Brasilien | Nummer 269 - November 1996

“Unser Europabild ist falsch!”

Interview mit Jaqueline Leite, Leiterin eines Frauenprojektes

Seit Jahren boomt der Sextourismus in Brasilien. Bevorzugtes Zielgebiet ist der verarmte brasilianische Nordosten. In der brasilianischen Öffentlichkeit findet dieses Thema jedoch wenig Beachtung. Nur einige Frauenorganisationen versuchen, die Bevölkerung zu sensibilisieren. Dieses Ziel hat sich auch das 1994 in Salvador gegründete Projekt CHAME gesetzt.

Idália Dias

Welche Ziele hat CHAME?

Das Projekt wurde während meiner vierjährigen Tätigkeit im Frauen-Informationszentrum in Zürich gegründet. Ich habe dort Brasilianerinnen betreut und gemerkt, daß es wichtig wäre, Präventionsarbeit in Sachen Frauenhandel und Sextourismus in Brasilien zu machen. Wir können oft nicht mehr viel tun, wenn die Frauen erst einmal in Europa sind. Viele der Frauen haben ein Bild von Europa, wonach europäische Männer schön und gut sind. Sie glauben, daß sie hier Arbeit finden und vielleicht einen Europäer heiraten.

Wer sind diese Frauen?

Die Frauen, die mit Touristen verkehren, sind normalerweise keine Professionellen. Es sind Frauen, die sofort verliebt sind, wenn sie mit einem Europäer zusammen sind. Dann vergessen sie das Geld, benutzen kein Kondom mehr und glauben an die Liebesversprechungen. Viele von ihnen haben keine Arbeit und keine Perspektive. Sie wollen nur weg von Brasilien. Gegen diesen Traum zu arbeiten, ist sehr kompliziert. Wir können ihnen nicht einfach diesen Traum nehmen und die Frauen ohne Hoffnung zurücklassen, wir müssen Alternativen finden. Interessant ist, daß viele der Frauen, die nach Europa migrieren, aus der Mittelschicht kommen. Auch die Mittelschicht hat unter den ökonomischen Problemen in Brasilien zu leiden. Hinzu kommt, daß wir eine sehr kolonialistische Mentalität haben: Alles, was von außen kommt, ist viel besser als das, was in Brasilien ist. Diese Illusion, nach Europa zu kommen und als Europäerin zu leben, ist vor allem in der Mittelschicht sehr präsent. Aber unser Bild von Europa ist falsch.

Frauenmigration und Sextourismus sind zwei Problemfelder, die aufeinanderprallen. Wie wird das Problem in Brasilien thematisiert, und was konnte bislang mit der Arbeit von CHAME und anderen Frauenorganisationen erzielt werden?

Letztes Jahr haben wir in Recife an einem Forum über Tourismus und Entwicklung teilgenommen. Die Frauenorganisationen haben erreicht, daß die Tourismusagenturen auf ihren Plakaten und Broschüren nicht mehr mit brasilianischen Frauen werben dürfen. Die Regierung selbst investiert viel Geld in den Tourismus und möchte über das Problem Sextourismus lieber nichts wissen. Aber die Sextouristen sind nicht gut für das Land, nicht nur wegen der Frauen, sondern weil sie kein Geld bringen. Die Sextouristen zahlen noch in Europa zusammen mit einer Pauschalreise das Hotel und manchmal auch das Mädchen, viel Geld geben sie im Land gar nicht mehr aus. Mit dieser Argumentation versuchen wir die Tourismusbörse zu überzeugen.

Wie sieht konkret die Arbeit von CHAME aus?

Als wir das Projekt 1994 gründeten, wollten wir mit den Basisgruppen zusammenarbeiten. Damals war dieses Thema in Brasilien fast unbekannt. Also mußten wir von vorne anfangen: intensive Öffentlichkeitsarbeit mit Hilfe der oft unfähigen Behörden, Wir machen auch eine Forschungsarbeit, um das Milieu zu erkunden. Wir wollen wissen, wo die Frauen die ausländischen Männer treffen. In der nächsten Phase der Forschung werden wir die Frauen und Männer befragen, um zu wissen, woher sie kommen. Mit diesen Informationen können wir bessere Informationsarbeit leisten. Wir wollen die Problematik der Frauenmigration von der Prostitution trennen: nicht alle Frauen, die migrieren, gehen in die Prostitution. Mit unserer Arbeit wollen wir die Frauenmigration nicht verhindern, sondern die Frauen über ihre Rechte in Europa informieren. Gehen die Frauen trotzdem nach Europa, können sie dort mit anderen Frauenorganisationen kooperieren.

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