Bolivien | Nummer 403 - Januar 2008

Umkämpfte Verfassung

Die Verabschiedung der neuen Verfassung löst heftige Proteste aus. Die Opposition bleibt der Abstimmung fern

Nach Landreform und Nationalisierung der Rohstoffe hat die Regierung von Evo Morales auch den dritten Schritt im Prozess der Neugründung Boliviens vollzogen. Trotz des Widerstandes der konservativen Opposition ist es der Verfassunggebenden Versammlung gelungen, eine neue Magna Charta zu verabschieden. Sie stärkt vor allem die Rechte der indigenen Bevölkerungsmehrheit und die Rolle des Staates.

Benjamin Beutler

Es war knapp, aber es hat gereicht. Kurz vor Ablauf des Mandats zum 14. Dezember stimmte die Verfassunggebende Versammlung (VV) am 9. Dezember dem Abschlusstext zu. Nötig für die Annahme war eine Zweidrittelmehrheit aller anwesenden Wahlmänner und -frauen, die mit 165 der insgesamt 255 VolksvertreterInnen trotz Boykotts seitens der Oppositionsparteien zustande kam. Vor allem PODEMOS, die Partei des ehemaligen Präsidenten Jorge „Tuto“ Quiroga, politischer Ziehsohn des Ex-Diktators Hugo Banzer, hatte sich immer wieder einer konstruktiven Zusammenarbeit in der VV entzogen, so dass es wenig verwunderte, dass ihre Mitglieder letztlich auch dem entscheidenden Plenum fern blieben, bei dem der Entwurf en detail abgestimmt wurde. So hatte „Tuto“ den eine Woche vorher bereits en gros ratifizierten Verfassungsentwurf als „illegal“ abgetan, diesen als “einen Wisch, nicht mehr wert als ein Stück benutztes Klopapier” bezeichnet.
Was hat der politische Gegner nicht alles versucht, um die Verabschiedung der neuen Verfassung zu verhindern? Als erstes sollte die Arbeit der VV durch eine mit großem medialem Aufwand betriebene Diskussion um die Abstimmungsmodalitäten des Konvents gebremst werden, was tatsächlich teilweise gelang. Die im Gesetz zur Berufung der VV genannten Regelungen waren ungenau. So konnte die Opposition auf einer Zweidrittelmehrheit für jeden einzelnen abzustimmenden Verfassungsartikel bestehen. Das hätte aufgrund der von der MAS in den VV-Wahlen 2006 verfehlten Zweidrittelmehrheit sämtliche tief greifenden Gesetzesvorhaben blockieren können. Die MAS hingegen wollte diese Mehrheitsregel nur für den gesamten Abschlusstext gelten lassen und gab erst Mitte des Jahres nach und akzeptierte die Zweidrittelmehrheit.
Die Opposition suchte schnell nach einem neuen Kriegsschauplatz gegen die VV. 1899 hatte Sucre, die alte Hauptstadt aus Kolonialzeiten, in einem Bürgerkrieg den vollen Status an das damals siegreiche La Paz verloren. War es in Sucre als Tagungsort relativ ruhig gewesen, so änderte sich dies nun schlagartig. Die lokale Elite, unterstützt vom gesamten regierungsfeindlichen Lager des Landes, forderte eine unbedingte Behandlung der „Hauptstadtfrage“ durch die VV. Mit dem Verweis auf die fehlende „Zuständigkeit“ lehnte die große Mehrheit der VV schon die Debattierung dieser Frage ab. Das ließ den bisher nur unterschwellig artikulierten Rassismus und die Ablehnung gegen alles „Indianische“ ungehemmt hervorbrechen.
Indigene MAS-Wahlmänner- und -frauen wurden immer wieder Opfer gewalttätiger Übergriffe auf ihrem Weg zur Tagungsstätte des Stadttheaters Gran Mariscal Sucre. Von aufgebrachten capitalin@s wurden sie rassistisch beleidigt, erniedrigt und bespuckt. Es kam zu regelrechten Jagdszenen durch die Straßen Sucres auf MAS-FunktionärInnen, ein Haus wurde angesteckt und ging in Flammen auf, weil der Mob dort einen Flüchtenden vermutete. „Wer nicht hüpft, der ist ein Lama“ und „Scheiß Indios raus aus Sucre“ sind nur einige Beispiele für einen tief verwurzelten Rassismus, der in Bolivien auch heute Alltag ist. Die Opposition europäischer Herkunft macht sich diese Ressentiments bestimmter Bevölkerungsteile immer wieder zu Nutzen, spannt sie ein, um ihre Jahrhunderte währenden Privilegien zu verteidigen. Die sind heute gefährdet, und das mit dem Aymara Evo Morales Ayma ausgerechnet ein unstudierter „Indio“ das höchste Amt des Landes bekleidet, ist ein für viele unerträglicher Affront. Eine neue Magna Charta, die sich von Anfang an die „De-Kolonialisierung“ via Stärkung der Rechte der indigenen Bevölkerungsmehrheit auf die Fahnen geschrieben hat, musste daher von Anbeginn mit starker Ablehnung rechnen.
Kurz nachdem der Kongress und die VV Ende Juli ihr Mandat bis zum 14. Dezember verlängert hatten, verkündete VV-Präsidentin Silvia Lazarte aufgrund fehlender Sicherheitsgarantien seitens Sucres eine Zwangspause des Konvents. Nach Aufhebung der Zwangspause kam es schließlich am 24. November in der Militärschule „Teniente Edmundo Andrade“ in einem Vorort Sucres zur Verabschiedung der neuen Verfassung „en grande“, Basis waren die Vorschläge der auch während der Unterbrechung zusammengetretenen Arbeitsgruppen. Die Opposition hatte unter Berufung auf formaljuristische Spitzfindigkeiten die Verabschiedung als „illegal“ bezeichnet und ihre Teilnahme verweigert. Vor der Kaserne kam es zur Eskalation der Gewalt, bei der drei Menschen ihr Leben verloren. DemonstrantInnen stießen bei einem Erstürmungsversuch auf Polizei und Militär, die die VV verteidigten. Bis heute ist unklar, aus wessen Waffen die tödlichen Schüsse abgegeben wurden, da die Projektile nicht mit den von Militär und Polizei verwendeten Kalibern übereinstimmen. Die Medienmaschinerie hatte ihre Todesopfer, die sie der Regierung Morales anlasten konnte. Doch auch diese verbale Munition reichte nicht, um die Verabschiedung der Magna Charta noch zu verhindern.

Kasten:
Boliviens neue Magna Charta
Der verabschiedete Text der Magna Charta, der mit 411 Artikeln doppelt so umfassend ist wie die bisherige Verfassung, bestimmt Bolivien als einen „einheitlichen, sozialen, plurinationalen, kommunitären, freien, autonomen, dezentralisierten, unabhängigen, souveränen, demokratischen und interkulturellen Rechtsstaat. Er gründet sich auf der politischen, ökonomischen, rechtlichen, kulturellen und sprachlichen Verschiedenheit und Vielfalt“.
Etabliert wird ein System der „gemischten Wirtschaft“, in dem die private Formen des Wirtschaftens neben staatlichen, kommunitären und kooperativistischen bestehen sollen. Die von der Opposition geforderte departamentale Selbstverwaltung wird garantiert, aber eben auch indigene und kommunale Autonomien. Auch das Privateigentum bleibt unter Schutz, sowie die freie Ausübung des Glaubens und das Recht auf Information. Verboten wird die Privatisierung von Bodenschätzen, Wasser, Strom sowie des Bildungs- und Gesundheitssystems.
Das Zwei-Kammer-System aus Parlament und Senat wurde nicht – wie zuvor angedacht – abgeschafft, der Kongress bleibt unter der Bezeichnung „Volksversammlung“ bestehen. Die Justiz wird in all ihren Instanzen Normen traditionell-kommunitärer Rechtsvorstellungen einführen. Bei Präsidentschaft- und Vizepräsidentschaftswahlen ist weiter eine absolute Mehrheit zur Ernennung nötig. Erreichte keinE KandidatIn diesen Stimmenanteil, entschied bisher der Kongress, nun soll eine „zweiten Runde“ den Sieger oder die Siegerin bestimmen. Der in Bolivien üblichen „Politik des Paktierens“, in der politische Minderheiten zur Wahrung partikulärer Interessen die eigentliche Mehrheit ausstechen, soll so künftig ein Riegel vorgeschoben werden. Für mehr Demokratie von unten sollen Amtsenthebungsverfahren eingeführt werden, vom Präsidenten bis zu den Präfekten der Regionen.
Einzig nicht einig wurde sich der Konvent über eine Enteignung hunderttausender Hektar Landes, befindlich im Besitz einiger weniger GroßgrundbesitzerInnen. Über eine Eigentumshöchstgrenze soll nun ein „beratendes Referendum“ entscheiden, danach kommt die Verfassunggebende Versammlung erneut zusammen. Im September 2008 dann soll der komplette Text in einem abschließenden Referendum zur Abstimmung kommen.

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