Lateinamerika | Nummer 378 - Dezember 2005

Unidad! Unidad!

Auf dem 3. Gipfel der Völker Amerikas in Mar del Plata wurde die neue alte Version der lateinamerikanischen Einheit beschworen

Mit viel Geschick und dem einigenden Feindbild des ungeliebten amerikanischen Präsidenten gelang es, auf dem parallel zum Amerikagipfel stattfindenden Treffen Einheit zu demonstrieren – trotz Differenzen zwischen linken Regierungen und sozialen Bewegungen.

Stefan Thimmel

Unidad, Unidad! Mehrfach beschwor Hugo Chávez in seiner dreistündigen Rede auf der Abschlusskundgebung des „3. Gipfels der Völker Amerikas“ am 2. November 2005 im argentinischen Mar del Plata die Einheit Lateinamerikas. Vor circa 45.000 Menschen war der Präsident der Bolivarianischen Republik Venezuela der einzige Redner. Die Einigkeit, die zwischen den 34 Staatschefs beim Gipfel der amerikanischen Staaten nicht herzustellen war, wurde zumindest im Fußballstadion des Badeortes für wenige Stunden zelebriert. Das alleine ist bei der traditionell zersplitterten argentinischen Linken und den teilweise verfeindeten Piquetero-Fraktionen im Land schon ein beachtliches Ereignis.
Neben Chávez war aber noch ein anderer dafür verantwortlich: Die Anwesenheit von George W. Bush in Argentinien wurde nicht nur von den DemonstrantInnen in Mar del Plata, sondern von der übergroßen Mehrheit der ArgentinierInnen abgelehnt. Chávez gelang es bei seiner mit kleinen Geschichten gespickten, frei gehaltenen Rede, seinen Hauptfeind mehrfach mit einzubeziehen. Dabei musste er ihn gar nicht beim Namen nennen, es reichte schon, den „Mister“ nur indirekt zu erwähnen. Und die Menge skandierte minutenlang „Bush-Faschist! Du bist der Terrorist“. Chávez lehnte sich am Rednerpult zurück und genoss sichtlich diesen Augenblick. Und als der begnadete Rhetoriker mehrfach „Viva Perón! Viva Evita!“ in seine Rede einstreute, waren die Zehntausenden von ArgentinierInnen, die in der Tiefe ihres Herzens fast alle Peronisten sind, endgültig glücklich.
Dabei ist das Verhältnis zwischen den sozialen Bewegungen und Chávez bei weitem nicht ungetrübt. Nicht wenige machen sich Sorgen über die fehlende Distanz zum Volkstribun Chávez. Die geballte venezolanisch-kubanische Präsenz vor allem während der Schlussveranstaltung (der nicht zum offiziellen Gipfel eingeladene Inselstaat hatte eine 300 Personen starke kubanische Delegation zum Gegebgipfel nach Mar del Plata geschickt) stellte für viele der Teilnehmenden eine Herausforderung dar. Zwischen den Regierungen, gerade auch den linken, und den sozialen Bewegungen gibt es erhebliche Unterschiede. Wie beide Seiten sich in diesem Spannungsfeld bewegen, wurde auf der Ebene der Sozialforen zum ersten Mal in Mar del Plata deutlich. Waren beim Weltsozialforum die Reden von Lula (2003 und 2005) und Chávez (2005) zwar wichtige Großereignisse, so waren sie doch nur Veranstaltungen unter tausenden anderen. In Mar del Plata hingegen avancierte ein Präsident zum Hauptredner des Gegengipfels.

Prominente Gäste

Beim Gipfel der Völker zumindest herrschte zu großen Teilen dennoch Einigkeit. Der argentinische Friedensnobelpreisträger Adolfo Pérez Esquivel hatte es, zusammen mit einigen linken Abgeordneten wie Miguel Bonasso von der Revolutionären Demokratischen Partei, fertig gebracht, die zersplitterte argentinische Politlandschaft zumindest für einige wenige Tage unter einen Hut zu bringen. Mit zu den Protesten aufgerufen hatte auch die „Hand Gottes“ persönlich. Diego Armando Maradona, der nur wenige Tage vor dem Gipfel den nicht eingeladenen Fidel Castro in Cuba interviewt hatte, war auf Bitte seines Idols Fidel mit dem „ALBA-Zug“ über Nacht von Buenos Aires gekommen, um sich am Protest gegen Bush und gegen das von den USA und seinen Verbündeten forcierte Freihandelsabkommen ALCA zu beteiligen. Am Gipfel der Völker, der für sich in Anspruch nahm, der wahre Gipfel zu sein, nahmen insgesamt 12.000 Personen teil. In 150 Arbeitsgruppen und zehn thematischen Großseminaren diskutierten GewerkschafterInnen, UmweltschützerInnen, VertreterInnen von Indígenas, GlobalisierungskritikerInnen, MenschenrechtsaktivistInnen, StudentInnen, Piqueteros/as, VertreterInnen von Stadtteilgruppen und weitere Akteure über Mittel und Wege hin zu einem anderen Amerika. In der zehn Punkte umfassenden Abschlusserklärung wurde der sofortige Abbruch der ALCA-Verhandlungen gefordert, ebenso wie die Auflösung aller bilateralen Handelsabkommen mit den USA, die Annullierung der Auslandsschulden und die Entmilitarisierung Lateinamerikas.

Kein eitel Sonnenschein

Trotz des standhaften Blocks der vier Mercosur-Präsidenten plus Chávez (die fünf Musketiere, wie Chávez Kirchner, Lula, Vázquez, Duarte und sich selbst bezeichnete) gegen die restlichen 29 Staaten wurde in den Arbeitsgruppen des Gegengipfels nicht mit Kritik auch an diesen Regierungen gespart. Einmal mehr wurden die Agrarexportmodelle und die massive Ausbreitung von Monokulturen – zunehmend mit gentechnisch verändertem Saatgut – im südlichen Teil Amerikas als aktuelle Form von Kolonialismus in einer von multinationalen Unternehmen neugeordneten Welt verurteilt. Kritik wurde auch an den gigantischen Infrastrukturprojekten wie den geplanten Erdgasleitungen und Amazonasstraßen laut. Am vehementesten widersetzen sich dem die VertreterInnen von indigenen Völkern. In ihrem Forum setzten sie eigene Akzente und in ihrer Schlusserklärung lehnten sie alle Entwicklungsprojekte schlichtweg ab. Sie forderten Autonomie und Unabhängigkeit, um ihre Zukunft und die ihrer Territorien zu gestalten.
Zum Abschluss des Gipfels der Völker (der einen Tag vor dem offiziellen Gipfel zu Ende ging) kam es dann doch noch zu der befürchteten (und teilweise auch herbeigeredeten und –geschriebenen) Gewalt. Mehrere Piquetero-Organisationen und ein Teil des linksradikalen Parteienspektrums hatten zu einer Art Nachdemonstration vom Stadion hin zur Sperrzone aufgerufen. Die relativ defensiv orientierte Polizei setzte Tränengas ein und eine kleine Gruppe von AktivistInnen begann Scheiben einzuschlagen und Geschäfte zu plündern, wobei mehrheitlich Filialen von multinationalen Konzernen angegriffen wurden. Eine Bank ging in Flammen auf. Ein Rätsel bleibt, weshalb die Banco de Galicia im Gegensatz zu allen anderen Bankfilialen in der Stadt nicht geschützt war. So machten denn die gleichzeitig gezeigten Bilder der brennenden Bankfiliale und des obligatorischen Familienfotos der 34 Präsidenten klar, dass die Stimmung in Mar del Plata nicht von „eitel Sonnenschein“ geprägt war. Das kam einigen Präsidenten vielleicht gar nicht so ungelegen.

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