Argentinien | Nummer 481/482 - Juli/August 2014

Viele offene Fragen

20 Jahre nach dem Anschlag auf die AMIA in Argentinien ist der Fall noch immer nicht aufgeklärt

Die Ermittlungen zu dem schlimmsten Anschlag der argentinischen Geschichte, dem Attentat auf die jüdische Organisation AMIA im Jahr 1994, weisen viele Ungereimtheiten auf. Von Beginn an konzentrierten sie sich auf eine „iranische Spur“. Nun soll eine gemeinsame Wahrheitskommission zwischen Argentinien und Iran die Geschehnisse aufklären. Innerhalb der jüdischen Gemeinde gibt es unterschiedliche Haltungen darüber, ob das sinnvoll ist.

Laura Schenquer, Übersetzung: Caroline Kim

Es war das größte Attentat in der Geschichte Argentiniens. Vor 20 Jahren, am 18. Juli 1994, zerstörte ein terroristischer Anschlag die jüdische Organisation Asociación Mutual Israelita Argentina (AMIA). Das Gebäude der AMIA befand sich in einer der belebtesten Straßen von Buenos Aires und sein durch eine Autobombe ausgelöster Einsturz forderte 85 Todesopfer und mehr als 300 Verletzte. Ziel des Anschlags war die jüdische Institution, aber die wahllosen Opfer gehörten verschiedenen Religionen und Nationalitäten an. Erst zwei Jahre zuvor hatte es bereits einen Anschlag auf die Israelische Botschaft in Argentinien gegeben.
Bis heute, 20 Jahre später, hat sich keine Organisation zu dem Attentat bekannt. Nach dem Anschlag bekundeten die argentinischen Behörden die Notwendigkeit, die Verantwortlichen zu finden und zu verurteilen. Der damalige Präsident Carlos Menem beauftragte den Richter Juan José Galeano mit der Koordination der Ermittlungen. Trotz der Unterstützung von CIA, FBI und Mossad und der Kooperation mit dem lokalen Geheimdienst SIDE kam es nicht zu ausreichenden Ergebnissen. Die Ermittlungen konzentrierten sich lediglich auf die sogenannte „iranische Spur“: ein Anschlag, geplant im Ausland und durchgeführt von der Hisbollah, motiviert durch die Einstellung von Waffenlieferungen von Argentinien an den Iran.
Seit 2006 wird in Buenos Aires die iranische Regierung beschuldigt, die Drahtzieherin des Attentats zu sein. Gegen Mitglieder der Hisbollah und acht Regierungsbeamte wurde Haftbefehl erlassen, unter ihnen der damalige Verteidigungsminister, Ahmad Vahidi, der Ex-Präsident Ali Rafsanjani (1989-1997) und der ehemalige iranische Kulturattaché in Argentinien, Mosteen Rabbani. Teheran weigerte sich, den Gerichtsbeschluss anzuerkennen und ließ Argentinien wenig Handlungsspielraum.
Die einzigen Angeklagten und Verurteilten blieben jedoch jene, die als lokale Verbindungspersonen agiert hatten, unter ihnen ehemalige Polizeibeamt_innen und Carlos Telleldín, der Besitzer des Lieferwagens, in dem die Autobombe explodierte. Dies sind zweifellos die kleinsten involvierten Fische in der Planung und Ausführung des Anschlags oder wie man in Argentinien sagt, perejiles (Petersilien), Personen, die lediglich Befehle ausführen ohne die wirklichen Drahtzieher und Verantwortlichen zu kennen.
Das Urteil im Fall AMIA weist indes viele Ungereimtheiten auf – andere Zeug_innenaussagen und Spuren, die nicht mit der iranischen Spur übereinstimmten, wurden verschleiert oder außer Acht gelassen. Der leitende Richter Galeano wurde aufgrund von Zahlung von Bestechungsgeldern an Telleldín abgesetzt. Die Ermittlungen konnten nicht erklären, warum in der AMIA keine Reste des Lieferwagens oder seines Fahrers gefunden wurden. Viele, so wie der Journalist Horacio Lutzky, zweifeln an der Glaubwürdigkeit der Version des Lieferwagens, die Zeug_innenaussagen über mögliche alternative Explosionsherde übergeht. Die Fokussierung auf die iranische Spur dient laut Lutzky dazu, nicht über die „wirklichen Verantwortlichen“ zu sprechen. Über diese „wirklichen Verantwortlichen“, die Interesse an der Verfestigung der iranischen Spur gehabt haben können, gibt es viele Spekulationen. Eine ist die Verwicklung von hohen argentinischen Regierungsbeamten in illegale Geschäfte im Zusammenhang mit einer nuklearen Aufrüstung Syriens. Die Einstellung dieser illegalen Geschäfte könnte Damaskus zu einem Anschlag motiviert haben. Andere Versionen weisen auf Zusammenhänge mit illegalen Waffengeschäften zwischen Geschäftsleuten aus Argentinien, Israel und anderen Ländern des Mittleren Ostens hin. Aber bis heute wurde keiner anderen Spur offiziell nachgegangen.
Die jüdische Gemeinde nahm die Unstimmigkeiten im Fall AMIA auf unterschiedliche Art und Weise auf. Nach dem Anschlag organisierten sich die Hinterbliebenen, um eine ausführliche Untersuchung des Anschlags zu fordern und Verantwortliche zu ermitteln.
Zu Beginn war das Vertrauen in vertraute jüdische Institutionen noch vorhanden. Die AMIA und die Delegation Israelisch-Argentinischer Vereinigungen (DAIA) führten im Sinne der Hinterbliebenen einen scharfen und konfrontativen Diskurs mit der Regierung. Aber im Jahr 1995 begannen die ersten Spannungen zwischen den Familien der Hinterbliebenen und den jüdischen Institutionen. Die institutionelle Leitung, besonders der Präsident der DAIA, wurde für seinen Wandel zu einer passiven und unterwürfigen Position gegenüber der Regierung kritisiert und unterschiedliche Gruppierungen entstanden innerhalb der Hinterbliebenen: Memoria Activa („Aktive Erinnerung“) und Familiares y Amigos de las víctimas del atentado a la AMIA („Angehörige und Freunde der Opfer des Attentats auf die AMIA“).
Innerhalb der Gruppen gibt es verschiedene Kontroversen, die, so die Soziologin Beatriz Gurevich, besonders bei den Feierlichkeiten zum dritten Gedenktag an das Attentat im Jahr 1997 zu Tage traten. Es kam zum Eklat, als Laura Ginsberg, von der Gruppierung Memoria Activa in ihrer Rede die Regierung Carlos Menem öffentlich beschuldigte, die lokalen Verstrickungen in das Attentat zu vertuschen. Ohne die Zustimmung der Hinterbliebenen einzuholen, war zuvor Carlos Corach als Vertreter der Regierung durch die jüdischen Institutionen aufs Rednerpult gebeten worden. Vertreter_innen der DAIA entschuldigten sich sofort bei der Regierung für den Vorfall bei den Feierlichkeiten. Während die Gruppierung Angehörige und Freunde der Opfer die Position der DAIA unterstütze, erhielt Memoría Activa ihre kritische Linie gegenüber der Regierung aufrecht.
Mitglieder dieser Gruppierung gründeten 2002 die Abspaltung APEMIA („Vereinigung zur Aufklärung des ungestraften Massakers der AMIA“), die radikalere Positionen bezüglich der Handhabung der Ermittlungen der Regierung und der unkritischen Einstellung der jüdischen Institutionen vertritt.
Mit dem Antritt der Regierung Kirchner im Jahr 2003 kam neue Hoffnung auf, Licht in den Fall AMIA zu bringen. Der neue Präsident Néstor Kirchner erklärte den terroristischen Anschlag auf die AMIA und die israelische Botschaft als „nationale Schande“ – eine Geste, die sowohl von der jüdischen Leitungsebene als auch von Hinterbliebenenorganisationen derart positiv aufgenommen wurde, dass Kirchner als Redner zum Gedenktag eingeladen und mit langem Applaus empfangen wurde. Seither hat es jedoch wenige Fortschritte in der Aufklärung des Falles gegeben.
Die Unterzeichnung einer Absichtserklärung zwischen Argentinien und dem Iran im Jahr 2013 hat jedoch den Fall wieder an die Oberfläche geholt. Die Erklärung sieht die Gründung einer Wahrheitskommission vor, bestehend aus argentinischen und iranischen Jurist_innen, die den Fall untersuchen und die iranischen Verdächtigen verhören sollen. Die Annahme der Erklärung wurde von der jüdischen Leitungsebene der AMIA, DAIA und der Gruppierung APEMIA abgelehnt, jedoch von Memoria Activa und den Angehörigen und Freunden der Opfer mitgetragen. Strittigster Punkt war der des Rechtsstatus, den das Urteil der Wahrheitskommission haben wird. Hätte das internationale Urteil Vorrang vor dem argentinischen, wenn das Urteil der Kommission anders ausfallen sollte? Und falls die iranischen Verdächtigen die Aussagen verweigern, wird der Iran kollaborieren, um einen internationalen Haftbefehl zu erheben? Zum 20. Jahrestags des Attentats auf die AMIA sind noch viele Fragen offen.

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