Chile | Nummer 325/326 - Juli/August 2001

Unheilbar und fortschreitend dement

Der Prozess gegen Ex-Diktator Pinochet ist wegen Verhandlungsunfähigkeit vorerst eingestellt worden

Mit zwei gegen eine Stimme hat die sechste Kammer des Appellationsgerichtshofs in Santiago am 8. Juli den Prozess gegen den früheren chilenischen Diktator Augusto Pinochet vorübergehend eingestellt. Wegen einer „unheilbaren und fortschreitenden“ Demenz sei der 85-jährige Angeklagte verhandlungsunfähig. Niemand bezweifelt ernsthaft, dass hier jemand aus politisch-taktischen Gründen für verrückt erklärt wurde. In bizarrem Widerspruch zu dem Richterspruch stellte der Direktor der Pinochet-Stiftung, der frühere General Luis Cortés Villa, fest: „Mein General ist nicht geistesgestört“. Pinochet muss nun jedenfalls kaum mehr damit rechnen, noch einmal auf der Anklagebank erscheinen zu müssen. Im Folgenden kommentiert der in Santiago lebende und während der Diktaturzeit Pinochets mit seiner Familie nach Venezuela ins Exil geflohene Sebastián Rivera das Urteil des Appellationsgerichtshofs.

Sebastián Rivera

Verrückt ist der, „bei dem eine Beeinträchtigung psychischer Funktionen ein so großes Ausmaß erreicht hat, dass dadurch die Wahrnehmung der Realität erheblich gestört ist“, entnimmt man einem der zahlreichen Wörterbücher der Real Academia der spanischen Sprache.
Schon seit langer Zeit wird in Chile über Wahrnehmungen der Realität diskutiert. Zuerst hieß es, dass alles nicht wahr sei. Man sagte, dass jene, die nicht mehr da waren, in Europa oder Nordamerika seien, geflohen mit ihren Geliebten und Geld machend mit dem, was sie dem chilenischen Volk während des Marxismus geraubt hatten. Und die, die noch da waren, waren Lügner, waren Masochisten, „sie selbst schlugen sich“. Es gab weder Verschwundene noch Gefolterte.
Dann hieß es, ja, es sei wahr, aber nicht so sehr. Es gab Berichte, tränenreiche Eingeständnisse, mea culpa allerorts. Aber nur einige wenige waren die Bösen und es waren Personen und nicht Institutionen – es waren ein paar Wilde, die Exzesse betrieben hatten. Die Militärs verdienten Respekt, die Demokratie müsse geschützt werden, hieß es, und: Justiz im Rahmen des Möglichen. Es gab spontane Militäraktionen und bei Gelegenheit erschienen die Militärs auf den Straßen, in ihren furchtbaren Kampfanzügen. Die Gesichter angemalt und die Gewehre in der Hand, fast wie zwanzig Jahre zuvor. „Der Löwe schläft“. Einige der Bösen wurden in eine Art glückselige Gefangenschaft geschickt, in ein Hotel mit drei Sternen. Und so sagten sie, es sei erledigt.

Die Wahrheit sprang hervor

Als seine Diktatur zu Ende war, ehrte sich der Ex-General mit dem Titel des lebenslangen Senators. Ein paar Versuche, ihn festnehmen zu lassen, scheiterten kläglich. Die ersten Klagen wurden bei der chilenischen Justiz eingereicht. Alles Beleidigungen gegenüber dem Senator. Es gab eine Abstimmung im Parlament über eine verfassungsrechtliche Anklage, juristisch aber unzulässig. Einer ging so weit, den Ex-General in dessen erster Sitzung als Senator einen „Mörder“ zu schimpfen. Beachtlich. Die Wahrheit sprang manchmal hervor, dennoch schwörte er den Senatoreneid, denn es war sein selbst gegebenes Verfassungsrecht.
Danach, man schrieb das Jahr 1998, trat der spanische Richter Garzón auf und ließ ihn festnehmen. Ein Kolonialist, ein Alliierter des britischen Imperiums und der sozialistischen Internationale, sagte die Rechte. Laut schrie sie auf: eine Verletzung unserer staatlichen Souveränität, in Chile begangene Verbrechen werden in Chile verurteilt! Mehr als ein Jahr war der Ex-General in Gefangenschaft – die grausame Folter, einen alten Mann in ein Haus mit Garten zu sperren. Es gab Berichte über den „Plan Cóndor“ (mit dem die Verfolgung von RegimegegnerInnen von verschiedenen südamerikanischen Diktaturen koordiniert wurde, d. Red.) und neues Beweismaterial gegen den Ex-Diktator, aber eben auch humanitäre Gründe für seine Entlassung in die Freiheit. Fünf Schritte auf dem Flughafen, dem Rollstuhl entschwebt, und ein staatsmännischer Empfang.
Und dann wurde ihm doch die Senatoren-Immunität entzogen. Der Ex-Diktator vor Gericht, angeklagt durch den Richter Juan Guzmán. Schon damals schrien viele: Wie kann man so etwas mit einem alten Mann veranstalten, von angeschlagener Gesundheit zumal. Im Laufe des Prozesses gab es jene, die um Entschuldigung baten, weil sie von nichts gewusst hatten. Und jene, die nicht um Entschuldigung baten, weil sie von nichts gewusst hatten. Am Ende wusste niemand etwas. Und die Dokumente der CIA sind Lügen, denn bekanntlich lügt die CIA immer. Und wie sollte ER („in diesem Land bewegt sich nicht ein Blatt, ohne dass ich es wüsste“) von allem gewusst haben, was im Lande vor sich ging?

Mit Amnesie infiziert

Jetzt erfahre ich, dass er verrückt ist. Dass der Prozess gegen ihn vorübergehend eingestellt wird, weil er verrückt ist.
Immer wieder lese ich die Zeilen, die ich schreibe, diese Zeilen, die die Wahrheit schildern, und stelle mir vor, sie seien Lügen. Die Realität, die ich sehe, ist, dass es die Verschwundenen gibt, dass es jene gibt, die wissen, wo sie sind und jene, die wissen, wer sie ermordet hat. Dass die Mörder durch unsere Straßen laufen, aber niemals um Entschuldigung bitten werden, weil sie glauben, gute Arbeit geleistet zu haben. Die Realität ist, dass viele der Ex-Bewohner der Villa Grimaldi, Cuatro Alamos, London 38, República, La Esmeralda und Tausender anderer Folterzentren noch leben, um die Barbarei zu bezeugen. Die Realität, die ich sehe, ist, dass das kühne chilenische Militär voll von barbarischen Kriminellen ist, straflose Mörder, Folterer und Räuber. Dass tausende Familien durch das Exil zerbrochen sind. Dass viele den Opfern raubten, was sie wollten und heute Abgeordnete und angesehene Unternehmer sind. Die Realität ist, dass die Wahrheit sich versteckt. Die Realität ist, dass zu viele Interesse daran haben, uns mit Amnesie zu infizieren und der Geschichte einige Glieder zu amputieren. Dass die Justiz viel Zeit braucht und dennoch nicht ankommt. Die Realität, die ich sehe, stinkt, sie ist korrupt und verdorben, nur spärlich geschminkt. Die Realität ist, dass der Diktator nicht verrückt ist. Doch womöglich bin ich es, dessen Wahrnehmung von der Realität erheblich gestört ist. Womöglich bin ich ja der, der an fortschreitender Demenz leidet.

Übersetzung: N. Müllensiefen
Die Zitate ohne Quellenangabe sind Worte des Ex-Generals und Ex-Diktators Augusto Pinochet Ugarte.

KASTEN:
Öffentliche Erklärung von CODEPU

Die chilenische Menschenrechtsorganisation CODEPU (Komitee für die Verteidigung der Rechte des Volkes) erklärt anlässlich des Urteils der sechsten Kammer des Appellationsgerichtshofs in Santiago vom 8. Juli:

Das Urteil ist nicht glaubhaft. Die nationale Gemeinschaft Chiles wie auch die internationale Völkergemeinschaft wissen, dass der Ex-Diktator Pinochet nicht geisteskrank ist. Pinochet ist der Hauptverantwortliche für die schweren und systematischen Menschenrechtsverletzungen, die während seines Terrorregimes begangen wurden. Das Urteil darf ihn nicht aus seiner strafrechtlichen Verantwortung nehmen.
Das Urteil ist ein großer Rückschritt auf dem Weg zur Gerechtigkeit, da es die Straflosigkeit des Diktators Pinochet garantiert. Gleichzeitig bestätigt das Urteil, dass es nicht möglich ist, Pinochet in Chile zu verurteilen, im Widerspruch zu den gegenteiligen Bekundungen der chilenischen Regierung, die die Freilassung des Diktators aus dem Gefängnis in London ermöglichten.
Die Justiz, die gestern durch ihr Schweigen zu einem Komplizen der Verbrecher der Militärdiktatur wurde, hatte heute die historische Möglichkeit, sich vor dem chilenischen Volk und der internationalen Völkergemeinschaft zu rehabilitieren. Die Stimme der Mehrheit der chilenischen Bevölkerung missachtend, hat die Justiz jedoch einmal mehr den tausenden Opfer der Diktatur Wahrheit und Gerechtigkeit verwehrt.
Angesichts dieses Fehlurteils rufen wir die chilenische Bevölkerung wie auch die internationale Völkergemeinschaft auf, sich zu mobilisieren, damit das Urteil revidiert wird und der Ex-Diktator Pinochet nicht straflos bleibt.

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren