Nummer 363/364 - Sept./Okt. 2004 | Sachbuch

„Unerwartetes in Bewegung“

Raul Zelik über die bolivarianische Revolution in Venezuela

Raul Zelik blickt in seinem Buch made in venezuela hinter die Kulissen des revolutionären Prozesses der bolivarianischen Republik. Ganz besonders die Basisorganisationen stehen im Zentrum seiner Betrachtungen: Venezuela von unten.

Anja Witte

Venezuela ist eine partizipative, protagonistische Demokratie. So steht es in der Verfassung geschrieben. Das kleine blaue Buch ist ständiger Begleiter vieler VenezolanerInnen und wird in passenden Momenten gezückt, um sich darauf zu berufen. Raul Zelik beschreibt in seinem Buch „made in venezuela“ wie diese Partizipation der Bevölkerung aussieht und wer die ProtagonistInnen sind, die diesen Prozess tragen: Diejenigen, die nach dem Putschversuch im April 2002 so vehement und erfolgreich auf den Straßen für die Freilassung und Rückkehr des umstrittenen Präsidenten Hugo Chávez gekämpft haben.

Parallele Welten

Das Buch ist entstanden aus Reisenotizen, die Raul Zelik während eines mehrmonatigen Aufenthaltes in Caracas niederschrieb. Herausgekommen ist eine spannende Reportage, die sowohl wegen Zeliks politischer Analyse als auch wegen seines Erzählstils und seiner detailreichen Schilderungen einfach mitreißt. Anekdoten, Gespräche, Reflexionen: sehr persönlich ist der Einblick in die aktuelle Situation in Venezuela, die sich eben nicht ausschließlich, wie oft dargestellt, aus dem Konflikt zwischen der Regierung des Präsidenten Hugo Chávez und der Opposition erklärt. Drei parallele Welten existieren nebeneinander: eine rechte Opposition, bestehend aus Oligarchie und Mittelschichten, eine in ihren Positionen oft uneindeutige Regierung und ein revolutionärer Prozess, der von Basisbewegungen getragen wird und dem Raul Zeliks hauptsächliches Augenmerk und Sympathie gilt. Neben treffenden Kommentaren und der ständigen, kritisch durchleuchteten Einordnung der Geschehnisse in größere politische und historische Zusammenhänge, lässt er die Menschen aus allen Bereichen der Gesellschaft selbst zu Wort kommen: Straßenverkäuferinnen aus dem immer größer werdenden informellen Sektor, Taxifahrer, ArbeiterInnen, IngenieurInnen und Guerilleros. Die Atmosphäre einer überfüllten Versammlung der Landkomitees von Caracas wird in Zeliks Erzählung greifbar. In dem heißen, viel zu engen Raum wird unter gereizter Stimmung diskutiert, wie der Erhalt von Besitztiteln für besetztes Land vorangetrieben werden kann – Land and Freedom live. Zelik erinnert sich an eine Szene dieses Films, in welcher der Regisseur Ken Loach BäuerInnen im Spanischen Bürgerkrieg über Kollektivierungen diskutieren lässt. Die Inszenierung erschien ihm damals wie „maoistisches Bauerntheater“.
An vielen Stellen des Buches outet sich Zelik als Cineast; gerade die vielen Zitate transportieren oft die Stimmung, wobei die message bleibt: Venezolanische Realität ist spannender als Kino. Aber spannend ist auch die Frage was in Filmen und anderen Medien überhaupt transportiert wird.

Information von unten

Beim Besuch einer autonomen Radiostation wird deutlich, dass es hier nicht ausschließlich um die übliche Verbreitung von Gegeninformationen zu den Mainstream-Medien geht. Die 23 alternativen Radiostationen in Caracas setzen vor allem auch auf den Organisationsprozess an sich, der die inoffiziellen Stadtteilstrukturen stärkt. Außerdem schärfen alle Beteiligten ihre Wahrnehmung dafür, wie Medien Realität produzieren und wie Information kommuniziert wird. Dies ist besonders in Anbetracht der Tatsache wichtig, dass sich in Venezuela fast alle privaten Sender in Händen der rechten Opposition befinden, die während des Putschversuches mit der Verbreitung von Desinformation eine fatale Rolle spielte.

Staatlicher Aufruf zu illegaler Aktion

Bestandteil des Buches ist eine Foto-Bildreihe des Architektenteams Sabine Bitter und Helmut Weber. Davon ausgehend, dass Architektur Herrschaftsverhältnisse abbildet, aber auch Raum bietet, den sich die Bevölkerung aneignen und damit umdeuten kann, haben sie prägnante Gebäude und Orte in Caracas dokumentiert. Beispielsweise die modernistische Universität, Barrio- und Armutsarchitekturen und insbesondere das staatliche Wohnbauprojekt „23 de Enero“. Dabei handelt es sich um ein gigantisches Kontrollgebäude, das in einer Massenbesetzung von den ärmsten Bevölkerungsschichten in Besitz genommen wurde. HausbesetzerInnen erzählen von diesem Aneignungsprozess, zu dem sie durch die Regierung ermutigt wurden. Ein eigentümliches Verhältnis zwischen Staat und privaten Bewegungen scheint die Verhältnisse auf den Kopf zu stellen: „Eine Regierung, die zu nicht-legalen Aktionen gegen Staatsbesitz aufruft; Gesetzesbrecher, die rechtliche Anerkennung fordern“, fasst Zelik zusammen.

Ein politisches Gemüsebeet

Eigenständige Entwicklungswege einschlagen lautet eines der Prinzipien der bolivarianischen Revolution. So legt die Regierung der Bevölkerung nah, die Probleme auf unkonventionelle Art anzugehen. Mitten in der Erdölmetropole Caracas werden daher von Kooperativen Gemüsebeete angelegt, um die Versorgungssituation in den Barrios zu sichern.
Immer wieder wirft Zelik Fragen auf. Zum Beispiel danach, ob nicht gerade die vom Staat unabhängige Eigeninitiative, die auch von internationalen „Entwicklungsagenturen“ propagiert wird, dem neoliberalen Diktat der „Eigenverantwortung“ das Wort redet. Nachdem die Landwirtschaft Lateinamerikas erst durch Wohlstandsversprechen, Großgrundbesitz und Agrarindustrie kaputt gemacht wurde, so Zeliks Kommentar, heißt es nun, ein bisschen individueller Lebensmittelanbau in der Stadt sei doch gar nicht schlecht.
Und dennoch: Auch ein Gemüsebeet kann das vorherrschende ökonomische Modell in Frage stellen und Autonomie gegenüber den Nahrungsmittelkonzernen thematisieren.

Erkenntnis als Prozess

Stark an made in venezuela ist, dass Zelik sich immer wieder selbst offen legt: Er erklärt seinen eigenen politischen Hintergrund, seine Sichtweise.
Nie drängt er vorgefertigte Meinungen und feste Standpunkte auf, sondern lässt seine LeserInnen am eigenen Erkenntnisprozess teilhaben.
Und der schlägt einen weiten Bogen: Vor seiner Reise stand Raul Zelik der bolivarianischen Revolution skeptisch gegenüber. Er hatte sie als ein „pathetisch aufgeladenes Projekt“ verbucht. „Verspätetes Nation Building“, so schreibt er gegen Anfang des Buches. Aber „mit jedem Tag den ich hier bin, verstärkt sich das Gefühl, dass hier etwas in Bewegung geraten ist. Etwas völlig Unerwartetes. Jenseits der gängigen Kategorien von politischer Reform oder Revolution.“

made in venezuela – notizen zur „bolivarianischen revolution“; Raul Zelik; Assoziation A, 2004, 13 Euro


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