Literatur | Nummer 462 - Dezember 2012

Ungewohnt und raffiniert

Antonio Ungar entführt seine Leser_innen in ein fremdes Land aus Emotion, Konflikten und Kampf – überzogen mit nüchternem, schrägem Sarkasmus

Antonia Schäfer

Als Oppostionsführer Pedro Akira mitten im Wahlkampf mit drei Kugeln im Kopf ins Krankenhaus eingeliefert wird, ist dies für die Einwohner_innen Mirandas kein völlig überraschender Zwischenfall. Zu häufig schon waren Gegenkandidat_innen der konservativen Partei vor der Wahl auf mysteriöse Weise aus dem Leben geschieden. Doch für Lorenzo – fleischgewordener Doppelgänger des hohen Staatsmannes und „Erretter der Armen“– bedeutet dies den Bruch mit seinem bisherigen, überschaubaren Leben. Nach Akiras Tod tritt er als Schauspieler an dessen Stelle, um der gelben Partei die Chance auf den Sieg gegen den durchweg korrupten Präsidenten del Pito und sein Terrorregime zu ermöglichen. Ein Wettlauf gegen die Todesschwadrone des Präsidenten beginnt, bei dem die Leser_innen immer wieder an der Nase herumgeführt werden. Wer sich in Sicherheit wiegt hat schon verloren. Ein Puzzlespiel, das Rätsel aufgibt…
Wofür steht Miranda? Für ein konkretes Land? Einen Prototyp lateinamerikanischer Probleme? Oder bietet die entfernte anmutende Ähnlichkeit mit García Marquez‘ Fantasiedorf Macondo einen Aufschluss? „Ich habe lediglich die Wirklichkeit kopiert“, sagt der 38-Jährige Autor. Doch auf welche Art und Weise: bildergewaltig und mit einem Schreibstil der – zunächst gewöhnungsbedürftig, doch dann umso mitreißender – Vielseitigkeit an den Tag legt. Perspektivwechsel, Brüche und Sprünge lassen selbst gewiefte Lesende grübeln. Was ist Traum, was Realität? Wer Freund_in, wer Feind_in?
Ungar schafft es die Leser_innen in der bunten Alltagserzählung Lorenzos einzulullen, um sie dann mit einem Knall aufzuschrecken. Dabei zeigt er mit bitterbösem Sarkasmus auf die Brennpunkte Lateinamerikas, lässt den selbsternannten „Helden“ der Erzählung die tiefsten Abgründe von Korruption, Intrigen und Verfolgung durchleben, ohne einen mitleidheischenden Satz zu formulieren oder auch nur seinen Sinn für Humor zu verlieren. Dafür erhielt der kolumbianische Autor im Erscheinungsjahr der Originalversion 2010 den mit 18.000 Euro dotierten Herralde-Preis.
Antonio Ungar hat einen Roman geschaffen, der bis zum letzten Moment nichts an Spannung einbüßt, der Raum für einen lebendigen, menschlichen Erzähler schafft und es erreicht, seinen Leser_innen unbewusst einen bitteren Beigeschmack auf die Zunge zu legen. Der erst einmal nicht wieder verschwindet.

Antonio Ungar // Drei weiße Särge // Fischer Verlag // Frankfurt am Main 2012 // 288 Seiten // 19,99€

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