Nummer 396 - Juni 2007 | Peru

Unsichtbare Fabriken

Mehr als ein Nebenjob: Peruanische Heimarbeiterinnen in der Textilbranche

Kleine Perlen- und Paillettenstickereien an Kleidungsstücken gelten zur Zeit als modisch. Sie lassen sich allerdings nur in mühsamer Handarbeit herstellen. Um Kosten zu sparen, lassen Textilunternehmen diese Accessoires in Heimarbeit herstellen. Um die Rechte der informellen ArbeiterInnen scheren sich die Unternehmen dabei wenig.

Steffi Holz

María Teresa kneift die Augen zusammen, um den Faden durch das Nadelöhr zu bekommen. Vor ihr auf dem Tisch liegen stapelweise T-Shirts in verschiedenen Farben, die sie alle mit silbernen Perlen besticken soll. Diese stehen in kleinen Plastikschächtelchen und mit den passenden Rollen Garn bereit. Das Material und die Oberteile hat sie von einer Nachbarin bekommen, die Kontakt zu einer Firma hat und die Aufträge an sie weiter gibt. María Teresa arbeitet ihr zu und erhält von ihr ein paar Soles als Lohn. Für welche Firma sie eigentlich arbeitet, weiß sie nicht.
María Teresa ist eine trabajadora a domicilio, eine Heimarbeiterin, die bei sich zuhause Textilien bearbeitet, die später in den Läden großer Modeketten in Peru, südamerikanischen Nachbarländern, in den USA oder in Europa hängen werden. Für das glitzernd bestickte Oberteil geben Kundinnen leicht 20 US-Dollar aus. Kaum jemand weiß, unter welchen Arbeitsbedingungen es hergestellt wurde und was eine Heimarbeiterin dafür bekommt, dass sie die Pailletten und Perlen von Hand aufnäht, Applikationen stickt, Details häkelt oder die Nähte säubert.
María Teresa lebt in San Juan de Lurigancho, einem der Stadtteile Limas, die durch die Landflucht der 1960er und 1970er Jahre entstanden und bis heute informell weiter in die Küstenwüste hinein wachsen. Heute leben hier nach Schätzungen 700.000 EinwohnerInnen. Die meisten sind BinnenmigrantInnen oder deren NachfahrInnen.

Arbeits- und Wohnzimmer

María Teresas Haus, in dem wir uns befinden, klebt wie ein Schwalbennest an einem der staubig felsigen Wüstenhügel. Es wandelte sich im Laufe der Jahre von einer provisorischen Holzhütte zu einem Haus aus Stein, an dem immer weiter gebaut wird, wenn etwas Geld angespart ist. Vor 20 Jahren, als María Teresa und ihre Familie dieses Land bekamen, „gab es nichts außer Sand, gar nichts“, wie sie erzählt. Die triste Gegend gilt als unsicher. Taxifahrer kommen nur ungern hier hinauf, zumal es keine befestigten Straßen gibt. Ein paar vereinzelte Pflanzen in einem Vorgarten oder auf dem Dach sehen wie kleine Oasen aus. In der Nachbarschaft wird zur Zeit überlegt, gemeinsam eine Wasser- und Abwasserversorgung zu finanzieren.
María Teresa sitzt im Wohn-, Arbeits- und Esszimmer auf einer Couch und stickt. Der Raum ist gefließt und spärlich mit einem Tisch und einigen Stühlen, einem Schrank mit Fernseher und ein paar Madonnenbildern eingerichtet. Es ist dunkel im Zimmer und die Arbeitshaltung auf Dauer unbequem. María Teresa sagt, dass sie diese Arbeit gerne macht, aber die Augen und der Kopf ihr oft wehtun. „Manche Perlen sind kaum zu sehen.“ Wenn sie sich über Rückenschmerzen beklagt, hält ihr Mann ihr oft vor: „Warum du dich auch kaputt arbeitest damit! Und verdienen tust du auch nichts!“
Sie bekommt für ein fertig besticktes T-Shirt 1,20 Soles (umgerechnet 30 Eurocent). Klar wäre es schön mehr dafür zu erhalten; immerhin sitzt sie an einem Stück über eine Stunde. Aber sie ist froh, überhaupt etwas verdienen zu können. Sich zu beschweren bringe nichts, sagt sie, denn dann bekomme sie gar keine Aufträge mehr.
Da sie bald ihr viertes Kind bekommt, ist es besonders wichtig Geld zu haben, „für Sachen, die anliegen“, sagt sie. „Was mein Mann verdient in der Woche, 90 Soles, reicht manchmal nicht. Meine Töchter brauchen etwas Geld für Fahrtkosten oder hin und wieder ein T-Shirt. Zum Beispiel haben wir in der Woche, als wir für die Armbänder bezahlt wurden, Schuhe für sie gekauft. So helfen wir uns. Und mein Mann bezahlt für den Wocheneinkauf, bezahlt Strom und Gas. Wie sagt man? Das Leben ist nicht zum Leben, sondern zum Überleben.“
Seit ein paar Jahren hat ein extremer Preisverfall eingesetzt: „Früher haben sie gut bezahlt aber sie wissen, dass es eine Menge Frauen gibt, die das machen, und deshalb bezahlen sie nicht mehr gut.“ In ihrer Nachbarschaft verdienen fast alle Frauen mit Heimarbeit etwas dazu. „Früher haben sie für ein T-Shirt 2 bis 2,50 Soles bezahlt. Um heute auf einen guten Tageslohn zu kommen, musst du den ganzen Tag arbeiten und darfst keine Zeit verlieren, weil du sonst nicht vorankommst. Wenn du wirklich den ganzen Tag arbeitest, verdienst du auch was. Wenn nicht, verdienst du nur 5 oder 6 Soles am Tag.“

„Ich habe tausend Beschäftigungen“

Von den sehr geringen Löhnen berichten auch andere Frauen. Außerdem ist Heimarbeit eine sehr unregelmäßige Arbeit, die kein festes Einkommen garantiert. Daher gehen sie alle auch noch anderen Beschäftigungen nach und verrichten Gelegenheitsarbeiten. „Manchmal gibt’s nichts. Deshalb musst du darauf vorbereitet sein, mal dieses, mal jenes zu machen. Denn wenn du nicht jeden Tag arbeitest, geht’s dir schlecht. Deshalb muss man mehrere Alternativen haben, um sich weiterhin versorgen zu können“, sagt die 44jährige Marta.
Sie erzählt davon, was sie schon alles gearbeitet und ausprobiert hat in ihrem Leben. Die Sierra bei Cusco in den südlichen Anden hat sie mit 12 Jahren während des Bürgerkrieges verlassen. 1985 schickten ihre Eltern sie nach Lima, um bei Verwandten zu leben. Die Schule konnte sie nicht beenden, weil sie sich um Haushalt und Kinder der weit verzweigten Familie kümmern musste. Später verdiente sie dann als Straßenverkäuferin etwas dazu. Anfang zwanzig bekam sie ihren Sohn. Von ihrem ersten Mann wurde sie verlassen. Mit dem Vater der beiden anderen Töchter lebt sie noch heute zusammen. Als die Kinder etwas größer waren, fing Marta an, Mittagsmenüs zu kochen, die sie durch die halbe Stadt zu Fabrikarbeitern brachte. Eine längere Krankheit beendete diese Arbeit nach drei Jahren. Seitdem macht sie alles Mögliche. „Ich habe tausend Beschäftigungen!“
Wenn es keine T-Shirts gibt, dann werden in ihrem Haus Armbänder geknüpft oder Ketten produziert, für die sie 1,20 Soles pro Stück bekommen. Dabei helfen die Töchter, andere Verwandte und Nachbarinnen mit. Marta zeigt einen Holzkasten, in dem goldglänzender Metalldraht, kleine Zangen, bunte Steine, geformte Kettenglieder und fertige Ketten liegen. Es ist eine aufwändige Arbeit, denn der Halsschmuck ist mehrreihig und besteht aus unterschiedlichsten Gliedern, Anhängern und gefassten Steinen, die sie alle selbst formen und zusammenfügen müssen. Wenn sie eine größere Anzahl fertig haben, kommt ein Mann vorbei, der ihnen das Geld dafür gibt und neues Material da lässt. Auf Kunstmärkten werden solche Ketten später für ca. 20 Soles angeboten.
María Teresa ist stolz auf ihre Arbeit. Sie sagt, nicht alle könnten so akkurat sticken wie sie und dass sie schon als Kind gerne Handarbeiten gemacht hat. Anerkennung bekommt sie dafür aber weder von ihrer Familie, noch von der Firma. Denn zum einen gilt ihre Arbeit als „typische“ Frauenarbeit, die ihr ganz selbstverständlich in den Fingern steckt, und zum Anderen ist die Arbeit unsichtbar, da sie zuhause näht. Die Frauen bekommen wenig Anerkennung für ihre Arbeitsleistung, weil sie sich auf scheinbar selbstverständliche weibliche Lebensbereiche erstrecken. Fähigkeiten wie Fingerfertigkeit, Genauigkeit und Geduld
werden ihnen als natürliche Eigenschaften zugeschrieben, die daher auch nicht teuer entlohnt werden müssen. Die Firmen profitieren davon, dass Frauen die notwendigen Kenntnisse für die Handarbeiten schon in ihrer Kindheit lernen. So sehen auch Heimarbeiterinnen ihre Tätigkeiten oft nicht als Lohnarbeit an, sondern als Beschäftigung nebenbei, als Zeitvertreib oder Hobby, bei dem sie ihre Mutter- und Haushaltspflichten mit einem kleinen Nebenverdienst verbinden können. Sie nehmen diese Arbeit nicht als wichtigen Faktor des häuslichen Einkommens wahr. Daneben haben alle Frauen noch zahlreiche andere Verpflichtungen. Faktisch arbeiten die Frauen rund um die Uhr, indem sie kochen, putzen, waschen, andere Familienmitglieder betreuen und zusätzlich verschiedenen Erwerbsarbeiten nachgehen. Diese traditionellen Aufgaben werden erst recht nicht als Arbeit gewertet. Auch Yolanda, eine 25jährige Heimarbeiterin, sieht das so: „Ich kümmere mich um den Haushalt und um meine Tochter und nebenbei mache ich diese kleinen Arbeiten, Häkelarbeiten, Armbänder, um etwas zum Haushaltseinkommen beizutragen und um meinen Mann zu unterstützen. Ich glaube, es ist nicht viel, aber wenigstens eine kleine Hilfe.“

„Solange man lebt, muss man arbeiten“

Einige Nachbarinnen und Freundinnen, die Heimarbeiten verrichten, treffen sich an den Nachmittagen, um beim Nähen, Sticken, Häkeln und Knüpfen nicht allein zu sein. „Ach, wir machen es uns manchmal ein bisschen nett, um uns nicht zu langweilen“ erklärt Rosalinda. Heute haben sich die Frauen bei ihr im Wohnzimmer versammelt. Außer ihr sind noch Liliana, Yolanda und Mery da. Die Frauen häkeln Blumen, besticken Krägen und Vorderseiten von Oberteilen, nähen Applikationen an und ordnen die fertigen Teile nach Farben. Andere Frauen sortieren Fäden und bereiten das Knüpfen von Armbändern vor, die sie nebenbei im Akkord produzieren.
Das Gespräch dreht sich um den neuesten Klatsch aus der Nachbarschaft, aber auch um technische Details ihrer Arbeit. Manchmal nickt eine der Frauen ein, was kein Wunder ist bei ihren vielen Arbeiten.
Das Thema Arbeit ist sehr zentral für alle Anwesenden. Alle suchen dringend bezahlte Beschäftigung. Viele möchten direkte Kontakte zu Firmen haben, die Aufträge vergeben. Einige träumen auch davon, selbst Modelle zu entwerfen, herzustellen und irgendwann selbst zu exportieren. Die Frauen wünschen sich Schulungen, um die Handarbeit noch besser leisten zu können. Lernen ist ein wichtiges Anliegen für sie. Die zweite Schulstufe konnten viele nicht beenden, aber trotzdem war und ist es ihnen wichtig, sich weiter zu bilden, „nicht stehen zu bleiben“. Nur so kommen sie vorwärts. “Ich will mich ausbilden lassen, um im Arbeitsleben zu bleiben. Denn solange man lebt, muss man arbeiten,“ sagt Mery. Ihre Kinder sollen es einmal besser haben: „Meinen Söhnen eine Ausbildung zu ermöglichen, das ist das Wichtigste in meinem Leben,“ bestätigt auch Yolanda. Die Ausbildung an einem der vielen privaten Institute und Schulen ist teuer. 570 Soles (etwa 140 Euro) muss sie monatlich für das Studium ihres Sohnes aufbringen, was für sie sehr viel Geld ist. Seine berufliche Zukunft in Peru als Mechatroniker sieht dabei nicht gerade rosig aus: „Es gibt keine Arbeit“.
Die Frauen richten sich darauf ein, das sie noch mehrere Stunden zusammen sitzen und arbeiten werden. Denn morgen müssen die Sachen fertig sein und Rosalinda muss sie zur Firma bringen. Dort wird jedes einzelne Stück geprüft und die Ware wird bezahlt, sofern es keine Beanstandungen gibt. Auch davon können die Frauen ein Lied singen: „Manchmal sagen sie, ‚nein, das ist schlecht gemacht‘. Das stimmt nicht, aber sie machen das, um dich nicht zu bezahlen oder nur die Hälfte,“ berichtet Liliana. Aber nicht nur das. Da es keine schriftlichen Vereinbarungen gibt, können die Heimarbeiterinnen ihren Lohn nicht gerichtlich einfordern.

Gemeinsam sind sie stark

Um diese Form der Ausbeutung und Rechtlosigkeit nicht länger hinnehmen zu müssen, wollen sie sich zusammenschließen. Rosalinda hat an einem Seminar der Vereinigung für Kommunale Entwicklung, ADC, teilgenommen. Darin ging es darum, dass sie als Heimarbeiterinnen den Wert ihrer Arbeit erkennen und sich organisieren sollten, um ihre Rechte einzufordern. Die meisten Heimarbeiterinnen wirtschaften für sich allein und unregelmäßig. Zudem sind sie aus dem öffentlichen Bewusstsein ausgeblendet. „Alles das sind Gründe, die eine Organisation und damit eine Verbesserung ihrer Situation erschweren“, bestätigt auch Magaly Solis Ruiz, die als Sozialarbeiterin bei der ADC tätig war.
Mit ihrem Zusammenschluss erhofft sich die Gruppe um Rosalinda auch, die vielen Zwischenhändler zu umgehen. Denn Heimarbeiterinnen sind oft die letzten Glieder einer Produktionskette, in der die Bezahlung immer weiter sinkt. Yolanda erzählt: „Uns haben sie drei Soles bezahlt. Aber als wir dem nachgingen und uns nach und nach erkundigen konnten, fanden wir heraus, dass das Unternehmen sechs Soles pro T-Shirt bezahlte. Das ist ungerecht.“

KASTEN:
Trabajo a domicilio – Heimarbeit
Unter dem Begriff Heimarbeit werden lohnabhängige Tätigkeiten zusammengefasst, die an einem selbst gewählten Ort, meist dem Wohnort ohne vertragliche Absicherungen ausgeführt werden. Das sind überwiegend Zuarbeiten für Textilwerkstätten und größere Firmen, die verschiedene Produktionsschritte in den informellen Bereich auslagern, um Lohnkosten zu sparen. Diese Auftragsarbeit wird meist von Frauen verrichtet. Charakteristisch sind zeitlich begrenzte Arbeitsverhältnisse, die vertraglich nicht geregelt sind. Daraus folgen unsichere Einkommen. Die fehlende Trennung von Arbeits- und Wohnraum bedingt überlange Arbeitszeiten. Weitere Probleme der ArbeiterInnen sind die geringe Entlohnung sowie die Abhängigkeit und Rechtlosigkeit gegenüber den AuftraggeberInnen. Heimarbeiterinnen werden stückweise bezahlt, was auf einen durchschnittlichen Stundenlohn von umgerechnet 2,5 Eurocent hinaus läuft.

KASTEN2:
Forschen über unsichtbare Arbeit
Was in unseren Kleiderschränken hängt, wird in tausenden von Wohnzimmern in Lateinamerika und Asien produziert. Herauszufinden, wie die Arbeits- und Lebenssituation von Heimarbeiterinnen konkret aussieht, war Anliegen eines Forschungsprojektes, das Steffi Holz, Sandra Dietzel und Ursina Roder von Juli bis November 2006 realisierten. Im Rahmen eines ASA-Projektes erforschten sie dieses Thema. Die Ergebnisse wurden in einer Studie zusammen gefasst, die in deutsch und spanisch vorliegt. Die spanische Studie ist bereits auf der FDCL-Homepage einzusehen, die deutsche Version wird demnächst in Buchform veröffentlicht. Außerdem entstand eine Fotoausstellung mit Bildern, welche die Heimarbeiterinnen selbst mit Einwegkameras aufgenommen haben.
Diese Wanderausstellung tourt zur Zeit durch Deutschland und die Schweiz. Sie kann bei der Autorin angefragt werden (Kontakt über ln@ipn.de).
Die Studie kann demnächst auf der Homepage des Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile Lateinamerika FDCL eingesehen werden: www.fdcl-berlin.de


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