Nummer 379 - Januar 2006 | Subkulturen

Über den organisierten Kampf zu neuen Möglichkeiten

Die Legalisierung der Sexarbeit als zentrale Forderung der Travestis in Buenos Aires

Als 1998 die Verfassung der Stadt Buenos Aires verabschiedet wurde, provozierte dies seitens der Mittelschicht heftige Kritik und politischen Druck auf die Stadtregierung. Die darin festgelegte Legalisierung der Sexarbeit wurde daraufhin zurück genommen. Transvestis, die häufig von der Sexarbeit leben müssen, erfahren deshalb immer wieder eine massive Diskriminierung. Gegen den ihnen verwehrten Zugang zu alternativen Lebensmöglichkeiten jenseits der illegalen Sexarbeit setzen sich die Travestis zunehmend selbstbewusst zur Wehr.

Vivian Szelinsky

Lohana Berkin ist Travesti und lebte viele Jahre von der Sexarbeit. Sie gehörte zu jenen, die sich Nacht für Nacht an die Straßenecken von Constitución, Barracas oder auch des besser situierten Palermos stellen und auf ihre Freier warten. Aus der Sexarbeit auszusteigen war angesichts geringer Aussichten auf alternative Verdienstmöglichkeiten ein schwieriger Entschluss. Sie wagte diesen Schritt schließlich aufgrund der alltäglichen Polizeigewalt, der viele Travestis durch die Illegalisierung der Sexarbeit bis heute ausgesetzt sind.

Gegen Kriminalisierung und Polizeigewalt

Bis 1998 erlaubten sogenannte polizeiliche Erlässe unter Umgehung richterlicher Genehmigungen auf Kleinkriminalität zu reagieren. Die Opfer waren den Launen der Polizei ausgesetzt, die als RichterInnen in erster Instanz fungierten. Neben willkürlichen Festnahmen waren verschiedene Formen von Diskriminierung die Folge dieser Situation. Zahlreiche Protestaktionen einer Vielzahl von Menschenrechts-, piqueteros-, Gay-, Lesbian- und Travestigruppen forderten und bewirkten die Verabschiedung des Códigos de Convivencia Urbana, jener Verfassung der Stadt Buenos Aires, der die strafrechtlichen Folgen sowie die Handlungen der Polizeikräfte bei kleinen Delikten definierte und zudem die Sexarbeit zur straffreien Aktivität erklärte.
Der Kampf gegen die polizeilichen Erlässe wurde begleitet von einer stärkeren politischen Organisierung der Travestis. Ihre erste kollektive Anzeige richtete sich gegen eine Karnevalsvereinigung. Die Amigos de la Plaza Mayor (Freunde der Plaza Mayor) verboten auf ihren jährlichen Umzügen die Teilnahme von Travestis, da aus ihrer Sicht die weibliche Verkleidung nicht mit dem „öffentlichen Klima“ in Einklang zu bringen sei. Travestigruppen verurteilten diese Bestimmung und betonten, dass genau diese Auffassung von „Moral“ und „guten Sitten“ viele Menschen kriminalisiere.
Diese offen geäußerte Kritik war für viele Travestis der Anlass, öffentlich über ihre alltäglichen Probleme zu reden. Sie forderten, dass die Selbstbestimmung der sexuellen und sozialen Identität keiner Einschränkung unterliegen darf und frei definierbar sein muss.
Dies war das Hauptanliegen der ersten Travestisgruppierung, der Vereinigung der Travestis Argentiniens (ATA), die schon seit 1991 aktiv war. Heute sind die Organisation der Travestis und Transsexuellen der Republik Argentinien (OTTRA) und die Vereinigung des Kampfes um Travesti- und Transsex – Identitäten (ALITT) das politische Sprachrohr für die Travestis von Argentinien.

Produktion eines Stereotyps

Lohana Berkin ist eine der zentralen Personen der ALITT. Sie verbindet ihre ersten Schritte der Politisierung mit den Erfahrungen aus der Organisation feministischer Gruppen: „Als wir anfingen uns zu treffen, organisierten sich viele FeministInnen und sprachen all das aus, was wir dachten. Ich veränderte allmählich die Vorstellung, die ich über Gesellschaft hatte. Und ich veränderte mein Bild über mich selbst. Die Travestis unterliegen allen Formen von Diskriminierung: Armut, Prostitution, Gewalt. Ich nahm an einem Seminar zu Gewalt gegen Frauen im Haushalt teil, hörte zu und stellte fest, dass all das auch mir passiert. Die Gewalt ging zwar nie von einem einzelnen Mann, jedoch von der Gesellschaft aus. Die Gesellschaft marginalisiert und kennzeichnet mich als ein nicht vollwertiges Mitglied.“
Der Erfolg, den die verschiedenen Organisationen mit der Einführung des códigos im Jahr 1998 erzielten, währte nicht länger als ein Jahr. Als der politische Druck des konservativen Sektors der Stadt Buenos Aires anhielt, wurde der Código modifiziert und durch den Artikel 71 erweitert. Er erklärte „die Störung der öffentlichen Ruhe“ als strafbar. Die Sexarbeit blieb zwar vorerst legal. Der Artikel 71 schränkte sie jedoch dahingehend ein, dass sie vor Kirchen, Schulen und Wohnhäusern eben als „Störung der öffentlichen Ruhe“ definiert wurde.
Im August 2004 wurde mit dem Artikel 81 die Sexarbeit wieder zum Straftatbestand erklärt. Ein bis fünf Tage Arbeit zum Zwecke des Gemeinwohls sowie Geldbußen von 200 bis 400 Pesos wurden als Strafmaß festgesetzt.
Lohana Berkin bezeichnet diese Reglementierung des öffentlichen Raumes als dessen eigentliche Privatisierung. Mit der erneuten Illegalisierung werden diejenigen kriminalisiert, für die die Sexarbeit die einzige Verdienstmöglichkeit ist. Sie verlieren damit ihre Existenzgrundlage.
Insbesondere Travestis werden oft schon von vornherein mit der Sexarbeit in Verbindung gebracht. Diese Stigmatisierung als Prostituierte wird sowohl innerhalb der Gesellschaft als auch in der Selbstwahrnehmung gefestigt: „Wir wählen die Prostitution nicht. Man könnte nur von einer freien Wahl sprechen, gäbe es andere Alternativen,“ erzählt Lohana. „Für Travestis existieren diese jedoch nicht. Das Schlimme dabei ist, dass wir uns als Travestis in der Prostitution selbst entwerfen. Wir selbst reproduzieren das Bild Travesti gleich Prostituierte. Anfangs dachte ich, dass es meine eigene Entscheidung sei, wenn ich mich prostituiere. Später fiel mir auf, dass das kein Zufall war, sondern dass sich das an einem ziemlich perversen System festmacht. Die Prostitution ist begründet durch Armut und Korruption des Staates,“ fährt sie fort.

Lebensrealitäten in Buenos Aires und Mar del Plata

Ein Großteil der in Buenos Aires lebenden Travestis kommt aus den ärmeren Provinzen des Nordens wie Salta und Tucuman. Das Leben in größeren Gemeinschaften mit anderen Travestis, die oft von älteren Travestis ausgehende gemeinschaftliche Stütze sowie bessere Möglichkeiten auf ein Einkommen als im Norden des Landes, zieht viele in die Hauptstadt. Jedoch sind auch dort die Verdienstmöglichkeiten stark eingeschränkt oder ausschließlich auf die Sexarbeit beschränkt.
In einer vor wenigen Wochen durch die Organisation ALITT in den Städten Buenos Aires und Mar de Plata unter 302 Travestis durchgeführten Umfrage äußerten 79 Prozent der Befragten, dass sie in der Sexarbeit tätig sind. Von den unter 21-Jährigen sind es 92 Prozent, die sich mit der Sexarbeit ihren Lebensunterhalt verdienen. Vielen Travestis, die schon in jungen Jahren – oftmals schon im Alter von zwölf oder dreizehn – mit der Sexarbeit beginnen, fällt es schwerer sich andere Jobs zu suchen als denjenigen, die erst in späteren Lebensjahren anfangen in der Sexarbeit tätig zu sein. Aber auch andere Jobs finden Travestis meist nur im informellen Sektor. Und die sind zudem oft prekär.
Der Ausstieg aus der Sexarbeit setzt Reflexion und Mut voraus, denn die Betreffende muss sich vom Stereotyp Travesti gleich Prostituierte lösen. Zudem erwartet sie eine sehr schwierige Arbeitsuche, die mit Diskriminierungen und Repressionen verbunden ist. Ob beim Zugang zum Gesundheitssystem, zur Ausbildung, zu Lohnarbeit oder zum gesellschaftlichen Leben – in fast allen Bereichen werden Travestis diskriminiert und ausgeschlossen. Gerade deshalb bleibt die Forderung nach der Legalisierung der Sexarbeit ein wichtiges Thema.
Aus Angst vor Diskriminierung in den Schulen brechen Travestis oftmals frühzeitig ihre Schullaufbahn ab. Eine Angst, die übrigens auch im Gesundheitswesen eine wichtige Rolle spielt, wo viele Travestis erst in sehr kritischen Krankheitsstadien ÄrztInnen aufsuchen. Die Mehrheit der befragten Travestis beklagt eine geringe Aufmerksamkeit und Respektlosigkeit von seiten der Angestellten verschiedener öffentlicher und privater Institutionen. Die Identität Travesti wird marginalisiert und immer wieder in Frage gestellt.

Gewalterfahrung und neue selbstbewußte Antworten

Die von den Travestis in alltäglichen Situationen erfahrenen Erniedrigungen wirken sich in physischer und psychischer Hinsicht negativ auf sie aus. Die ALITT-Befragung macht sowohl Quantität als auch Qualität der Gewalt deutlich. So bekundete die Mehrheit der befragten Travestis schon einmal Opfer von Gewalt geworden zu sein. Am häufigsten sind Beleidigungen und Beschimpfungen. 86 Prozent der befragten Travestis gaben an, Opfer von Polizeigewalt geworden zu sein, worunter zum Beispiel illegale Verhaftungen und Schläge fallen. In den letzten fünf Jahren sind nach offiziellen Angaben 420 Travestis gestorben. 62 Prozent von ihnen starben an Aids, während 17 Prozent Opfer von Morden wurden. Todesursachen sind aber auch Krebs, Selbstmord, Drogenüberdosis, Diabetes oder Komplikationen beim Spritzen des Silikons.
Die politische Organisierung vieler Travestis in den Gruppen bietet Möglichkeiten, auf die unterschiedlichen Formen von Diskriminierung zu antworten. Erste Erfolge dieser Strategie zeigen die in den letzten Jahren zunehmenden öffentlichen Aktivitäten. Lohana Berkin meint dazu:„Einen großen Verdienst sehe ich in der Veränderung vieler Travestis von passiven Opfern zu aktiv Handelnden. Wir werden zu gefährlichen Subjekten. Zu Subjekten mit Gewissen, mit Rechten und mit Forderungen. Im letzten Jahr wollte ich die Sekundarschule beenden. Die Direktorin meinte zu mir, dass sie keinen Platz hätten. Ich sagte zu ihr: ,Also schau mal, überlege dir das lieber noch einmal oder ich mach dir einen Prozess den du dein Leben lang nicht vergessen wirst.’ Das ist mein persönlicher Wechsel: Die Leute dazu zwingen, durch die Schule zu gehen oder zumindest Travestis genauso zu respektieren wie Andere. Heute bin ich Delegierte der Travestigruppen im Rat des Códigos de Convivencias und eine der Bekanntesten in der ganzen Schule. Meine compañeras werden das ähnlich machen. Einige besetzten ein Hotel, in dem sie arbeiteten und ausgebeutet wurden. So wurden sie zu handelnden Subjekten.“

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