Nummer 344 - Februar 2003 | Venezuela

„Venezuela hemmt den Irak-Krieg“

Interview mit dem Soziologen Gregory Wilpert

Der deutsch-US-amerikanische Soziologe Gregory Wilpert lebt seit zwei Jahren in Caracas und arbeitet dort als freier Journalist und unabhängiger Forscher auf dem Gebiet der Entwicklungssoziologie. Zur Zeit schreibt er ein Buch über Venezuela und dessen Präsidenten Hugo Chávez. Die LN sprachen mit ihm während seines Besuchs Ende Januar in Berlin über die Rolle der Medien, Intellektuelle in Venezuela und die Rolle des Landes beim Irak-Konflikt.

Interview: Dinah Stratenwerth und Stephanie Zeiler

Herr Wilpert, wie bewerten Sie die Informationen, die derzeit aus Venezuela in Deutschland ankommen?

Die Artikel, die in letzter Zeit erschienen sind, sind etwas ausgewogener. Sogar bei der FAZ habe ich den Eindruck, dass der Journalist, der bis jetzt immer gegn Chávez war, anfängt den Lesern auch so ein bisschen die Chávez-Meinung zu zeigen. Ich konnte natürlich nicht alles lesen. Aber bisher hatte ich eher den Eindruck, dass grundsätzlich überall in deutschen Zeitungen nicht falsch, aber doch sehr voreingenommen berichtet wurde, immer aus Sicht der Opposition.

Warum spiegelt die deutsche Berichterstattung so sehr die Meinung der Opposition wider?

Es gibt kaum deutsche Korrespondenten, die direkt in Venezuela sind. Und wenn sie welche schicken, dann sind sie nur ganz kurz dort und lesen vor allem die lokalen Medien, die fast ausschließlich gegen Chávez sind.
Es gab zum Beispiel einen riesigen Artikel im Feuilleton von der ZEIT – das war einer der Schlimmsten. Der Journalist war eine Woche in Venezuela und hat einen Artikel über Chávez geschrieben. Um seine Persönlichkeit zu durchleuchten, hat er wohl hauptsächlich eine ehemalige Liebhaberin und seinen Psychiater interviewt. Diese Methode ist sehr fraglich. Außerdem hat er sich noch über verschiedene Aspekte der Regierung lustig gemacht: zum Beispiel, dass Chávez im prunkvollen Regierungspalast seine Fernsehansprache über die Armen hielt.
Die meisten dieser Ansprachen, die Chávez jeden Sonntag hält, finden aber in den Armenvierteln der Stadt statt und nur ab und zu im Präsidentenpalast. Aber er hat eben nur diese eine gesehen, weil er nur eine Woche da war.

Welche Bedeutung haben die wöchentlichen Fernsehansprachen des Präsidenten?

Sie sind sehr wichtig. In den Armenvierteln sind dann fast alle Fernseher eingeschaltet. Chávez ist in den Armenvierteln sehr beliebt. Die Sendung ist die Hauptinformationsquelle über die Arbeit der Regierung in der letzten Woche. So ausführlich berichtet selbst der offizielle Regierungssender nicht darüber. Chávez fasst zusammen, was die Regierung erreicht hat und erzählt Geschichten. Die Sendung dauert manchmal fünf, sechs Stunden, und die Leute gucken gar nicht alles. Auch für die Mittelklasse ist die Sendung eine wichtige Quelle über neue Entwicklungen in der Regierung. Aber sonst macht sie sich nur lustig über ihn.

Warum bilden sich keine unabhängigen Medien, Gruppen, die objektive Informationen verbreiten?

Die gibt es schon, aber sie sind sehr klein. Es gibt verschiedene Gründe, warum die Regierung diese Projekte nicht fördert. Erstens ist es, glaube ich, Ignoranz. Sie weiß gar nicht, was für Gemeinschaftsmedien es gibt und dass diese größtenteils pro-Chávez sind. Es ist einfach eine sehr schlechte Kommunikationspolitik in der Regierung. Andererseits ist, glaube ich, die Finanzierung unabhängiger Medien auch nicht ganz legal.
Ein großes Problem ist, dass die Regierung misstrauisch ist. Sie will nicht einfach Geld rübergeben und dann keine Kontrolle haben. Und die Medien haben auch Angst, dass sie kontrolliert werden. Nach den Putschversuchen wurden allerdings auch viele der illegalen Piratensender von Chávez legalisiert. Die Regierung hat schon gelernt, dass Gemeinschaftsmedien ihr nützen.

Es heißt oft, viele Ministerien in Venezuela seien falsch besetzt. Positioniert Chávez das Militär jetzt verstärkt um sich, weil ihm gebildete Anhänger fehlen, denen er vertraut?

Ja, so ist es. In vielen Ministerien gibt es Probleme mit den Führungskräften, sie haben nicht genug Erfahrung. So hat Chávez zum Teil Leute eingesetzt, die politisch nicht mit ihm übereinstimmten und die haben sich dann auch im April vergangenen Jahres gegen ihn gestellt.

Fehlen Venezuela die linken Intellektuellen?

Es gibt sie, aber sie sind nicht unbedingt gute Manager. Und das andere Problem ist, dass Chávez selber nicht aus diesem Spektrum kommt. Es ist aber auch nicht mehr so, dass ihn alle linken Intellektuelle unterstützen – vielleicht weil sie merken, dass er verliert.

Die USA und Venezuela liefern sich momentan ein regelrechtes Tauziehen um das Öl – die Haupteinnahmequelle des lateinamerikanischen Staates:
Wer wird gewinnen?

Ich glaube nicht, dass es ein richtiges Tauziehen ist. Das Problem ist nicht, dass das Öl den USA vorenthalten wird. Es ist eher das Problem, dass der Ölpreis hochgeht. Wenn die USA sich einen anderen Zulieferer suchen, kann Venezuela genauso schnell einen anderen Abnehmer finden. Es gibt nur einen Öl-Markt, wer da an wen verkauft, ist relativ egal, entscheidend ist der Preis.
Wenn Venezuela sich keinen anderen Abnehmer sucht, sondern die Öl-Produktion einfach zurückschraubt, dann geht der Öl-Preis hoch. Das ist das Problem für die USA. Sie arbeiten mit der Opec zusammen, damit alle Opec-Staaten gleichmäßig Marktanteile verlieren. Insofern ist es keine Frage zwischen Venezuela und den USA, sondern zwischen den USA und der Opec.
Das Problem ist, dass Venezuela in der Vergangenheit immer das Land war, das die Opec-Quoten zerstört hat, indem es einfach immer mehr produziert hat, als laut Opec-Verträgen eigentlich erlaubt war. So sind die USA immer an einen sehr günstigen Öl-Preis gekommen, weil es zwischen den Opec-Staaten keine Solidarität gibt.

Kann Venezuela durch einen dauerhaften Streik seiner Öl-Industrie den Irak-Krieg verhindern?

Verhindern nicht. Aber ich glaube, dass Venezuela den Irak-Krieg hemmt, denn der Öl-Preis ist jetzt sehr hoch. Ich glaube, dass die USA jetzt vorsichtiger sein werden, obwohl sie dringend den Krieg wollen. Schließlich müssen sie auch Öl auf dem internationalen Markt kaufen für Panzer, Flugzeuge und so weiter. Es wird ein sehr, sehr teurer Krieg werden.

Die Opposition hatte für Februar ein Referendum angesetzt, bei dem darüber entschieden werden sollte, ob Chavez freiwillig abdankt. Nun hat der Oberste Gerichtshof dieses Referendum als nicht verfassungskonform abgelehnt. Was glauben Sie, was in den kommenden Wochen passiert?

Vor Chávez stehen der Steuerstreik und die Medien. Das wird noch eine Schlacht. Chávez hat den Minister gewechselt, der für die Medien verantwortlich war. Viele Leute haben das so interpretiert, dass er gegen die Medien vorgehen wird, weil sie verschiedene Gesetze gebrochen haben. Ich weiß nicht, ob ihnen ihre Sendegenehmigung entzogen wird. Aber wenn das passiert, wird das Land immer näher an den Rand eines Bürgerkrieges kommen. Und die Opposition wird verrückt spielen.
Wenn tatsächlich ein Sender geschlossen wird, wird sie Chávez vorwerfen, die Meinungsfreiheit einzuschränken. Deshalb sollte die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) eingreifen. Aber die meisten Regierungen in Lateinamerika sind nicht pro-Venezuela. Chávez hätte es sehr schwer, wenn die Opposition die Staaten für sich gewinnt. Ich hoffe, dass sich die Situation bei der Volksbefragung im August entspannt. Davor sehe ich keine Lösung.

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