Chile | Nummer 487 - Januar 2015

Unverdientes Vertrauen

Interview mit den Anwält*innen María Rivera und Rodrigo Román von der NRO Defensoría Popular über die Kriminalisierung sozialer Proteste

Die sozialen und ökologischen Auswirkungen neoliberaler Politik treiben in Chile immer größere Teile der Bevölkerung auf die Straße. Der Staat reagiert mit der Kriminalisierung und strafrechtlichen Verfolgung der Bewegungen. Die LN sprachen mit den Anwält*innen María Rivera und Rodrigo Román von der chilenischen Menschenrechtsorganisation Defensoría Popular.

Interview: Caroline Kassin

Warum ist die Nichtregierungsorganisation Defensoría Popular so wichtig für Chile?
Rodrigo Román: In den chilenischen und internationalen Medien wird oft versucht, Chile als ein sich entwickelndes, modernes Land darzustellen, in dem eigentlich alles in Ordnung ist. Dabei sind in Chile viele grundlegende Rechte nicht garantiert. Soziale Sicherheit, Gesundheit, Bildung, Wohnung – alles ist dem Markt überlassen. Sogar das Wasser, eine elementare Ressource, ist zu fast 90 Prozent privatisiert. Dass es gravierende Missstände gibt, äußert sich in den verschiedenen sozialen Protesten; und diese werden in Chile massiv kriminalisiert. Das wird zum einen an der Polizeigewalt sichtbar, mit der gegen die Proteste vorgegangen wird, und zum anderen an der strafrechtlichen Verfolgung der Aktivisten. Sozialer Protest wird wie eine Straftat und die Aktivisten werden wie Kriminelle behandelt.
María Rivera: Vor einigen Tagen wurden in Santiago fünf Personen festgenommen, die ein lange leerstehendes Gebäude besetzt hielten. Das Gebäude wurde geräumt und diese Personen, die es als Wohnraum nutzen – auch weil ihnen kein anderer zur Verfügung stand – werden nun als Kriminelle in Haft gehalten. Menschen wie sie, die sich der Regierung entgegenstellen und deswegen strafrechtlich verfolgt werden, verteidigt die Defensoría Popular. Dazu gehören Studierende, Mapuche, aber auch Arbeiter im Streik, sexuelle und ethnische Minderheiten, Umweltaktivisten und Bewohner der Elendsviertel, die sich im sozialen Kampf befinden.

Michelle Bachelet ist noch kein ganzes Jahr im Amt, viele Versprechen der Regierung sind noch einzulösen. Konnten Sie hinsichtlich der sozialen Proteste schon Veränderungen feststellen?
MR: Es gab einen Wandel nach der Wahl, aber für die sozialen Proteste war es ein negativer. Die Regierung von Sebastián Piñera wollte die sozialen Bewegungen bremsen, indem sie Proteste in Form von Straßenblockaden, Besetzungen von Schulen, Universitäten oder öffentlichen Gebäuden mit dem Hinzpeter-Gesetz (benannt nach dem damaligen Innenminister; Anm. der Red.) zu kriminalisieren versuchte. Die Ablehnung und die Mobilisierung gegen dieses Vorhaben waren extrem groß, sodass es gestoppt werden konnte. Michelle Bachelet hingegen genießt in der Bevölkerung großes Vertrauen. Viele Leute denken: Jetzt haben wir Michelle, jetzt wird es sicher besser. Und widersetzen sich der Regierung nicht mehr. Dabei gibt es allen Grund dazu. Die von der Regierung beschlossene Steuerreform ist absolut unzureichend und ihr Wahlversprechen, eine Bildungsreform anzustoßen, die eine öffentliche und kostenlose Bildung garantiert, hat sie nach der Machtübernahme vergessen. Die Politik vergangener Concertación-Regierungen (linkes Parteienbündnis, Anm. d. Red.) – mehr Freiraum für Unternehmen und transnationale Konzerne – bleibt weiter bestehen.

Ein anderes Versprechen kam zu Beginn der Legislaturperiode von Innenminister Peñailillo: Das Anti-Terrorgesetz, das vor allem im Konflikt mit den Mapuche eine Rolle spielt, sollte unter Bachelet nicht angewendet werden…
RR: In Chile gibt es ein Sprichwort: Die Politiker wischen mit dem Ellenbogen weg, was sie vorher mit der Hand geschrieben haben. Statt das Anti-Terrorgesetz nicht anzuwenden, wird momentan sogar dessen Erweiterung diskutiert. Die Anzahl der Gruppen und Personen, auf die es angewendet werden kann, soll vergrößert werden, Telefonate sollen abgehört, Organisationen und Gruppen durch verdeckte Ermittler infiltriert werden. Und das alles, um den „Terrorismus in Chile“ zu bekämpfen. Dabei gibt es in Chile gar keinen Terrorismus! Gesetze wie dieses dienen allein dazu, die sozialen Bewegungen und jegliche Opposition zu kontrollieren.
MR: Zwischen 2010 und heute kam es zu sechs Prozessen auf Grundlage des Anti-Terrorgesetzes. ln vier davon waren wir als Anwälte der Defensoría Popular vertreten. In keinem einzigen kam es zur Verurteilung nach dem Anti-Terrorgesetz. Die Richter konnten in keinem der Fälle den Terrorismus erkennen.

Sind Sie der Ansicht, dass es in Lateinamerika insgesamt eine Tendenz zu mehr Polizeigewalt und Kriminalisierung sozialer Proteste gibt?
MR: Natürlich bleiben die Diktaturen der 1970er Jahre und die damit einhergehende systematische Verfolgung, Folter, Ermordung und Verschwindenlassen von politischen und sozialen Aktivisten unvergleichbar. Dennoch: Heute wird die Entwicklung vieler lateinamerikanischer Länder gelobt. Die Regierungen können ihre Programme aber nur durch Repression und Verfolgung der Bevölkerungsteile durchsetzen, die nicht mit ihnen einverstanden sind. Sowohl in Chile als auch in Argentinien und Brasilien sind deswegen Personen in Haft und ich sehe nicht, dass es weniger werden – im Gegenteil. Auch die Art der Repression ist in vielen Ländern ähnlich, egal ob sie von Regierungen der Linken, Mitte-Linken oder Rechts-Konservativen geführt werden. Die Ereignisse in Mexiko, wie das Verschwinden der 43 Studenten, sind ein Beispiel für die zunehmende Repression und gleichzeitig eine erschreckende Ausnahme. Auf noch grausamere Weise kann ein Staat kaum gegen seine Bevölkerung vorgehen.

Wenn es keinen Unterschied macht, welchem politischen Lager die Regierungen angehören, was würde einen tatsächlichen Unterschied machen?
MR: Die Institutionen, die Gesetze, die Verfassung sind in Chile seit der Diktatur immer noch dieselben. Wir haben eine Demokratie, die sich nur durch den Wahlgang alle vier Jahre als solche zeigt. Diese Demokratie kommt bei der Bevölkerung aber nicht an, die Chilenen nehmen nicht teil an der Ausarbeitung von Gesetzen, der Aufstellung von Wahlkandidaten, den Entscheidungen über Steuern. Wir brauchen mehr als neue Regierungen oder Gesetzesänderungen. Solange wir uns nicht endlich von der Verfassung der Pinochet-Diktatur verabschieden, sind alle Reformen, ob Bildungsreform, Gesundheitsreform oder Steuerreform, nur kosmetische Korrekturen.
RR: Schon vor 25 Jahren hatte die Concertación eine Reform der Verfassung versprochen. Trotzdem hat sich seitdem nicht viel verändert. Während ihrer letzten Präsidentschaft war es noch die Regierung Bachelets, heute ist es die von „Michelle“ und es regiert nicht mehr die Concertación, sondern der Nueva Mayoría („Neue Mehrheit“). Aber eigentlich entscheidet immer noch die vieja minoría („alte Minderheit“), die die Interessen der chilenischen Bevölkerung heute genauso wenig vertritt wie früher und sozialen Protest kriminalisiert und verfolgt.

María Rivera/Rodrigo Román
arbeiten für die chilenische Menschenrechtsorganisation Defensoría Popular. Als Anwält*innen verteidigen sie unentgeltlich Personen, die wegen ihrer Teilnahme an Demonstrationen und Protestaktionen vor Gericht stehen.

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