Brasilien | Nummer 233 - November 1993

Verfassungsreform: Die Rechten in der Offensive

Thomas W. Fatheuer

Mit Tumulten, Protesten und juristischen Verwirrungen begannen in Brasilia die Beratungen über eine grundlegende Revision der erst 1988 verabschiedeten Verfassung. Damals war die neue “Magna Carta” als ein großer Schritt zur Demokratisierung Brasiliens nach der Militärdiktatur gefeiert worden. Die progressiven und nationalistischen Kräfte in der Verfassungsgebenden Versammlung konnten wichtige Punkte einbringen. Das relativ progressive Design der Verfassung war auch einer großen Mobilisierung der sozialen Bewegungen zu verdanken, die eigene Vorschläge einbrachten. Internationale Beobachter sahen hingegen oftmals in der Verfassung ein wirres Machwerk, das zudem zu sehr ins Detail gehende Bestimmungen (z.B. Festlegung der Arbeitszeiten) und völlig irreale Festschreibungen (maximale Höhe für Zinsen) enthält. Inzwischen ist diese kritische Bewertung der Verfassung zur herrschenden Meinung in der brasilianischen Parteienszene geworden: Die gerade erst verabschiedete Verfassung wurde vom Mitte-Rechts-Spektrum als Haupthindernis für wirtschaftliche Stabilisierung und “Modernisierung” abgestempelt.
Gegen die geplante Verfassungsrevision haben die linken Parteien und Gewerkschaften vergeblich mobilisiert. Sie bezeichneten das Reformvorhaben als kalten Putsch und sprechen dem Kongress jegliche Legitimation dafür ab. Aber der Versuch, durch eine große Massenmobilisierung die Reform zu verhindern, kann als gescheitert gelten. Die “Contras” – wie die Gegner der Verfassungsreform in Brasilien bezeichnet wurden – blieben in der Minderheit. Die Bahn scheint also frei zu sein, so lauten die Befürchtungen, für einen Revanchismus, der ein Teil der Errungenschaften der Verfassung von 1988 hinwegfegt.
Was aber sind nun die wichtigsten Punkte, die in der Revision anvisiert werden? Folgende Ansätze haben sich in den Vordiskussionen herauskristallisiert:
– Das Staatsmonopol in den Sektoren Erdöl, Telekommunikation und Energie soll fallen. Dies würde auch den Weg für Privatisierungen in diesen Bereichen öffnen.
– Jegliche Diskriminierung ausländischen Kapitals soll wegfallen. Nach der jetzigen Verfassung haben brasilianische Firmen mit nationalem Kapital Vorrechte – etwa bei der Vergabe staatlicher Kredite.
– Die Ausbeutung der Bodenschätze ist bis jetzt tabu für ausländische Firmen. Auch diese Beschränkung soll aufgegeben oder zumindest gelockert werden.
– Zwei soziale Fragen stehen zur Disposition: Die Unkündbarkeit im öffentichen Dienst und die Rentenregelung, die den Bezug einer Rente nach 30 (Frauen) beziehungsweise 35 (Männer) Arbeitsjahren garantiert.
Diese in der Öffentlichkeit heftigst diskutierten Punkte zeigen deutlich die Tendenz: die brasilianische Verfassung soll an den marktliberalen Mainstream angepaßt und von den nationalistischen Überresten befreit werden.
Ein weiterer Kernpunkt ist eine Reform des Steuersystems. Der Wirtschaftsminister Fernando Henrique Cardoso wirft sein ganzes Gewicht in diese Frage, weil diese Reform nach seiner Meinung die Voraussetzung für eine Stabilisierung der Staatsfinanzen ist und damit auch für die Inflationsbekämpfung. Hier ist allerdings die große Frage, ob für ein Stabilitäts- und Anpassungsprogramm Zeit bis zum Ende der Verfassungsreform ist: Im September stieg die Inflation auf 38 % pro Monat an. Cardoso will daher die Steuerreform vorziehen, um Ende des Jahres einen großen Stabilisierungsplan zu lancieren.
Zwar zeigt die brasilianische Wirtschaft – bei einer so hohen Inflation eigentlich kaum zu fassen – Erholungszeichen, die Produktion wird in diesem Jahr nach zwei Jahren Rezession wieder wachsen, aber für die Mehrheit der Bevölkerung verstärkt der rasante Preisanstieg nur das soziale Elend. Wohl auch deshalb ist das Interesse an der Verfassungsreform relativ gering – und damit auch das Interesse an der Mobilisierung gegen sie. Zu sehr erscheint alles als ein abgehobenes Schauspiel, als Selbstlauf der politischen Klasse. Die Zweifel an der Legitimität dieses Kongresses, die Verfassung zu ändern, dürften von der Mehrheit der Bevölkerung geteilt werden. Oder, wie es ein Kolumnist formulierte: Das Image der Politiker konkurriert nur noch mit dem der Polizei in Rio. Wie um solche Vorurteile zu bestätigen, platzte im Vorfeld der Verfassungsdiskussion ein neuer Bestechungsskandal: mehrere Abgeordnete haben gegen Bezahlungen die Partei gewechselt, um einer Minipartei das Quorum (15 Abgeordnete) zu verschaffen, das Voraussetzung ist, um einen Präsidentschaftskandidaten zu lancieren. Daß eine solche Politikerbande das Land auf den Weg der allseits beschworenen “Modernisierung” zu führen vermag, darf allerdings bezweifelt werden. Dennoch ist alles mehr als ein Sturm im Wasserglas. Die Verfassungsreform dient dazu, einen marktliberalen Block zu strukturieren und den Weg frei zu machen, die letzten Reste des nationalistisch beeinflußten brasilianischen Entwicklungsmodells zu beseitigen. Allerdings wird der Durchmarsch in moderne Zeiten nicht ganz einfach sein, auch die Rechte ist etwa in der Frage des Erdölmonopols durchaus nicht einer Meinung. Die Verfassungsreform ist wohl auch als ein Versuch zu werten, vor einem drohenden Wahlsieg des Kandidaten der Linken, Lula, bei den Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr Fakten zu schaffen.

Berichtigung:
In der LN 231/232 Seite 2 und 71 ist uns leider ein Fehler unterlaufen. Jorge Barros arbeitet am CEAP, dem Centro de Articulaçao de Populaçoes Marginalizadas. Das CEAP ist eine Menschenrechtsorganisation, die sich gegen die Gewalt an Kindern und Jugendlichen, Frauen und der marginalisierten schwarzen Bevölkerung einsetzt.
Jorge Barros arbeitet nicht am CAPM und bei keiner Straßenkinderhilfsorganisation. – SORRY.

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