Literatur | Nummer 469/470 - Juli/August 2013

Verloren im kosmopolitischen Nirgendwo

Sergio Pitol, Schriftsteller der unerbittlichen Zeitläufe, wartet mit seinen besten Erzählungen auf

Paul Sourzac

Er schreibt im steten Wellenschwappen von Werden und Vergehen. Nichts lässt sich festhalten. Alles, selbst die Erinnerung, entgleitet uns: „Die Zeit, dieser überstürzte Fluss aus Vergessen und Erinnerung, löscht den Willen aus, eine Empfindung für immer im Gedächtnis zu bewahren“.
Der, der so schreibt, heißt Sergio Pitol. 1933 in Puebla, Mexiko, geboren und 2005 mit dem Cervantes-Preis ausgezeichnet, kann der Autor heute in einem Atemzug mit den mexikanischen Größen Juan Rulfo, Octavio Paz, Rosario Castellanos und Carlos Fuentes genannt werden. Die fiktionale Gattung, die Pitol wie kaum ein anderer meistert, ist die Erzählung. Zu seinem 80. Geburtstag sind unter dem Titel Drosseln begraben Pitols beste Erzählungen (Los Mejores Cuentos im spanischen Original) nun auch in deutscher Übersetzung bei Wagenbach erschienen. Die darin zusammengestellten Erzählungen sind nach der Chronologie seines Schaffens geordnet und spiegeln seine eigene literarische Entwicklung wider.
Spielen die ersten drei Geschichten des Erzählbandes noch in Mexiko, so wird der im Lokalen verortete magische Realismus in den folgenden Erzählungen regelrecht gesprengt. Pitol, der politisch ernüchtert seine langjährigen Erfahrungen im diplomatischen Auslandsdienst verarbeitet, nimmt die Leser_innen mit auf zahlreiche Odysseen, um sie dann doch nur in die Verlorenheit des kosmopolitischen Nirgendwo zu treiben. Der Autor erweitert literarische Räume ins Unendliche. Zugleich aber lässt er uns die Enge, die „nagende emotionale Dürre“ und die Vergänglichkeit menschlichen Daseins spüren. Drosseln mögen luftdicht vergraben werden, doch der „Keim der Verwesung“ steckt „im Körper selbst“. Und so betrinken sich Pitols entwurzelte Ich-Erzähler einsam in Hotelbars oder sie dämmern gepeinigt von nicht enden wollender Krankheit vor sich hin, in schäbigen Zimmern, gefangen im Schneegestöber Warschaus.
Töricht sind freilich die Menschen: „Das Irrationale, das unser Sein reitet, galoppiert in manchen Momenten so unbeherrscht los, dass wir versuchen, uns in das modrige Regelwerk zu flüchten, mit dem wir das Leben zu ordnen trachten“. Doch gibt es bei Pitol noch etwas Höheres, etwas Düsteres, ja fast schon Dämonisches, das uns Menschen fest umschlingt und nicht mehr freilassen will. Auch die Reisenden unter uns, das heißt die Flüchtenden, werden allzu bald wieder eingefangen. Es sind die unerbittlichen Zeitläufe, die unsere Einzelschicksale mit sich reißen. Und so müssen wir lernen, das Walten höherer Kräfte langmütig über uns ergehen zu lassen. Dennoch erschaudern wir immer wieder ob der eigenen Machtlosigkeit.
Pitols Stärke liegt nicht in der Ausarbeitung elaborierter Plots, sondern in der Schaffung von Stimmungsbildern labyrinthischer Traumverlorenheit, im Aufwühlen eines existentiellen Unbehagens. Seine Erzählhandlungen ertränkt er bewusst in den wirbelnden Gedankenströmen, die seine Figuren durchfluten. Alles kann so und so, aber auch anders verlaufen. Handlungsstränge werden skizziert und sogleich wieder verworfen. Nichts ist wirklich berechenbar. Mithin gedeihen Pitols spätere Erzählungen in der Reflexion über den Schreibprozess als solchen immer metaliterarischer.
Drosseln begraben geht zu neuen Formen über und richtet sich an anspruchsvolle, experimentierfreudige Leser_innen, die auf der Suche nach literarisch-stilistischen Nova bei Sergio Pitol fündig werden.

Sergio Pitol // Drosseln begraben // Verlag Klaus Wagenbach // Berlin 2013 // 19,90 Euro // www.wagenbach.de

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