Film | Nummer 416 - Februar 2009

Träume nicht dein Leben…

Das mexikanische Teenager-Drama Voy a explotar hinterfragt jugendliche Vorstellungen von Rebellion und Freiheit

Dinah Stratenwerth

„Wie kann ein erwachsener Mensch seine Jugend so vollkommen vergessen, dass er eines Tages überhaupt nicht mehr weiß, wie traurig und unglücklich Kinder zuweilen sein können?“ fragt Erich Kästner im zweiten Kapitel seines Schulromans „Das fliegende Klassenzimmer“. Danach nimmt er seinen LeserInnen das Versprechen ab, niemals ihre Kindheit zu vergessen.
Vergessen ist die eine Sache, Abstand dazu eine andere. Im Zuge des Erwachsenwerdens entzaubert sich die Welt zusehends, und auch, wer seine Kindheit nicht vergisst, kann sich dem Einfluss der Erfahrungen nicht entziehen.
Der mexikanische Film Voy a explotar („Ich werde explodieren“) spielt mit dem verzauberten Blick auf die Welt, mit dem Wunsch, den Sinn des Lebens zu finden und gleich dazu einen Gefährten, der genau diesen Sinn teilt. Zugleich wirft er für den erwachsenen Zuschauer die Frage auf: Wie würde diese Geschichte wirken, gesehen durch die Augen eines Teenagers?
Sie handelt von zwei typischen Jugendfilmthemen: Der Liebe und der Rebellion. Ramon ist wütend und voller Gewaltfantasien, weil seine Mutter bei einem Autounfall ums Leben kam, seinem Vater, einem bekannten und korrupten Senator, die Politik wichtiger ist als die Familie und er seine erzkatholische Schule, betrieben von der Kongregation der Legionäre Christi, hasst. Maru ist unglücklich, weil ihr Vater die Familie verlassen hat, sie sich um die kleine Schwester kümmern soll und sie das Gefühl hat, ihr Leben laufe aus der Bahn.
Die beiden begegnen sich, finden ineinander jemanden, der sie versteht, und brennen gemeinsam durch. Sie schaffen sich einen Ort, an dem niemand sie findet, wo sie nichts tun müssen und den ganzen Tag faul sein können. Doch wie es in solchen Geschichten sein muss, wie es in jedem Jugendfilm von Denn sie wissen nicht was sie tun bis zu Francis Ford Coppolas Outsiders ist, ihr Übermut führt letztendlich in die Katastrophe. Der Versuch, sich gegen die Machtstrukturen der Gesellschaft zur Wehr zu setzen, schlägt fehl, ihre Träume erweisen sich als nicht haltbare Hirngespinste.
Es ist der zweite Spielfilm des mexikanischen Nachwuchsregisseurs Gerardo Naranjo. Schon in seinem ersten langen Streifen Drama/Mex handelte eine der drei verflochtenen Geschichten von einem jugendlichen Rebellen. Naranjo, geboren 1982 in Guanajuato, wurde ebenso wie sein Protagonist Ramon verschiedener Schulen verwiesen, bevor seine filmische Begabung ihm einen Ausweg wies und er am American Film Institute in Los Angeles landete.
Dementsprechend gelingt es ihm, gut nachvollziehbar darzustellen, was in Maru und Ramon den Wunsch nach Freiheit weckt: Ramons Vater, der einerseits pathetisch erklärt, er könne ja doch nichts machen, man müsse warten und dabei vor allem auf seinen Ruf bedacht ist. Und gleichzeitig Marus verzweifelter Mutter versichert, dass „die ganze Macht des Staates“ ihr helfen werde, die Tochter zu finden. Wie weit es mit dieser Macht des Staates her ist, führt er durch seine eigene Untätigkeit und Ignoranz ad absurdum.
Marus Mutter hingegen ist vor allem damit beschäftigt, aufopfernd und reuevoll zu sein, und es ist nur zu gut vorstellbar, dass sie mit den Träumen ihrer halbwüchsigen Tochter nichts anfangen kann. Beide erfüllen die Klischees, tun, was die Gesellschaft von ihnen erwartet, und haben den Kontakt zu ihren Kindern darüber verloren. Kurz vor der Katastrophe wird Maru sich dennoch ihrer Mutter zuwenden, während Ramon sich verbissen „gegen diese Nazis“, wie er sie nennt, verteidigt. Denn so seelenverwandt, wie die beiden sich glauben, sind sie gar nicht. Ramon teilt sich dem Zuschauer nur durch seine Handlungen und Worte mit. Was er über Maru denkt, bleibt sein Geheimnis.
Während Maru ihn in ihren inneren Dialogen aus dem Off immer wieder als „perfekten Komplizen“ bezeichnet, reden die beiden in ihren Gesprächen oft aneinander vorbei. Bezeichnend dafür ist ihre erste Unterhaltung: Einander gegenübersitzend schreiben sie sich Zettelchen, als seien sie im Unterricht. Der Zuschauer erfährt nie, was auf diesen Zetteln stand. Die Kommunikation zwischen den beiden ist vor allem das Ergebnis des Wunsches, nicht alleine zu sein.
Marus Tagebucheintragungen tauchen immer wieder als Kommentar aus dem Off auf. Ihre Wünsche sind so nachvollziehbar wie banal: Etwas, wofür sich zu leben lohnt, etwas, wofür man kämpfen kann. Über diese Kommentare entsteht eine zweite Ebene, die den Film interessant macht: Aus dem Off erzählt Maru von ihrer ersten Begegnung mit Ramon. Eine Begegnung, die alles verändert habe. Er sei real gewesen, und doch habe sie ihn erfunden. Sie schreibt ihre eigene Geschichte, ändert sie um, erzählt sie erneut. Das eröffnet einen neuen Blickwinkel auf den Film: Was, wenn Maru sich alles ausgedacht hat, wenn es sich bei dem Film um die idealistisch-pathetische Fantasie einer unglücklichen Teenagerin handelt?
Dann erinnert das daran, dass wohl jeder bisweilen sein Leben träumt, gerade als Jugendlicher. Diejenigen, die auf Erich Kästner gehört haben, können es auch noch im Erwachsenenalter. Diese Lesart verharmlost nicht die Probleme, auf die der Film verweist: Die Allgegenwart von Waffen im mexikanischen Alltag, die Normalität, mit der man sich auf einer Party prügelt, die Verlogenheit und klientelistische Macht der Politiker. Wie machtvoll müssen diese Strukturen sein, wenn sie schon in den Tagträumen auftauchen!
Doch die Katastrophe am Ende wirkt durch sie weniger schablonenhaft. Sie bekommt eine neue Bedeutung, wenn man sie als krönenden Abschluss der Geschichte begreift, den Maru für sich erfindet, wenn man versteht, dass sie die Heldin sein will, die lieber ihr Leben aufs Spiel setzt, als den mit Ramon geschlossenen Treuepakt zu brechen – damit hätte sie das, wofür sich zu leben lohnt, gefunden.
Für Naranjo war es die „falsche Vorstellung von Freiheit“, der Maru und Ramon anhängen, die ihn interessierte. Er hat durchaus einen kritischen Abstand zu seinen Protagonisten. Er wollte zeigen, erklärte er zu dem Film, „dass ihre einzigen Feinde ihre eigenen Entscheidungen sind“. Geht man davon aus, dass alles vielleicht nur eine Fantasie war, ein sehnsüchtiger Tagtraum, so ließe man dadurch Ramon und Maru einen Ausweg, den sie sonst nicht haben.
Soweit zur erwachsenen Beurteilung. Wie wird dieser jugendliche Traum, oder die Geschichte, aber auf eine jugendliche Zielgruppe wirken? Hier müssen Vermutungen und erneut der Verweis auf Erich Kästner herhalten: Vergesst nie, wie ihr mit 15 Filme geschaut habt. Die Faszination, die Rührung, die solche Geschichten von jugendlichen Rebellen – die immer scheitern – auslöst, das Bedürfnis, aus diesem Film eine Lebensphilosophie abzuleiten, so wie Maru es mit ihrer Geschichte tut – all das macht Voy a explotar zu einer lateinamerikanischen Antwort auf die Outsiders.
Eine Sichtweise, die einem Erwachsenen nur noch intellektuell zugänglich ist. Wäre da nicht diese zweite Ebene, die des Traums und des selbst erfundenen Lebens, die die eindringliche Frage stellt: Welche Alternative gibt es? Was ist da noch, zwischen Anpassung an eine falsche Welt und unmöglichem Ausbruch? Der Film gibt keine Antwort, höchstens einige Hinweise: Vielleicht ist es die ehrlich gemeinte Entschuldigung der Mutter Marus am Telefon, das komplizenhafte Schweigen der Stiefmutter Ramons oder der gekaufte Freund, der sich doch als ein echter erweist. Menschen, die herausstechen aus der Kälte der Erwachsenenwelt.
Doch das sind nur Hinweise. Sehen wir das Ende des Films so tragisch, wie es ist, so bleibt nur, Kästners Aufruf leicht verändert zu wiederholen: „Vergesst nicht, wie sehnsüchtig und verzweifelt Jugendliche sein können. Und nehmt Euch ab und an die Zeit, nach ihren Träumen zu fragen.“

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