Kolumbien | Nummer 452 - Februar 2012

Und dieses Massaker gab es doch…

Wegen Falschaussage gerät die Legitimität des Urteils zu Mapiripán ins Wanken

Zweifel sind aufgetaucht in einem der wichtigsten Fälle der kolumbianischen Menschenrechtsbewegung: Wegen der Falschaussage einer Klägerin zum Massaker in Mapiripán 1997 stellt der kolumbianische Staat nun das Urteil des Interamerikanischen Gerichtshofs und die Arbeit der Menschenrechtsorganisationen infrage. Auch die Bemühungen vertriebener Kleinbäuerinnen und -bauern, auf ihr Land zurückzukehren, könnten damit erschwert werden.

Alke Jenss

„Das ist dem Interamerikanischen Gericht noch nie passiert, dass plötzlich Opfer auftauchen, die sagen, nein, ich bin doch nicht Opfer von Verbrechen geworden, meine Söhne sind gar nicht verschwunden, das ist ganz schön heftig, oder?“ – Alirio Uribe Muñoz vom Anwaltskollektiv José Álvear Restrepo lacht ein bisschen. Dabei ist die Sache ernst: In einem der wichtigsten Urteile des Interamerikanischen Gerichtshofs der letzten zehn Jahre, in dem der kolumbianische Staat 2005 wegen Verletzung seiner Schutzpflichten während des Massakers von Mapiripán zu Entschädigungszahlungen in Höhe von bis zu 300.000 US-Dollar pro Familie verurteilt worden war, sind im Herbst 2011 Zweifel laut geworden. Eine der Bäuerinnen, Mariela Contreras, die vor Gericht angegeben hatte, in Mapiripán ihre beiden Söhne verloren zu haben, sorgte mit einer neuen Aussage für einen Skandal: einer der Söhne sei zwar von Paramilitärs umgebracht worden, aber erst im Jahr 2001. Der andere sei als Aussteiger der FARC-Guerilla 2008 wieder aufgetaucht. Dem Anwaltskollektiv, das Doña Mariela juristisch vertreten hatte, wird nun von staatlicher Seite Korruption vorgeworfen – zu Unrecht, sagen die Anwält_innen. Die kolumbianischen Medien hingegen nahmen Vorlagen wie die des staatlichen Generalbevollmächtigten sofort auf: Die Anwält_innen hätten wie eine kriminelle Bande agiert und mit dem Fall ein großes Geschäft gemacht. Erwiesen ist: In Mapiripán im Südosten Kolumbiens wurden zwischen dem 15. und 20. Juli 1997 dutzende Menschen von paramilitärischen Gruppen getötet und in den nahen Fluss geworfen. Die Täter, etwa 200 rechtsgerichtete Paramilitärs, waren aus dem Nordosten des Landes in Militärflugzeugen zu einem Militärflughafen in der Nähe des Tatortes transportiert und das Massaker Tage zuvor angekündigt worden. Polizeiinspektor und Bürgermeister hatten den Ort vor Beginn des Massakers verlassen; die Tat gilt als Ausgangspunkt für die Ausweitung der paramilitärischen Strategie in den Südosten des Landes. Angesichts der strategischen Lage Mapiripáns am Fluss Guaviare und zum Orinoco hin – im Südosten Kolumbiens zentrale Verkehrswege – öffnete diese Gebietsnahme den Paramilitärs den Weg nach Südosten und die Kontrolle über die Kokaplantagen der Region. Nach dem Massaker flohen etwa 2700 Menschen aus der Region. Das Urteil des Interamerikanischen Gerichtshofs wurde als großer Erfolg der kolumbianischen Menschenrechtsbewegung gefeiert, wenn auch die genaue Zahl der Opfer in den 14 Jahren seit der Tat nie ermittelt wurde.
Die Verantwortung für die genauen Ermittlungen liegt allerdings nicht bei der Klagevertretung, sondern bei der kolumbianischen Bundesstaatsanwaltschaft. Sie muss laut Urteil des Interamerikanischen Gerichtshofs ermitteln, welche der Opfer nachweislich ermordet wurden, welche verschwunden bleiben. Bereits 2007 hatte die Staatsanwaltschaft ihre Zahlen korrigiert und zwei Personen von ihrer Liste von 21 Ermordeten gestrichen. Damals hatte der Interamerikanische Gerichtshof die kolumbianische Bundesstaatsanwaltschaft ermahnt, doch sorgfältig zu ermitteln und das Urteil weiterhin umzusetzen.
Jetzt sagte die Staatsanwaltschaft öffentlich, die Opferzahl liege nur bei zehn, „aber wir haben einen Bericht der Einheit für Menschenrechte der Bundesstaatsanwaltschaft, die hat die Fälle bearbeitet, vom April 2011, in dem heißt es, die Zahl der Ermordeten liege bei 77!“ Alirio Uribe ist konsterniert. Nicht nur bleiben die Umstände des Massakers teilweise ungeklärt. Er und andere Menschenrechtsanwält_innen befürchten nun, die Anschuldigungen könnten dazu dienen, ihre gesamte Arbeit zu diskreditieren. Das Kollektiv verdient an einem erfolgreich ausgefochtenen Fall einen Prozentsatz – erfolgreiche Fälle sind allerdings selten für die kolumbianischen Menschenrechtler_innen, und keine_r verdient persönlich daran. Die an Doña Mariela gezahlte Entschädigung muss selbstverständlich zurückgezahlt werden, schenkt man ihrer aktuellen Version Glauben. Doch die Urteile des Interamerikanischen Gerichtssystems sind nicht anfechtbar, nur das übliche Evaluationsverfahren der Umsetzung ist im Gang. Mehrere kleinere Verfahren um den Fall Mapiripán sind bisher nicht abgeschlossen.
Der verworrene Kontext des kolumbianischen Krieges macht es schwer, sich vorzustellen, wie anwaltliche Arbeit funktionieren kann, wenn kaum Beweise für massenhafte Morde vorhanden sind. Häufig muss sich die juristische Arbeit hauptsächlich auf die Aussagen der Opfer und der Täter stützen. Noch in einem weiteren Fall sind von staatlicher Seite Zweifel geäußert worden: der Vertreibung von Las Pavas. Beiden Fällen ist gemein, dass nun die Rede von „falschen Opfern“ (falsas víctimas) ist, wie noch 2010 von „falsos positivos“, also vom Militär fälschlicherweise als Guerilleros ausgegebenen zivilen Opfern gesprochen wurde. Die makaberen Parallelen des Diskurses scheinen die kolumbianische Presse nicht zu stören; sogar der Innenminister sagte öffentlich, „Nein, alles weist darauf hin, dass da Opfer künstlich hergestellt werden“. Dies, obwohl Las Pavas als äußerst emblematischer Fall für die unzähligen Fälle von gewaltsamer Vertreibung galt. Das Ringen der Vertriebenen von Las Pavas um die Rückgabe des Landes war u.a. von der katholischen Kirche, der britischen Botschaft, der Universität Javeriana und internationalen Hilfsorganisationen unterstützt worden.
Die Gemeinde liegt in einer Region, in der in den 1990er Jahren die Farc-Guerilla aktiv war, später die rechtsgerichteten Paramilitärs, wie in vielen ländlichen Regionen. In der Gemeinde gab es 2003 und 2006 gewaltsame Vertreibungen von mindestens 123 Familien. Eliud Alvear, ein Sprecher der Gemeinde, erinnert sich in einem Interview mit der Zeitung VerdadAbierta, wie „sie uns in der Mehrzweckhalle der technischen Landwirtschaftsschule zusammenriefen und uns sagten, dass wir weg müssten. Das hier gehöre ihrem Chef. Das waren ungefähr 125 bewaffnete Typen. Aus Angst hat keiner was gefragt. Wir sind dann weg.“
Einige der Bäuerinnen und Bauern kehrten zurück, wurden 2009 aber teilweise wieder geräumt. Offizielle Landtitel besaßen sie nicht. Die Staatsanwältin von Cartagena, Miryam Martínez Palomino, hatte gegen den Polizeiinspektor ermittelt, der die Räumung vor drei Jahren angeordnet hatte. Nachdem der Polizist Nachweise und Zeugen beigebracht hatte, kam die Staatsanwältin zu dem beängstigenden Schluss, dass es dort nie gewaltsame Vertreibungen gegeben habe und das Land von Las Pavas immer schon einem Grundbesitzer gehörte. Dieser sei schlicht Opfer von Landbesetzungen geworden. Die Kleinbäuerinnen und Kleinbauern hätten sich als Opfer nur dargestellt, mithilfe des jesuitischen Gemeindepriesters und der internationalen Organisation Christian Aid. Die Staatsanwältin ordnete an, wegen Verfahrensbetrug und falscher Anklage und sogar wegen Verbindungen zur Guerilla Verfahren zu eröffnen, da ein Zeuge behauptet hatte, einen der Sprecher der Gemeinde bei einer Zusammenkunft mit Gewehr über der Schulter gesehen zu haben.
Mit großem Erstaunen und wachsender Besorgnis beobachteten nun kolumbianische wie internationale Menschenrechtsorganisationen, wie die eigentlich als seriös geltende Generalbundesanwältin Viviane Morales Anfang Dezember 2011 öffentlich die Staatsanwaltschaft von Cartagena unterstützte und verlauten lies, in Las Pavas sei nie etwas passiert. Präsident Juan Manuel Santos beglückwünschte sie öffentlich zu diesem Schritt. Inzwischen relativierte Morales ihre Aussagen; zunächst müsse man „etwas mehr in die Vergangenheit blicken“; sie habe detaillierte Ermittlungen auch zur Zeit vor 2006 angeordnet. Die Message ist: Opfer von Vertreibung und Krieg könnten Betrüger sein, die eine ganze juristische Maschinerie in Gang setzen, um sich zu bereichern. Relevant ist das vor allem für das „Rückgabegesetz“, mit dem die Regierung eigentlich in großem Stil Land an Vertriebene zurückgeben wollte. Im Gesetz, und das war von Menschenrechtsorganisationen positiv hervorgehoben worden, lag die Beweislast erstmals nicht mehr bei den Vertriebenen selbst. Anwälte wie Alirio Uribe befürchten nun, dass bei der Umsetzung dieser Gesetze zur Rückgabe von Land Argumente auftauchen könnten, dass diese Opfer vielleicht keine waren. „Und das ist absolut ernstzunehmen, ich finde das sehr sehr schwerwiegend, weil es in der Konsequenz bedeuten kann, dass das Rückgabegesetz einfach nicht angewendet wird“. Bisher wird angenommen, „wenn ich in einer Region mit bewaffnetem Konflikt eine Finca hatte und habe die verkauft, dann wird davon ausgegangen, dass der Verkauf illegal war. Weil es eine Region der Vertreibung war, nimmt man an, dass ich zum Verkauf gewaltsam gezwungen wurde“, so der Anwalt. „Jetzt kann das Argument sein, ah nein, der hat verkauft und jetzt will er sich als Opfer, als Vertriebener darstellen“.
Die Beweislast in den Prozessen der Landrückgabe könnte sich damit wieder umkehren. Vertriebene müssten dann nicht nur beweisen, dass sie tatsächlich Land besaßen, sondern auch, dass sie tatsächlich vor Gewalt geflohen sind, und nicht mit der Guerilla zusammengearbeitet haben.
Die Prozesse wegen Rückgabe von Land liegen bei regionalen Richtern, von denen viele mit lokalen politischen Kräften enge Verbindungen haben. Unabhängige juristische Urteile über Landbesitz zu fällen, könnte in Regionen wie dem Cesar oder Magdalena zumindest schwierig werden. In vielen dieser Regionen sind paramilitärische Gruppen weiterhin aktiv, wie etwa in Urabá im Nordosten, wo Anfang Januar 2012 die Gruppe „Los Urabeños“ den Stillstand von Verkehr und Transport befohlen und zwei Händler erschossen hatte. Zuvor hatte die Polizei den als Anführer der im Drogenhandel tätigen Gruppe geltenden Juan de Dios Usuaga erschossen. Landwirtschaftsminister Juan Camilo Restrepo nannte allerdings die Rückgabe von Land, das sich Paramilitärs angeeignet hatten, als eine der Ursachen für die Konfrontation. Mitten im Krieg ist die Rückkehr für die meisten Bäuerinnen und Bauern ohnehin praktisch unerreichbar – selbst wenn ihnen geglaubt wird.

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