Verschollen in der Einseitigkeit
Der argentinische Thriller „Moebius“ von der Universidad del cine de Buenos Aires
Der Blick ist auf die Beine gerichtet und jeder Schritt des Mannes, der da eben der U-Bahn entstiegen ist und, den Bahnsteig in Zeitlupe durchschreitend, auf den Zuschauer zukommt, hallt lange nach. „Ein seltsames Spiel. Wir gehen durch ein schweigendes Labyrinth, ohne uns und unsere Situationen zu kennen. Ohne zu ahnen, daß wir mit jedem Umsteigen unser Schicksal für immer verändern“, heißt es aus dem Off.
Und schon rast der Zuschauer in schwindelerregender Geschwindigkeit durch das fahlblau erleuchtete U-Bahn-Netz von Buenos Aires. Suggestiv-dramatische Klänge kündigen das bevorstehende Unheil an. Es gelangt zunächst als Nachricht durch die Telefondrähte des U-Bahn-Systems in die kargen Höhlen der Aufseher und Depot-Wächter und läßt diese verstummen: ein ganzer U-Bahn-Zug mit dreißig Passagieren ist verschwunden.
Donnernde Metapher
Protagonist Daniel Pratt (Guillermo Angeletti), der von Beginn an über das schweigende Labyrinth und das Schicksal der Menschen sinniert, erhält von U-Bahn-Direktor Blasi den Auftrag, die Konstruktionspläne des U-Bahn-Systems aufzutreiben und dem Verschwinden des Zuges auf den Grund zu gehen.
Pratt ist Topologe, einer der, wie ihm der Konstrukteur des neuen Außenringes der U-Bahn bescheinigt, Rechnungen und Formeln über die Oberfläche erstellt und diese dann in Schubladen steckt. Das klingt nach schlechten Aussichten für eine Lösung des Falles durch Pratt, doch drückt ihm der Konstrukteur sogleich ein geheimnisvolles Spielzeug in die Hand, das die Wahrnehmungsfähigkeit verbessern soll. Es deutet sich an: das Rätsel, das sich hier stellt, fordert über plausible Gedankenstrukturen hinausgehende Erklärungen. Die Kamera entfernt sich und zeigt Pratt und den Konstrukteur unmittelbar vor dem gähnenden Abgrund einer abgeschnittenen Autobahnbrücke – nochmals der bildliche Hinweis darauf, daß die rational-menschliche Konstruktion hier ins Leere führen wird.
Seine Nachforschungen führen den Protagonisten Pratt schnell auf die Spur des verschwundenen Wissenschaftlers Hugo Mistein. In dessen Wohnung findet er die ersten Hinweise darauf, daß der verschwundene Zug in eine Möbiusschleife geraten ist: jenes einseitige Band, das nach dem Leipziger Mathematiker benannt ist, und bei dem man ohne Überschreitung des Randes an jeden Punkt der Oberfläche gelangen kann. Der Geisterzug, der wie unsichtbar im komplexen Außenring der U-Bahn dahinrast, und von dessen Existenz nur das Umspringen der Signale und ein fernes Donnern künden, ist aller Wahrscheinlichkeit nach in eine Dimension höherer Ordnung gesprungen.
Aus interpretatorischer Sicht liegt die andere – politische – Dimension auf der Hand: der verschwundene Zug ist eine klare Metapher für die desaparecidos Argentiniens und spielt immer wieder mehr oder weniger deutlich auf dieses Thema an. In den Gängen der U-Bahn hängen Plakate mit dem Foto eines Verschwundenen, der Zug verschwand an der Station Plaza de Mayo und am Ende formuliert der Bürgermeister von Buenos Aires lakonisch ein recht bekanntes Prinzip der Vergangenheitsbewältigung: „Meine Herren, hier ist nichts vorgefallen.“
Atmosphärische Teamarbeit
Der Film „Moebius“, als Kollektivarbeit von 45 Studenten der „Universidad del cine de Buenos Aires“ unter Leitung des Regie-Dozenten Gustavo Mosquera R. entstanden, ist ein spannendes, sehr atmosphärisches Werk.
In kühlem Blaugrün gehaltene Bilder, rasende Kamerafahrten und lang anhaltende Blicke in die bedrohliche Leere der U-Bahn-Schächte fangen perfekt das Labyrinthartige, Unheilvolle des U-Bahn-Systems ein.
Viele der Einstellungen, insbesondere bei den Wechseln vom harten Nah der Gesichter zur Weite des U-Bahn-Universums, sind kunstvoll gelungen. Sämtliche Charaktere des Filmes sind sorgsam herausgearbeitet und hervorragend besetzt. So wird die hektisch einberufene Krisenversammlung der staatlichen „Verantwortlichen“, des U-Bahn-Direktors Blasi mit dem Bürgermeister und zwei Herren vom Militärkrankenhaus und einer Versicherungsanstalt, zu einem hintergründig-ironischen Vergnügen.
Und das Mädchen, das Pratt bei der Suche begegnet und fortan begleitet, umstrahlt eine wunderbar geheimnisvolle Aura. Lediglich die Botschaft des Filmes, daß wir in einer Welt leben, die nur noch dem Plausiblen Glauben schenkt, kommt am Ende doch etwas plakativ daher. Die Entschlüsselung des Geheimnisses um den verschwundenen Zug und Professor Mistein findet ihren Ausgangspunkt an der Station Borges und ist unterlegt von den Klängen eines Tangos. Gaukelt der Tango niemals ein Weltbild vor, in dem alles sein gutes Ende findet, so hat Borges in seinen Phantasmen das Universum schon immer als chaotisch-irrationales Labyrinth erklärt, das der menschliche Geist nicht zu durchdringen vermag.
Doch Pratt stellt sich der Herausforderung und steigt ein in den Geisterzug Nr. 86 – für ihn beginnt damit eine Reise ohne Wiederkehr in eine andere Dimension von Raum und Zeit, während sie für den Zuschauer kurz darauf jäh enden wird.
„Moebius“; Regie: Gustavo Mosquera R.; Argentinien 1996; Farbe, 88 Minuten.