Literatur | Nummer 617 - November 2025

Veracruz wird mit Z geschrieben

Geschichten vom Leben und Sterben am Golf von Mexiko erzählt Fernanda Melchors erstes Buch

Jara Frey-Schaaber
Erstroman Das hier ist nicht Miami erzählt Geschichten vom Golf von Mexiko

„In einer Stadt zu leben, heißt, inmitten von Geschichten zu leben“ schreibt Fernanda Melchor in ihrem Vorwort zu Das hier ist nicht Miami. Es ist nicht irgendeine Stadt, von der die mexikanische Schriftstellerin durch die Geschichten ihrer Menschen erzählt, es ist Veracruz: Hafenstadt am Golf von Mexiko und Heimatstadt der Autorin. Das hier ist nicht Miami, im Original bereits 2013 erschienen, vereint zwischen 2002 und 2011 verfasste Crónicas und Relatos. Nicht ganz Reportage, nicht nur Erzählung. Manche Details werden absichtlich ausgelassen, auch, um Informant*innen zu schützen, erläutert Melchor. Aber alles, was passiert ist, alle Menschen und Ereignisse, waren da.

In drei Abschnitten – Lichter, Feuer und Schatten – geht es um Ufo-Sichtungen (eigentlich sind es Kleinflugzeuge, in denen Kokain geschmuggelt wird), eine Karnevalskönigin, die ihre Kinder ermordet, und um den Hafen, wo ungelernte Hilfsarbeiter sich mit Schmuggel über Wasser halten oder spontane Solidarität mit ausgemergelten Geflüchteten aus der Dominikanischen Republik zeigen. Polizisten dulden einen Lynchmord in einem abgelegenen Dorf, für Mel Gibsons Film wird ein Gefängnis geräumt. Und immer wieder dräut im Hintergrund der Drogenhandel und die Straflosigkeit, durch die auch Veracruz droht, „zu einem dieser finsteren Orte zu werden, wie es sie an der Grenze im Norden gibt“. Nebenbei erklärt die Autorin auch, warum Veracruz mit Z geschrieben wird. Die Länge und der Stil der Texte variieren, ihnen gemein ist eine Sogwirkung, die Leser*innen in die Geschichten hineinzieht und mitfiebern lässt. Das unglaubliche erzählerische Können von Fernanda Melchor durchdringt bereits ihre erste Buchveröffentlichung. Ihrer Übersetzerin, Angelica Ammar, gelingt erneut eine großartige Übertragung ins Deutsche.


Hin und wieder tauchen fantastische Elemente auf, wenn es um ein verlassenes Haus geht, in dem sich natürlich trotzdem Jugendliche zum Feiern treffen, was einen Exorzismus nach sich zieht oder die verschlungenen Familiendynastie derer aufgedröselt werden, die das Crack nach Veracruz brachten. Hier staunt die Autorin selbst, wie die Realität Mexikos den Romanen des kolumbianischen Autors Gabriel García Márquez gleicht.


Bevor sie zur international vielfach ausgezeichneten Schriftstellerin wurde, arbeitete Melchor als Investigativjournalistin. Die fiktionalisierte Herangehensweise an die Themen aber erlaubt ihr, tief in die so oft von Gewalt durchzogene Geschichten der Menschen vorzudringen, ohne zu befürchten, selbst Ziel dieser Gewalt zu werden. Auf eine unglaublich eindringliche und eben deshalb umso schmerzhafter zu lesende Weise ist dies Melchor in Saison der Wirbelstürme gelungen. LN schrieben damals (siehe LN 541/542) von „einer Literatur, die so voller Gewalt ist, dass die Lektüre kaum erträglich ist“. Auch in Das hier ist nicht Miami ist die Gewalt immer spürbar, aber in der Vielheit der Erzählungen bleibt noch Platz für Abenteuer und Liebe, besonders der zu Geschichten.


Was die Texte trotzdem nicht bieten, ist eine Auflösung: Wir bleiben zurück mit den Rätseln und dem beklemmenden Gefühl einer Allgegenwärtigkeit und Ausweglosigkeit der Gewalt. Aber da ist eben noch mehr als das.

Fernanda Melchor // Das hier ist nicht Miami // Verlag Klaus Wagenbach // 2025 // Aus dem mexikanischen Spanisch von Angelica Ammar // 20 Euro // 160 Seiten


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