Guyana | Nummer 373/374 - Juli/August 2005

Traum ohne Schlaf: Guyana und der Sozialismus

Zustandsbeschreibung eines vergessenen Landes

Fluch oder Hoffnungsschimmer in dem kleinen Land in der Karibik – fast ein Drittel der Bevölkerung von Guyana lebt heute im Ausland. Seit 1966 unabhängig, ist die Lebenssituation in Guyana seit Jahrzehnten geprägt von Armut, Gewalt und Rassismus.

Ingolf Bruckner

Hüpfende Schatten, hinkende Krüppel, Häuser zugeschnürt von Krankheit, tiefer dauernder Schmerz, der Traum ohne den Schlaf, jedes Dach ein dunkler Flügel, der einen Schatten wirft oder einen lebenden Fluch“ – so beschrieb Martin Carter 1977 seine Heimat, ein Land, von dem Anthony Trollope 1860 behauptete, es sei „das Elysium der Tropen, das wahre, wirkliche Utopia der karibischen See, das Transatlantische Eden“, ein Land, welches schon Sir Walter Raleigh (ohne es je selbst zu sehen) 1596 „Großes, reiches, chönes Empire Guyana“ genannt hatte.
Die Rede ist von einem Staat im Nordosten Südamerikas, den die Welt heute vergessen hat: Doppelt so groß wie das Gebiet der ehemaligen DDR, leben in Guyana nur 750.000 Personen, und es werden ständig weniger – trotz hoher Geburtenrate, neuen Immigrantinnen aus China, illegalen brasilianischen Goldgräbern.
Arbeit gibt es nur auf Zuckerrohrplantagen und Reisfeldern, die sich entlang des dichtbesiedelten Küstenstreifens bis an den Rand des Dschungels erstrecken, der Guyanas Großteil einnimmt. Arbeit gibt es auch in malariaverseuchten Gold- und Diamantenminen. Alternativen sind kaum vorhanden: Guyana ist Plantagengesellschaft pur – mit wenig urbanen Ballungszentren und fast keiner Industrie.

Gedrängtes Chaos

In der Hauptstadt Georgetown treten sich 250.000 Menschen auf die Füße. Sie bauen auf der stillgelegten Kolonialeisenbahntrasse Bananen an, züchten Hühner, versuchen, mit allem und nichts Geschäfte zu treiben. BordsteinkantenhändlerInnen halten Mangos, Rattengift oder Zahnpasta in der Hand, denn „Cheap ting mek al men buy – Billiges findet Käufer!“ Von wegen! Guyanas Flüsse fließen, nicht aber das Geld: Jeder will verkaufen, kaufen will keiner. Manche lungern frustriert am Rum Shop, nähren ihren Zorn, bis er sich an beliebigen Opfern, die zur falschen Zeit am falschen Ort sind, exzessiv entlädt. Ein generelles Gefühl, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein, beherrscht die Menschen: Wer kann, sucht sein Glück – häufig illegal – in Kanada, den USA oder Venezuela. Etwa 300.000 GuyanerInnen leben im Exil. Zurückgebliebene überleben oft nur durch Geldsendungen. Geistig Verwirrte und Bettler irren in Scharen barfuß über Georgetowns zerpflügtes Straßenpflaster. Knochendürre Pferde mit eiternden Geschwüren stehen an stinkenden Kanälen, an deren von Unrat verpesteten Ufern Obdachlose Suppe in Blechbüchsen kochen: „Wha na kill fattn – wenn’s nicht umbringt, macht’s fett.“ Die Selbstmordrate ist hoch.
Als ich 1995 zum ersten Mal in Georgetown bin, ist es, als habe sich lähmender Mondstaub auf die Stadt gesenkt. Zerborstene Bretter alter Stelzenhäuser recken sich bizarr wie Walknochen in den traurigen Tropenhimmel. Abends liegt die Stadt tot: Man folgt einer freiwilligen Ausgangssperre, um nicht Überfälle mit Eisenstange oder Machete zu riskieren. „Es ist immer ein bisschen wie Bürgerkrieg“, sagen die Leute.
Glaubt man Albert Behari, dem Wirt des „Linah Dinah“, war die Tiger Bay, heute Slum und Ruinenfeld, einst Herz der Stadt: weiße viktorianische Holzkontore, Lilien unter landestypischen Demerara-Fenstern, bunte indische Kramläden, chinesische Spelunken gab es hier. Asiatische, schwarze, portugiesische, britische Bevölkerung, alle drückten sich in den Markisenschatten. Behari: „Wir sind das ‚Land der sechs Rassen’. Obwohl jetzt eine fehlt: Die Weißen sind weg.“

Ethnische Vielfalt
und Rassismus

Afrikanische SklavInnen schufteten auf den im 17. Jahrhundert gegründeten holländischen, später auch englischen Plantagen. Nach Aufhebung der Sklaverei 1838 importierte England abertausende Vertragsarbeiter, die die Arbeit übernahmen: Schiffe voll mit halbverhungerten Menschen aus dem portugiesischem Madeira, aus China und vor allem aus Indien. Aktuell leben in Guyana 50 Prozent indischstämmige, 35 Prozent afrikanischstämmige und 5 Prozent indigene Bevölkerung, 10 Prozent Mestizen, sowie ChinesInnen und PortugiesInnen.
In seiner Seemannskaschemme serviert Behari populären Banko- Wine: neun Volumenprozent Alkohol, zu süß wenn er warm ist – aber gut mit Eis. Auf dem Etikett leuchten Hammer, Zirkel und Ährenkranz, darüber steht: „Goldmedaille Leipziger Messe 1986“.
Was ist los mit diesem Land? Souveränität erlangte die Kolonie British Guyana 1966 – bereits chronisch infiziert von Rassismus, Armut und Gewalt. „Alles drehte sich um Zucker“, beschrieb Cheddi Jagan seine Plantagenkindheit. „Es gab zwei Welten: die der weißen Ausbeuter und die der nicht-weißen Ausgebeuteten. Herrenhäuser hatten elektrisches Licht, Arbeiterbarracken Kerosinlampen. Elektrizität war, wie so vieles, ein Statussymbol.“ – Von wegen „Elysium“! Die Ethnien lebten voneinander getrennt, fast ohne Kontakt. Bis heute arbeitet ein Großteil der afrikanischstämmigen Bevölkerung in urbanen Zentren und Minen, Großteile der indischen Bevölkerung als Küstenbäuerinnen und -bauern. Die Indígenas verlassen selten das Hinterland. Guyana ist ein zersplittertes Land.
Seit viele Indo-GuyanerInnen wie Behari stadtwärts ziehen, geraten sie mit den Afro-GuyanerInnen und Portugiesischstämmigen in Konkurrenzkampf. Unverständnis verschärft die Lage. Behari weiß: „Viele Hindus schotten sich ab, verbieten ihren Kindern Umgang mit Schwarzen. Helle Haut gilt ihnen als edel und rein – einen Schwarzen in der Familie zu haben, als Albtraum! Die Schwarzen sind toleranter.“
Anfangs schien ein integrativer Sozialismus die Lösung dieser Probleme zu versprechen. Cheddi Jagan, Indo-Guyaner, in den USA zum Zahnarzt ausgebildet, und Forbes Burnham, ein schwarzer, in England ausgebildeter Anwalt, vereinten die Ethnien 1950 in ihrer Fortschrittlichen Volkspartei (PPP), die für ein Ende von Unterdrückung und Arbeitslosigkeit stand. Die Partei propagierte die Stärkung kleiner LandpächterInnen gegenüber den Zuckerbossen, die fast alles Kulturland besaßen, und strebte die Enteignung brachliegender Felder an. Auch sollten ArbeiterInnen künftig abstimmen dürfen, welcher Gewerkschaft sie angehören wollten..
Sowohl Jagan als auch Burnham träumten davon, Staatschef zu werden. Jagan wollte Kommunismus, Burnham Sozialismus. Letzterer mahnte zu Vorsicht: Draußen in der Welt herrschte der Kalte Krieg, in den USA antikommunistische Hysterie. War da Mäßigung nicht klüger? Es stand schließlich die in Aussicht gestellte Unabhängigkeit auf dem Spiel.
In der Tat ließ die Reaktion Großbritanniens nicht lange auf sich warten: Truppen landeten in Guyana, entfernten die PPP-Regierung und setzten die neue Verfassung, welche autonome guyanische Parteien erst möglich gemacht hatte, außer Kraft, um „kommunistische Subversion zu verhindern“. Jagan wurde monatelang inhaftiert.
Fortgesetzte Machtkämpfe führten dazu, dass Burnham eine neue Partei gründete, den Nationalen Volkskongress (PNC), der sich vorrangig afro-guyanischen Interessen widmete. Zeitgleich erlangte Jagans PPP den Ruf, „indisch“ zu sein. Seitdem gilt in Guyana: „Wähle deine Rasse!“ Im Wahlkampf 1961 mussten Kandidaten beider Seiten stets mit brutalen Übergriffen rechnen. Es gab Befürworter der Aufteilung Guyanas in Zonen: eine für die afro-guyanische Bevölkerung, eine für die indo-guyanische Bevölkerung und eine, in der, wer wollte, zusammenleben konnte.

Politische Machtkämpfe
der 1960er Jahre

Nach seinem Wahlsieg erklärte Jagan, Guyanas Beziehungen mit Kuba ausweiten zu wollen. Dabei ignorierte er das bis zum Zerreißen gespannte Verhältnis zwischen den USA und Kuba. Die USA nahmen an, dass ein Guyana unter Burnham für sie vorteilhafter sei. Im folgenden schürte die CIA Streiks und Aufruhr. Das Ziel: Jagans Sturz.
Ab 1962 trug die Opposition unter Burnham die Politik aus dem Parlament auf die Straße: Es gab Proteste gegen den Haushalt, der Steuererhöhungen für Wohlhabende und eine Pflicht zur Anlage von Staatsanleihen vorsah. Der von den USA beeinflusste Gewerkschaftsrat rief zum Generalstreik auf. Ein „Schwarzer Freitag“ bescherte Guyana schlimmste Unruhen, bei denen große Teile des hölzernen Georgetown niederbrannten.
Der Gewerkschaftsrat, dessen Vorsitzender zugleich Präsident der korrupten Union der ZuckerarbeiterInnen war, rief 1963 einen zweiten Generalstreik aus. Zwar waren fast nur Burnham-AnhängerInnen streikwillig, die übrigen ArbeiterInnen aber wurden von den mächtigen Firmen ausgesperrt. Die USA förderten den Streik massiv.
Die CIA schleuste den Streikenden Gelder zu. Dadurch waren diese so gut finanziert, dass sie den Streik über lange Zeit aufrechterhalten konnten und ihre Forderungen ständig erweiterten. Blutige Ausschreitungen begleiteten den Streik. Er endete erst nach 80 Tagen – mit Jagans Kapitulation.
Um die PPP endgültig aus dem Amt zu drängen, änderte Großbritannien unter dem Druck der USA das Wahlsystem, so dass ein zukünftiger Sieg Burnhams abzusehen war. Neuwahlen sollten noch vor der Unabhängigkeit stattfinden. Dies provozierte eine neue Krise. Von Februar bis August 1964 organisierte Jagan einen Generalstreik der Zuckerindustrie gegen den Wahlplan. Währenddessen wurde Guyana von Terrorwellen erschüttert, wobei sich die Gewalt vornehmlich gegen potenzielle PPP-AnhängerInnen richtete.Über tausend Menschen wurden getötet oder verwundet, 1.400 Häuser abgebrannt, 15.000 Personen gezwungen, in Gebiete ihrer jeweiligen Ethnie zu ziehen. Mit Eisenstangen bewehrte Fahrradbanden überfielen PassantInnen und Geschäfte, raubten, mordeten, vergewaltigten. Im Bauxit-gebiet von Mackenzie/Wismar machte eine aufgeputschte Menge ganze Straßenzüge dem Erdboden gleich.
Jagan erreichte nichts. Der neue Gouverneur der Kolonie sperrte gewählte PPP-Politiker ein. Derart geschwächt konnte die PPP nicht die absolute Mehrheit erzielen. Jagans Angebot, mit ihm zu koalieren, schlug Burnham aus, der stattdessen mit den portugiesisch-dominierten Liberalen die Regierung bildete.
Auch im unabhängigen Guyana beherrschten Rassismus und Korruption den Alltag. Staatsgelder verschwanden spurlos. Burnham gelang es trotz allem, seine Macht zu festigen. Die Wahlen 1968 und alle weiteren in den nächsten Jahrzehnten waren gekennzeichnet von dreistem Betrug.

Kooperativen und
Autarkie

Burnhams Politik folgte zunächst einem Konzept, das auf Selbsthilfe und Gründung von Kooperativen beruhte, denn dies garantiere maximale Mitbestimmung der Massen. Er berief sich auf Bestrebungen ehemaliger SklavInnen, die einst aufgegebene Pflanzungen gekauft hatten, um dort gemeinsam zu leben, und auf das erfolgreiche Zusammenwirken indischer Großfamilien in der Landwirtschaft. Kooperativen wurzelten in der Volkspsyche, machten „den kleinen Mann zum wirklichen Menschen“. Ab 1970 hieß der Staat offiziell Kooperative Republik Guyana. Verstaatlichungen ausländischer Unternehmen folgten.
Doch Burnham selbst untergrub seine Ideen: Er begünstigte seine Getreuen bei der Ämter- und Lebensmittelverteilung, besetzte Militär und Polizei mit PNC-Anhängern, verbot freie Presse, ließ sich als „Comrade Leader“ („Genosse Führer“) und „Kabaka“ (Swahili: „König“) feiern.
Die Folge von Vetternwirtschaft und Gewaltkriminalität war der Bankrott des Landes Anfang der 1980er Jahre. Deshalb erhöhte Burnham Reis- und Zuckerexporte drastisch, erließ umfassende Einfuhrverbote, auch für Grundnahrungsmittel und strebte Autarkie an. Der Wirt Behari: „Wir experimentierten mit ‚Reismehl’, kauten zum Zähneputzen Zweige. Nächtelanges Schlangestehen wurde Routine.“
Das Schmuggelgeschäft blühte. EinwohnerInnen mancher Landesregionen und viele bestechliche Staatsdiener lebten und überlebten fast ausschließlich durch diesen Geschäftszweig. Häufigste Schmuggelwaren waren Milchpulver, Weizenmehl, Zwiebeln, Konserven, Seife, Plastikware, Gasherde, Kühlschränke, Benzin. Die Leute legten zu Hause Geheimfächer an, in denen sie illegal eingeführte Lebensmittel horteten – stets auf Polizeikontrollen gefasst. Wirtschaft und Infrastruktur brachen zusammen. Durchfall, Malaria und Krätze breiteten sich in der Hauptstadt aus. Mehr als zwei Drittel aller Kleinkinder waren unterernährt. In Scharen verließen die Menschen Guyana.
1985, auf dem Sterbebett, soll Burnham um Kondensmilch gebeten haben – ein illegales Produkt. Erst sein Nachfolger, der afro-guyanische Anwalt Desmond Hoyte (PNC), lockerte den Weizenmehl-Bann und die übrigen Verbote.

Wachsende Ungleichheit

Mit Jagans Wahlsieg 1992 besserte sich langsam die ökonomische Lage, doch die Reichtumsschere klafft auseinander. Straßen, Schulen, Betongebäude werden heute gebaut, Felder Besitzlosen zur Bebauung freigegeben, Verkehrsampeln installiert: Doch die Stadt erstickt 2005 im Stau. Von Sozialismus redet keiner mehr. ManchE ExilantIn kommt hoffnungsfroh heim, bringt US-Dollars und US-Lebensart mit. Raubkapitalismus hat Konjunktur. Ausländische Holz- und Bergbaufirmen plündern das Land. US-Wunderprediger und Sektenangehörige missionieren in den Indianerreservaten mit häufig zweifelhaften Methoden. Internationale Drogen- und Waffenschmuggler strömen ins Land. Georgetowns Banden besitzen Maschinenpistolen. Janet Jagan, gebürtige US-Amerikanerin, Witwe des 1997 verstorbenen Cheddi, musste wegen ihrer weißen Hautfarbe als Staatschefin (PPP) zurücktreten – offiziell „aus gesundheitlichen Gründen“. Viele Afro-GuyanerInnen fühlen sich von der PPP diskriminiert. Nach deren erneutem Wahlsieg 2001 standen Teile der Stadt in Flammen – angezündet von verärgerten PNC-AnhängerInnen. 2002 stürmte eine erregte Menge sogar den Sitz des gegenwärtigen indischstämmigen Präsidenten Bharrat Jagdeo (PPP). Der Staat verlor monatelang die Kontrolle über die afro-guyanische Siedlung Buxton.
Der schwarze Goldgräber Solex im Dschungel sagt: „Der Staat ist ein Zuhälter. Wir im Busch brauchen ihn nicht. Wir zahlen keine Steuern. Wenn wir krank sind oder bedroht werden, helfen wir uns allein. Hier draußen sind wir frei.“ – Das Konzept Kooperative hat also immer noch Bestand.
Die Banko-Wine-Flasche ist leer. Behari holt eine neue.

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