Trinker, Rinder und falsche Blondinen
Subjektive Betrachtungen aus der brasilianischen Provinz
Wochenende in Belém, der Millionenstadt an der Amazonasmündung. Nach erledigtem Einkauf könnte ein feijoada lokken besonders aber eine cerveja estupidamente gelada, ein aberwitzig kaltes Bier, vorzugsweise von der regionalen Marke CERPA (Cerveja do Pará). Also ab in die Kneipe, die sich in Belém, wo die Strände fehlen und der Fluß zugebaut ist, vorzugsweise und bequem am Straßenrand findet. Alkoholkontrollen sind glücklicherweise nur aus dem Fernsehen bekannt, dem beliebtesten Tagesvergnügen in einer brasilianischen Provinzmetropole am Wochenende. – Fressen und Saufen – steht somit nichts im Wege.
Aber da nerven schon wieder die BesucherInnen aus Deutschland. Sie möchten in eine ruhige Kneipe, wo man sich vielleicht unterhalten könnte. Seltsam, daß sogar Menschen, die schon immer alles wissen, sich in Ruhe unterhalten möchten. Nun gut, man ist ja besucherfreundlich und gibt sein Bestes. Aber eine ruhige Kneipe? Versuchen wir’s also mit dem Klassiker, der Bar do Careca. Nur der übliche Straßenlärm und der Geruch der Abwässer könnten dort normalerweise das Wohlbefinden der gringos stören, die aber schon aufgrund ihres weitverbreiteten Geizes solche Belästigungen in Kauf nehmen, da der Amazonasfisch hier gut und preiswert ist. Das cerveja estupidamente gelada (leider nur Antartica) ist schnell serviert und der Fisch bestellt. Aber da bahnt sich schon die Katastrophe an, die so vorhersehbar ist wie der nächste Regenschauer. Ein Auto baut sich vor der Kneipe auf, die Heckklappe wird geöffnet und bleibt offen. Die Bescherung ist offensichtlich: Das ganze Auto ist mit Lautsprechern vollgebaut, und die Beschallung läßt nicht lange auf sich warten. Es bedarf keiner Stiftung Warentest, um gleich zu erkennen, daß der Käufer zwar mit Powerwattzahlen, aber nicht mit Qualität bedient wurde. Aber wahrscheinlich ist’s schon recht so. Hauptsache es dröhnt gut.
Den gringos steigt die Entsetzensbleiche ins Gesicht, mit der Ruhe ist’s nun vorbei und wieder bestätigt sich der alte Spruch: Von Brasilien lernen heißt, die Stille besiegen lernen. Und das Schicksal ist gnadenlos, die wummernden Lautsprecher geben nicht das von sich, was international als brasilianische Musik (MPB) so geschätzt wird, sondern das, was vielen in Belém am Besten gefällt. Und spätestens wenn Roberto Villar sou papudinho singt, wissen wir, daß die Autobesitzer gute paraenses sind.
Von Schluckspechten und Sirenen
Wenn des Portugiesischen kundige LeserInnen nun nicht wissen, was ein papudinho ist, geht es ihnen nicht besser als den Menschen aus Sâo Paulo oder Rio. Das Wort ist nur im Norden und Nordosten gebräuchlich und bezeichnet einen harten Trinker. „Ich bin ein Schluckspecht und niemanden Rechenschaft schuldig“ mag zwar jeder Anti-Alkoholismus-Kampagne Schauer bereiten, wurde aber Professional Papudinho eindeutig die Hymne der Saison – im Norden und Nordosten Brasiliens wohlgemerkt – und der Durchbruch für Roberto Villar. Auch der ist wohl hierzulande kaum bekannt, in Belém (und nicht nur dort) ist er absolut unvermeidlich und verkauft heute wohl entschieden mehr als alle Gilberto Gils oder Caetano Velosos. Hier jedenfalls heißt der Star der Saison Roberto Villar und die angesagte Musik ist brega. Über die Herkunft des Wortes streiten sich bereits die SprachforscherInnen, aber im allgemeinen bedeutet es etwas wie „schlechter Geschmack“. Kleider, Wohnungseinrichtungen oder Menschen können brega sein, in Berlin würde einem da eine Neuköllner Eckkneipe einfallen. Und dort würde die Musik von Roberto Villar trotz ausländischer Texte kaum unangenehm auffallen. Brega ist eine tendenziell sentimentale Schwofmusik, etwas für verliebte Goldsucher (der Titel eines großen brega-hits), Lastwagenfahrer und Vorstradtromantik. Als Tanz ist brega aber nun kein einfacher Schieber sondern eine komplexe Paarangelegenheit. Zu den angeblichen Vorzügen von brega gehört eben, daß er getanzt und gehört werden kann. Brega ist nichts Neues. Altmeister Reginaldo Rossi versetzt seit zwanzig Jahren Frauen jeden Alters in Verzückung, aber aus Gründen die noch keine Musiksoziologe erforscht hat, feierte brega 1996 mit dem Erfolg von Roberto Villar eine ungeahntes Comeback.
Tanzt das Rind!
Dankenswerterweise hat auch jede brega-CD ein Ende, und wenn das Schicksal einmal günstiger gesonnen ist, könnte nun nach Roberto Villar der andere Hit der Saison kommen: boi. Wörtlich nichts anderes als Rind, handelt es sich hier aber um einen Tanz, der in verschiedensten Versionen in unterschiedlichen Regionen Brasiliens gepflegt wird. 1996 wurde nun zum Jahr des amazonensischen boi. Der Durchbruch war jahrelang vorbereitet durch den systematischen Aufbau des boi-Festivals in Parantins am Amazonasfluß. Gesponsert durch Coca Cola wurde das regionale Fest zu einem nationalen megaevento. Interessantes Detail: Parantins ist der einzige Ort der Welt, in dem es auch Coca mit blauen Etikett auf der Flasche gibt. Denn den beiden rivalisierenden boi-Gruppen sind Farben zugeordnet: es tritt rot gegen blau an und Coca mußte sein Neutralität beweisen. Aber der wirkliche Durchbruch kam erst als carapicho, eine Tanzkapelle aus Manaus, die gar keine echte boi Truppe ist, von einem französischen Filmregisseur „entdeckt“ und nach Frankreich gehievt wurde. Als ihr Hit TIC TIC TAC in die französischen Hitparaden geriet, gab es auch in Brasilien kein Halten mehr. Zum großen Stolz der leidgeplagten AmazonasbewohnerInnen brachte die Saison 1996/7 zwei nationale boi-Hits in die Charts und eine ungewöhnliche Anerkennung für eine regionale Musik.
Boi vermischt verschiedene Musikstile und gilt als caboclo-Musik, also als Musik der mit Weißen und Schwarzen vermischten Nachkommen entwurzelter Ureinwohner. Der neue boi ist deutlich schneller geworden, hat Pop Elemente integriert und beutet gleichzeitig Indioromantik in szenischen Darstellungen aus, die sich besonders gut dazu eignen, leichtestbekleidete Frauen („Kriegerinnen“) auf der Bühne tanzen zu lassen.
Der zweite große boi-Hit der Saison heißt vermelho (rot) und ist eine Hymne auf die Roten von Parantins, gesungen von der Gruppe Caprichoso. Aber auch Lieder haben ihre Geschichte. Im Wahljahr 1996 wurde das völlig unpolitisch gemeinte vermelho zum Hit der in Belém siegreichen linken Arbeiterpartei (PT). Der Kandidat der Rechten versuchte erfolglos das Abspielen des Liedes während der Wahlkampfzeit verbieten zu lassen. Aber eine Adaption nicht ohne Ironie: In einer Zeile des Liedes heißt es „auch der alte Kommunist ergibt sich (den Roten von Parantins)“. So wurde ein Lied, das eigentlich eher den Triumph der Vergnügungskultur über die alten Ideologien besingt, zur Hymne der doch noch nicht ganz toten Linken.
Gut, der boi mag verpopt sein, aber wo geht’s schon rein in der Welt zu, es ist immer noch mitreißende Tanzmusik, die auf Dauer allenfalls unter einer gewissen Monotonie leidet. Und spätestens als Altstar und Busenwunder Fafá de Belém zusammen mit Caprichososänger Arlindo Junior vermelho aufnahm, war boi in die Kategorie der gehobenen Popmusik mit nationaler Verbreitung aufgestiegen.
Flaschen, Hintern und falsche Blondinen
Nun reicht’s aber mit der Regionalmusik. Irgendwann kommt garantiert die dritte Komponente eines populären Mixes. „É a danca da bundinha“ – „Das ist der Hinterntanz“, dröhnte es nun aus den Lautsprechern, was allerdings ohne die entsprechende Aufführung äußerst reizlos bleibt. Es hat die Stunde von É o Tchan geschlagen, der wohl meistgespieltesten Gruppe der Saison. Die Musik wird als Bahia-pagode bezeichnet und stellt wohl eine extreme Verfallsform des Sambas da. 1995 begann der Aufstieg einiger pagode-Gruppen aus Bahia. Pagode ist ein mit einer kleineren (als die Sambaschulen) Besetzung gespielter melodiöser Samba. Die Bahia-Gruppen schafften ihren Aufstieg, indem sie diese tendenziell immer schon seichte Musik zu Karnevalsschlagern zum Mitgrölen mutierten. Aber nicht allein das erklärt den Aufstieg von É o Tchan, Gerasamba oder Compania do Pagode. Zum Mix gehören bewußt anzügliche Texte und die Choreografie der Tänzerinnen. Carla Perez, Tänzerin von É o Tchan, ist die unumstrittene Popmüll-Muse des Jahres 1996 geworden, und auch 1997 ist noch kein Ende ihrer Popularität abzusehen. Meistens wird sie nur noch als a loira, die Blonde, bezeichnet. Mit ihr tanzte fast die gesamte brasilianische Jugend den Flaschentanz: „Reib‘ Dich auf dem Flaschenhals“, und jetzt ist halt der Hintern dran.
Kulturkritische Geister sind entsetzt, wohl weniger weil Carlas Haare nur gefärbt sind, sondern weil ausgerechnet Bahia, das angebliche Zentrum des Schwarzen Brasiliens eine falsche Blondine zum Pop-Idol gemacht hat. Hinter Carla jaulen die Sänger die dumm anzüglichen Texte mit einem unvermeidlichen Grinsen, das Fröhlichkeit verbreiten soll. Nun das ist bei unseren Autotätern glücklicherweise nicht zu sehen. Doch Vorsicht: Nach zehn Minuten Zwangshören von Bahia-pagode kann jeder Glaube an die brasilianische Musik einen schweren Knax erleiden. Aber was soll’s, hier sollen ja nicht kulturkritische Geister bedient, sondern den gewöhnlichen Vergnügungen eines Wochenendes gefrönt werden. Während aus unserem ruhigen Mittagessen nun nichts geworden ist, hat sich aber um den Zwangsbeschaller inzwischen eine tanzfreudige Menge gebildet, der es so gefällt. Die Investition in Wattzahlen hat sich somit als guter Köder bewährt.
Nun ist allerdings der Bahia-Stoff nicht nur miesepetrigen Deutschen ein Greuel, die Klassiker des brasilianischen Sambas und das Feuilleton haben mit vereintem Entsetzen reagiert. Und so bewahrheitet sich die Umkehrung einer alten Weisheit: Wo viel Schatten ist kommt bald auch Licht. Sambaaltmeister wie Zeca Pagodinho und Martinho da Vila fühlten sich provoziert und haben neue Platten aufgelegt und verkaufen nun im Windfall des pagode-Schrotts ihre doch deutlich bessere Musik wie noch nie. Die eigentliche Sensation der letzten Monate war aber die neue Produktion von Paulo da Viola: Bebadosamba ist die richtige Medizin nach musikalischen Zwangsberieselungen. Funktioniert also doch das theologische Motto „Durch Übel zum Guten“? Wie dem auch sei, unsere kurze Rundschau läßt sich damit wenigstens mit einem eindeutigen Plattentip beenden, der allerdings nicht unbedingt das ist, was in einer Provinzmetropole an Wochenenden so läuft.