Literatur | Nummer 603/604 - September/Oktober 2024

Verdammter Süden

Carlos Fonsecas Austral nimmt uns mit zu den Grenzen des Südens und der Sprache

Von Jara Frey-Schaaber

Aliza Abranavel ist tot. Als Fonsecas Protagonist Julio, wie Fonseca selbst Literaturprofessor, davon erfährt, legt er direkt eine neue Liste an. Sein erster Reflex ist, ihren Namen neben all denen der Autor*innen und Künstler*innen zu schreiben, mit denen er ihr Schaffen assoziiert. Austral ist eines dieser Bücher, die einen auch im Stehen gelesen, in einem überfüllten Regionalzug komplett mitreißen und weit wegtragen. In den Süden, um genau zu sein.

Dorthin trägt es auch Julio. Mit der Schriftstellerin Aliza Abranavel hatte er 30 Jahre zuvor ein Verhältnis: Für ihn ein Ausbruch und ein Roadtrip durch das von Diktaturen und Bürgerkriegen gezeichnete Mittelamerika. Jetzt ist Aliza Abranavel tot und beauftragt ihn posthum, sich ihrer unveröffentlichten Manuskripte anzunehmen. Also reist Julio aus dem schneebedeckten winterlichen Ohio in den Sommer der „nuancierten Kargheit“ Humahuacas.

Acht Jahre vor ihren Tod hatte Abranavel eine Hirnblutung erlitten und seit dem eine Sprachstörung. Dies hielt sie jedoch nicht davon ab, in eine nordargentinische Künstler*innenkolonie zu ziehen und ihr Werk zum Abschluss zu bringen. Das Manuskript namens „Die Privatsprache“ webt Fonseca in den Text ein und eröffnet so eine weitere Geschichte. Spätestens hier beginnt sich um Julio wie um den die Leser*in ein Netz zu ziehen, gesponnen aus realen und fiktiven Geschichten, Fotos, Bildern, Theorien und Referenzen. Zum Glück sind diese mit einer Leichtigkeit gewoben, die das intellektuelle Gewicht dahinter nicht zur Last werden lässt. Das Werk im Werk dreht sich zunächst um die Begegnung von Alizas Vater Yitzhak mit dem Anthropologen Karl-Heinz von Mühlfeld.

Von Mühlfeld forschte auf den Spuren Elisabeth Förster-Nietzsches, der Schwester des bekannten Philosophen, die gemeinsam mit ihrem Mann Reinhard Förster an dem wahnwitzigen und zutiefst kolonialistischen, rassistischen und antisemitischen Projekt einer „arischen Kolonie“ in Paraguay namens Nueva Germania scheiterte. Während er all dies liest, verbringt Julio einige Zeit mit den jungen Künstler*innen der Kolonie, in der Aliza lebte und trifft schließlich auf Raúl Sarapura, Indigener Mitarbeiter der verstorbenen Schriftstellerin, der ihm das Lexikon des Verlusts übergibt, ein Werk, bei dessen Erstellung er Aliza unterstützt hat. Dessen mit Fotos, Bildern und Textfragmenten gestalteten Seiten sind nicht nur beschrieben, sondern ebenfalls collageartig nachgebaut im Buch enthalten, wobei Fonseca von Ignacio Acosta unterstützt worden ist. Das Lexikon schließlich führt Julio über diverse Exkurse durch Philosophie und Kunstgeschichte, die ihren Aufhänger in persönlichen Erlebnissen und Erinnerungen von Aliza haben, nach Guatemala.

Dort trifft er auf das „Theater der Erinnerung“, ein Freilufttheater, um „den Überlebenden zu helfen, die unter dem Trauma des Erlebten verschütteten Erinnerungen wiederzufinden“, das Juan de Paz Raymundo auf den längst überwucherten Trümmern des während des guatemaltekischen Bürgerkriegs zerstörten Dorfs errichtet hat. Der Angehörige der K’ich’e ist im Alter von fünf Jahren, als der Roatrip von Aliza und Julio zu Ende ging, Waise geworden. Mit den Aufnahmen der Stimmen der Überlebenden des Genozids versucht er nun, das von den Militärs vernichtete Dorf zu rekonstruieren. Doch in seinem Theater hören nur die Vögel zu, die sich zwischen den leeren Sitzreihen verirrt haben.

So bleibt die vergebliche Suche nach einer Stimme, wenn die Welt oder die Sprache schwindet, unvollendet. Für den Schmerz gibt es keinen Ausdruck und keinen für die Erinnerung. Als Leser*in fühlt man sich in die Geschichten verstrickt, wie Von Mühlfeld in den Tonbändern seiner Feldforschung. Der „Überall-Tourist“ Julio fühlt sich am Ende seiner überhasteten Reisen wie ein von der eigenen Logik in den Hinterhalt gelockter Detektiv. Fonsecas Stil ist wunderschön und bleibt dank der meisterinnenhaften Übersetzungsleistung Sabine Giersbergs auch im Deutschen erhalten. Mit einer Leichtigkeit kreiert Fonseca Bilder, die den Staub der Wüste Humahuacas, die Hitze der paraguayischen Ebene oder die Tiefe des von Krieg und Zeit zerstörten guatemaltekischen Dorfes am Berg nachvollziehbar machen. Das Ganze hat der Verlag Klaus Wagenbach in einer tollen Ausgabe der Reihe Quartbuch veröffentlicht.

Uns bleibt „am Ende der Reise die unermessliche Distanz“ und ein mitreißendes, obwohl manchmal an der Grenze zur Unübersichtlichkeit schlitterndes Leseerlebnis, welches trotz all der aufgeworfenen Themen dennoch das Unbehagen entbehrt, das andere zeitgenössische Autor*innen Lateinamerikas, wie Samantha Schweblin oder Fernanda Melchor auszeichnet.

Carlos Fonseca // Austral // Aus dem Spanischen von Sabine Giersberg // Verlag Klaus Wagenbach // 2024 // 192 Seiten // 22€ // ite.de 


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