Dominik Zimmer

„Towards tolerance“ lautete einmal ein Motto der Berlinale zu den Zeiten, als vermutlich eine PR-Agentur überzeugt davon war, ohne solch einen Spruch ginge es nicht mehr beim größten Publikumsfilmfest der Welt. „Accept diversity“ lautete ein anderer der Slogans, die wohl die Idee verkörpern sollten, dass die Filme des Festivals ein Stück weit die Welt verändern können. Mittlerweile gibt es keine Berlinale-Mottos mehr, aber „Towards Diversity“ könnte sinnbildlich für die Auswahl der lateinamerikanischen Beiträge auf ihrer 68. Ausgabe stehen. Denn in allen Sektionen sind lateinamerikanische Filme zahlreich vertreten (außer in den „Berlinale Classics“ und der diesmal spärlich besetzten „NATIVe“-Reihe).

Es zeigt sich ein Kaleidoskop lateinamerikanischen Realitätskinos.

Erfreulicherweise ist wieder mehr Abwechslung in das Länderspektrum eingezogen. Von Filmen zwischen Mexiko und Kolumbien ist zwar nichts zu sehen (gibt es wirklich keine aus den so extrem bewegten zentralamerikanischen Ländern wie Honduras oder Nicaragua?), denn daneben beherrschen Brasilien und Argentinien das Latino-Programm. Dafür sind aus Südamerika alle Länder bis auf Bolivien und die Guyanas mit Beiträgen vertreten (Ecuador allerdings nur als Schauplatz). Ein Kaleidoskop lateinamerikanischen Realitätskinos bildet sich durch Beiträge zu Gender- und Machismo, ländlichem Leben, künstlerischem Ausdruck, Indigenen und Evangelikalen bis zur Vergangenheitsbewältigung. Es dürfte für viele Geschmäcker etwas dabei sein. Die Wettbewerbs- und Special-Beiträge lassen zudem den Star-Faktor nicht zu kurz kommen, sodass man der Berlinale aus lateinamerikanischer Sicht diesmal mit Vorfreude entgegensehen könnte. In dieser Ausgabe gibt es mit der Besprechung des Animationsfilms „Virus Tropical“ einen kleinen Vorgeschmack.

 

Museo (MEX)

Im Wettbewerb darf man sich nach der letztjährigen Jury-Teilnahme Diego Lunas nun auf den Auftritt seines so oft genialen Partners Gael Garcia Bernal freuen. Er spielt in Museo von Regisseur Alonso Ruizpalacios („Güeros“), der die wahre Geschichte eines der berühmtesten Kunstdiebstähle der mexikanischen Geschichte aus den 1980er Jahren adaptiert. Las Herederas, der zweite lateinamerikanische Teilnehmer, ist – Tusch! – der erste Film aus Paraguay in der 68-jährigen Geschichte des Berlinale-Wettbewerbs. Sowohl Regisseur Marcelo Martinessi, Autor des besten Kurzfilms des Festivals von Venedig 2016, als auch die Geschichte über einige Damen der besseren Gesellschaft, denen mit zunehmendem Alter das Geld ausgeht, versprechen ein hochinteressantes Debüt. Dazu gibt es in der Sektion Berlinale Special das neueste Werk des mittlerweile 81-jährigen argentinischen Regie-Großmeisters Fernando „Pino“ Solanas zu sehen. Die Dokumentation Viaje a los pueblos fumigados widmet sich der Auswirkung der Verseuchung von Böden durch die Agrarindustrie in einer ländlichen Region Argentiniens auf die Menschen, die dort leben.

In der publikumsorientierten Sektion Panorama kämpfen in der Dokumentation Bixa Travesty (BRA) eine schwarze Trans-Sängerin und in La omisión (ARG) eine junge Mutter in Feuerland für ihre Anerkennung und gegen gesellschaftliche Konventionen. Im Dokumentarfilm Ex Pajé (BRA) kehrt ein ehemaliger Schamane zu seinen Wurzeln zurück, um die von Kirche und Modernisierung bedrohte Identität seines Dorfes im Amazonasbecken zu retten.

Marylin (ARG/CHI)

Weit entfernt in der Hauptstadt Brasília fand derweil die umstrittene Amtsenthebung der Präsidentin Dilma Roussef statt. Die Dokumentation O processo (BRA) rekonstruiert die Ereignisse, die von vielen bis heute als Putsch bezeichnet werden. Der Spielfilm Malambo, el hombre bueno (ARG) führt die Zuschauer*innen in die faszinierende Welt des Malambo-Tanzes ein, dessen Protagonist*innen ein Leben lang bis zur Selbstaufgabe für den Gewinn eines Wettbewerbs trainieren, nach dessen Gewinn sie mit dem Tanzen aufhören müssen. In Marilyn (ARG/CHI) stehen dem jungen Farmarbeiter Marcos durch den Umzug seiner Familie tiefgreifende Veränderungen in seinem Leben bevor. Land (MEX/I/F/NL) befasst sich mit einer Native-Familie in den USA, die durch den Tod eines ihrer drei Söhne aus ihrer Routine aus Alkoholismus und Resignation gerissen wird. In Zentralflughafen THF (BRA/D/F) begleitet der brasilianisch-algerische Regisseur Karim Aïnouz den Alltag von Geflüchteten in der Unterkunft im ehemaligen Flughafen Berlin-Tempelhof. Tinta bruta (BRA) erzählt schließlich die Geschichte von Pedro, der mit Farbe bemalt erotische Auftritte vor seiner Webcam auslebt. Dabei bekommt er jedoch zu seinem Unmut Konkurrenz von einem Plagiator.

Bei den experimentelleren Filmen aus dem Forum und Forum Expanded tummeln sich diesmal acht Beiträge aus Lateinamerika: Unter anderem die Dokumentationen über den brasilianischen Künstler und Musiker Tantão aus Rio de Janeiro und das fast vierstündige Unas preguntas (URU/D), in dem die Regisseurin Kristina Konrad Ende der 80er Jahre auf der Straße Stimmen zum uruguayischen Amnestiegesetz nach der dortigen Militärdiktatur sammelt. Im Spielfilm Con el viento (ARG/E/F) kehrt die Tänzerin Monica nach langer Abwesenheit zur Beerdigung ihres Vaters in ihr Heimatdorf zurück und muss sich ihrer Vergangenheit stellen. Dazu laufen in diesem Programmteil die Filme La cama (ARG/BRA/D/NL/E), Con el viento (ARG/E/F), Teatro de Guerra (ARG/ESP), La casa lobo (CHI), Los débiles (MEX) und The Chaotic Life of Nada Kadić (MEX/BOS), zu denen nähere Beschreibungen den in Kürze erscheinenden Programmheften der Berlinale zu entnehmen sind.

Auch die oftmals sehr sehenswerten Beiträge der Jugendfilm-Sektion Generation haben einige interessante Teilnahmen aus Lateinamerika zu bieten. Virus Tropical (KOL/F) erzählt in grafisch animierten Bildern die Geschichte der ecuadorianischen Comiczeichnerin Powerpaola. Adam (MX/D/ISL/USA) handelt von der Verbindung eines gehörlosen Jugendlichen zu seiner Mutter, die Technomusikerin ist und bei der ein irreversibler Hirnschaden festgestellt wird. El dia que resistía (ARG/F) folgt drei auf sich allein gestellten Kindern durch eine märchenhaft-düstere Bilderwelt. Unicórnio (BRA) ist inspiriert vom magischen Realismus und entfaltet die Geschichte um die 13-jährige Maria, deren Aufwachsen in ländlicher Idylle ins Wanken gerät, als ein junger Mann mit seiner Ziegenherde in ihre Nachbarschaft zieht. In Retablo (PER/D/NOR) wird das Verhältnis zwischen dem 14-jährigen Segundo und seinem bewunderten Vater Noé, einem angesehenen Kunsthandwerker, auf die Probe gestellt, als bei diesem ein dunkles Geheimnis zu Tage tritt und hinter der Fassade einer scheinbar intakten Dorfgemeinschaft Gewalt und Homophobie sichtbar werden. Mochila de Plomo (ARG) widmet sich schließlich dem 12-jährigen Tomás, der mit einer geladenen Pistole in seinem Rucksack auf Rache am Mörder seines Vaters sinnt, als dieser aus dem Gefängnis entlassen wird. Dazu kommen die Generation-Kurzfilme Playa, Sinfonia de un mar triste (beide MEX) und Toda mi alegría (ARG).

Ein Special Screening gibt es von einer restaurierten Fassung des mexikanischen Films Santo contra Cerebro de mal aus dem Jahr 1961, in dem der Wrestler El Santo, eine Ikone der mexikanischen Popkultur, inszeniert wird.

Im internationalen Wettbewerb des Kurzfilm-Programms gibt es vier lateinamerikanische Teilnehmer zu entdecken. Brasilien ist hier gleich drei Mal vertreten, dabei geht es um einen von der Leidenschaft gepackten Liebhaber (Alma bandida), eine Gefängnisheimkehrerin (Russa) und eine evangelikale Schlagershow (Terremoto Santo). Der argentinische Beitrag T.R.A.P. folgt drei mittelalterlichen Rittern am Rio de la Plata, die eigentlich ein Ritual an einem Grab durchführen sollen, aber stattdessen von Sex, Bier, einem Auto und noch so manch anderem abgelenkt werden. Schließlich wartet auch das Kulinarische Kino noch mit einem lateinamerikanischen Film auf. Die Dokumentation Cuban Food Stories (CUB/USA) widmet sich der Wiederentdeckung kulinarischer Traditionen auf Kuba, wo delikates Essen an entlegenen Orten unter freiem Himmel zubereitet wird.

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